Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Praxis des Warenaustausches zwischen den europäischen Ländern. Von der Schwerindustrie bis zur weichen Faßseife, von den aus Südfrankreich in Eiltransporten nach Hamburg und Berlin verfrachteten frischen Blumen bis zu den Kämpfen um die Weinzölle, von Lederwaren bis zu feuerfesten Steinen war alles in meinem Repertoire enthalten. Von Politik und Sicherheit hörte ich kein Sterbenswörtchen mehr.
Erst als ich im Sommer während einer mehrmonatigen Verhandlungspause nach Berlin zurückkam, konnte ich feststellen, daß das in der Februarnote gemachte deutsche Paktangebot inzwischen Gegenstand eines eingehenderen Meinungsaustausches auf schriftlichem Wege zwischen Deutschland, Frankreich und England gewesen war. Bei meiner Rückkehr waren die Dinge so weit gediehen, daß sich in London ein Juristenausschuß mit der Ausarbeitung eines genauen Vertragsentwurfes beschäftigte. Das später bei vielen Konferenzen als stabiles Element in Erscheinung tretende Dreigestirn der Kronjuristen Deutschlands, Frankreichs und Englands, Gaus, Fromageot und Hurst, hatte hier die letzte Hand an die Vorbereitungen für die Konferenz gelegt, die Oktober 1924 in einem damals noch völlig unbekannten kleinen Kurort der Südschweiz am Lago Maggiore, in Locarno, stattfand und diesen Namen innerhalb von wenigen Tagen weltbekannt und zu einem Symbol für die Friedenshoffnungen Europas machte. Die Morgenröte, von der Herriot ein Jahr vorher gesprochen natte, brach mit den herrlichen Herbsttagen in Locarno an.
Am 2. Oktober fuhr ich zum zweiten Male in einem Sonderzug als Mitglied einer großen Delegation von Berlin ab. Das äußere Bild dieser Abreise ähnelte mit den starken polizeilichen Absperrungen des Bahnhofs wegen der Attentatsfurcht, den zahlreichen offiziellen Persönlichkeiten und ausländischen Diplomaten, die sich zur Verabschiedung eingefunden hatten, dem unserer Abfahrt nach London im August des vergangenen Jahres. Nur bestand diesmal der Zug aus Schlafwagen, denn die Reise würde erst am nächsten Nachmittag südlich der Alpen enden.
Die beiden Hauptdelegierten Deutschlands waren Stresemann und Luther, der inzwischen Reichskanzler geworden war. Unter den Dolmetschern fehlte Michaelis, dem man seine Entgleisung in London doch nicht verziehen hatte. Außer mir war für die Übersetzungen nur noch Dr. Norden mitgekommen, der mir unterwegs interessante Einzelheiten über die Entstehungsgeschichte dieser Konferenz zu berichten wußte. Er hatte überall im Auswärtigen Amt Freunde und Bekannte, betrieb das Dolmetschen mehr oder weniger zwangsweise nur als Nebentätigkeit und gehörte im übrigen zu einem Referat der Rechtsabteilung. Er war immer ausgezeichnet im Bilde.
So erfuhr ich von ihm, daß zunächst auf die Februarnote überhaupt keine Reaktion erfolgt war. Norden erzählte mir, daß D’Abernon schon Ende Dezember in einem Gespräch mit dem Staatssekretär von Schubert von dem Plan einer deutschen Initiative erfahren und ihn sofort aufgegriffen habe und daß die erste Anregung zunächst Chamberlain unterbreitet worden sei. Dieser habe sie jedoch ziemlich brüsk abgelehnt, weil sie zu seinen eigenen Plänen im Widerspruch stand. Erst daraufhin habe man sich von deutscher Seite in aller Eile entschlossen, direkt an Frankreich heranzutreten, und habe am 9. Februar die Note übergeben, die damals durch meine Hände gegangen war. Herriot hatte die ganze Angelegenheit ruhen lassen, war inzwischen gestürzt worden, und erst sein Nachfolger Briand hatte die Frage wieder aufgenommen. Allerdings hatte sich Frankreich erst im Juni zu einer ausführlichen Gegenäußerung mit allerhand Abänderungsvorschlägen herbeigelassen. Erst so, erzählte mir Norden, sei es auf dem Wege über die Juristenbesprechung in London zur Konferenz von Locarno gekommen.
In Deutschland herbstelte es im Oktober schon ziemlich stark, in den höheren Lagen der Alpen standen die Bäume völlig kahl da und die Landschaft sah so aus, als bereite sie sich auf den nahen Winter vor. Das änderte sich mit einem Schlage, als wir auf der anderen Seite des Gotthard-Tunnels in den Schweizer Tessin hineinfuhren. Hier hatte man den Eindruck, mitten im Hochsommer zu sein, und je weiter wir nach Süden kamen, desto stärker wurde das Gefühl, daß sich die Jahreszeit nach rückwärts bewegte.
Über Bellinzona fuhr unser Zug auf einer kleinen Nebenstrecke bis nach Locarno. Die Hauptdelegierten waren von der letzten Station aus schon im Wagen vorausgefahren. So stießen wir auf dem kleinen Bahnhof von Locarno bei den Journalisten und den internationalen Schlachtenbummlern der großen Konferenzen, die sich in Massen auf dem Bahnsteig drängten, auf arg enttäuschte Gesichter.
In dem etwas außerhalb von Locarno, in Minusio, gelegenen Hotel Esplanade war die ganze Delegation geschlossen untergebracht. Am nächsten Tage trat ich dann zum ersten Male in Gegenwart von Luther und Stresemann als Dolmetscher auf einem Empfang der ausländischen Presse im Esplanade Hotel in Aktion. Luther machte einige Ausführungen über Deutschlands Friedensbestrebungen, von denen mir heute wohl deshalb keine Einzelheiten mehr in Erinnerung sind, weil ich als Dolmetscher dabei nicht in Aktion zu treten brauchte. Das gleiche gilt für Luthers erste Unterhaltung mit Briand in Ascona, die von den Journalisten viel beachtet wurde. Um so deutlicher erinnere ich mich aber an das, was Stresemann der Presse sagte, und zwar weil es Sowjetrußland betraf, dessen Haltung gegenüber den Bemühungen der damaligen Westmächte, mit Deutschland in Locarno zu einer Einigung zu gelangen, sowie ganz allgemein gegenüber dem Völkerbund schon damals genau so argwöhnisch war wie heute gegenüber den Westmächten und den Vereinten Nationen.
Wenige Tage vor der Abreise der deutschen Delegation nach Locarno hatte sich der sowjetische Volkskommissar für Auswärtiges, Tschitscherin, in Berlin eingefunden und eine damals viel beachtete Unterredung mit Stresemann gehabt, aus der sich allerlei sensationelle Kombinationen in der Presse ergaben. Seitdem die Welt durch den Abschluß des Vertrages von Rapallo zwischen Deutschland und Sowjetrußland am 17. April 1922 auf der Konferenz von Genua verblüfft worden war, wurde alles, was sich zwischen den Sowjets und der deutschen Republik abspielte, mit Aufmerksamkeit und Mißtrauen von den Westmächten verfolgt.
Stresemann wies in dieser ersten Pressekonferenz von Locarno die sehr aufmerksam mitschreibenden Journalisten darauf hin, daß er sich mit Tschitscherin im wesentlichen über den Handelsvertrag zwischen Deutschland und Rußland unterhalten habe, und daß daran keinerlei Sensation zu suchen sei. Mit einer gewissen Betonung fügte er hinzu, daß man wohl in Rußland eine Zeitlang gefürchtet habe, Deutschland werde in Locarno eine vollkommene Umstellung seiner Politik vornehmen und sich ausschließlich nach Westen orientieren, „Für uns gibt es keine Option zwischen Ost- und Westpolitik. Wir wollen nach beiden Seiten gute Beziehungen unterhalten“, erklärte Stresemann in diesem Zusammenhang. Die Journalisten stürzten hinaus an die Telefone, und die erste große Meldung aus Locarno ging in die Welt, noch ehe die Konferenz eigentlich begonnen hatte.
Am nächsten Vormittag, am 5. Oktober 1925, wurde dann die Konferenz bei herrlichem Sommerwetter in dem schmucklosen Sitzungssaal des kleinen Rathauses eröffnet. In diesem Raum stand in der Mitte ein großer viereckiger Tisch, um den herum sich die Hauptdelegierten zwanglos auf recht unbequemen Holzstühlen gruppierten. An jeder Seite des Tisches hatten 4 bis 5 Personen Platz, so daß nur die Hauptdelegierten am Tisch selbst sitzen konnten, alles andere aber sehen mußte, wo es auf einem Stühlchen im Hintergrund unterkam. Zu beiden Seiten dieses Tisches, der fast den ganzen Raum füllte, stand noch je ein schmaler, kleiner Tisch, an dem eigentlich nur zwei Personen Platz hatten, der aber immer von Sekretären und Sachverständigen, die ihre Akten ausbreiten wollten oder etwas zu schreiben hatten, belagert war. An dem kleinen Tisch hinter den deutschen Delegierten hatte auch ich mir einen Platz „erobert“. Es war, wie sich später zu meinem Leidwesen herausstellte, ein akustisch sehr ungünstiger Standort, da Stresemann und Luther, die ich zu übersetzen hatte, immer von mir weg sprachen und ich alle Mühe hatte, ihnen zu folgen, wenn etwa an dem gleichen Tisch noch jemand mit Papieren raschelte oder gar eine geflüsterte Unterhaltung stattfand. Links neben der deutschen Delegation saßen die Italiener; die Engländer nahmen unter Führung von Austen Chamberlain die noch an der linken Breitseite freien Plätze ein. Den Deutschen gegenüber saßen die Franzosen Briand, Berthelot und Fromageot. An der rechten Seite des Tisches hatten die Belgier Platz genommen, die von Außenminister Vandervelde geführt wurden. Auch Gaus und Staatssekretär Kempner von der Reichskanzlei hatten sich auf dieser Seite noch an den Tisch gezwängt, wodurch der Kreis zur deutschen Delegation wieder geschlossen wurde.
In den Endphasen der Konferenz, als auch die Tschechoslowakei und Polen hinzugezogen wurden, war die Enge noch größer, denn der kleine, stets lächelnde Dr. Benesch und der immer mißmutig dreinblickende polnische Außenminister, Graf Skrzynski, wollten natürlich auch