Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945 - Paul  Schmidt


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Gesprächsthema bei den Zusammenkünften zwischen Briand und Stresemann. Erst viele Jahre später sollten sie ihre Lösung finden.

      An jenem Tage wurde jedoch auf dem Lago Maggiore die Diskussion darüber in einer freundlichen und hoffnungsvollen Atmosphäre eröffnet. Briand und Chamberlain zeigten sich auch im allgemeinen nicht unzugänglich. Besonders Briand gab zu verstehen, daß er in diesen „Rückwirkungen“ des Locarno-Abkommens nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zeigen werde, daß er wirklich für den Frieden zwischen Frankreich und Deutschland eintrete. Er drückte sich dabei ähnlich aus wie Herriot in London. Nur sprach er abgeklärter als dieser und dramatisierte die Widerstände, die er in Frankreich voraussah, nicht, sondern behandelte sie, wie es seiner Art entsprach, mit Sarkasmus und Spott.

      So gingen denn alle Teilnehmer dieser Fahrt auf der „Orangenblüte“, an der als einzige nicht offizielle Persönlichkeit Frau Chamberlain teilgenommen hatte, in einer sehr zuversichtlichen Stimmung wieder in Locarno an Land. Das Eis war bei dieser Gelegenheit endgültig gebrochen. Es fanden nun keine großen Rededuelle im Rathaussaal mehr statt. Was noch zu erledigen war, wurde zwischen den Hauptdelegierten in Besprechungen zu dritt oder zu viert in ihren Hotels geregelt. Auch für mich war die Arbeit dadurch leichter geworden. Ich hatte keine Hörschwierigkeiten mehr, denn ich saß bei diesen Gesprächen mitten zwischen den Außenministern am Teetisch oder an der Mittagstafel. Die Hauptlast der eigentlichen Formulierungsarbeit lag nach wie vor bei den drei Juristen, zu denen sich der Belgier Rolin als Vierter hinzugesellt hatte.

      In der Zwischenzeit hatten die beiden Vertreter der Tschechoslowakei und Polens, Dr. Benesch und Graf Skrzynski, eine etwas unglückliche Rolle gespielt. Sie saßen gleichsam antichambrierend in ihren Hotels herum, denn sie wurden weder zu den Besprechungen der Großen noch zu den Sitzungen der Konferenz hinzugezogen. Erst in den letzten Tagen nahmen sie als Beobachter an einigen Vollsitzungen, und zwar auf Anregung von Chamberlain, teil. Die ganze Zeit über hatten sie allerdings mit ihrem Bundesgenossen Frankreich Fühlung gehalten, um wenigstens auf diese Weise ihre Interessen indirekt wahrnehmen zu können.

      Auch Mussolini war unter dem Schutz seiner Leibgarde für kurze Zeit von Italien herübergekommen. Er hatte vorher versucht, für die Brenner-Grenze eine ähnliche Garantie zu bekommen, wie sie Frankreich für seine Ostgrenze erhalten sollte, denn er fürchtete, daß durch das Locarno-Abkommen Grenzen erster und zweiter Klasse in Europa entstünden. Er war aber mit dieser Forderung nicht durchgedrungen.

      Dem italienischen Botschafter in Berlin, der Stresemann einmal auf diese Frage ansprach, hatte der Außenminister erwidert, daß dieser Wunsch seitens Italiens eigentlich einer Billigung des Anschlusses von Österreich an Deutschland gleichkäme: erst dann sei ja der Brenner eine deutsch-italienische Grenze, für die Deutschland eine Garantie geben könne.

      Auf der Konferenz selbst betätigte sich Mussolini nicht. Er war mehr eine journalistische Sensation und verschwand ebenso schnell wieder, wie er gekommen war. Ich war bei der kurzen Besprechung, die er mit Reichskanzler Luther hatte, nicht zugegen. Um so ausgiebiger habe ich ihn dann nach 1935 in den Besprechungen mit Hitler und Göring, an denen ich fast ausnahmslos teilnahm, kennengelernt.

      Aus den Einzelbesprechungen der Staatsmänner in Locarno und aus der Arbeit der Juristen entstand dann allmählich das Vertragswerk, das am 16. Oktober 1925 in demselben kleinen Rathaussaal paraphiert wurde, in dem auch die Eröffnungssitzung und die Vollsitzungen der Konferenz stattgefunden hatten.

      Es handelte sich dabei um acht Dokumente, und zwar um einen Garantievertrag zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien, in dem sich Deutschland und Belgien sowieDeutschland und Frankreich gegenseitig verpflichteten, niemals gegeneinander Krieg zu führen und alle Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln zu schlichten. Dieser Vertrag enthielt außerdem ein von England und Italien garantiertes, gegenseitiges Versprechen, den Gebietsstand und die Grenzen zwischen Deutschland und seinen beiden westlichen Nachbarn zu respektieren. Deutschland übernahm weiterhin die Verpflichtung, das im Versailler Vertrag festgelegte Gebiet als entmilitarisierte Zone zu achten. Wann die Beistandspflicht Englands oder Italiens zugunsten Deutschlands oder Frankreichs und Belgiens auf Grund des Vertrages wirksam würde, sollte der Völkerbundsrat entscheiden. Die einzige Ausnahme, in der eine sofortige Aktion erfolgen konnte, war der Fall einer Invasion in das Gebiet eines der garantierten Länder oder eine Verletzung der Bestimmungen über die entmilitarisierte Zone durch Deutschland.

      Dies war übrigens die Bestimmung, die Frankreich eine Sofortaktion ermöglicht hätte, als Hitler am 7.März 1936 unter Bruch des Locarno-Abkommens in die entmilitarisierte Zone einmarschierte.

      Zu diesem eigentlichen Locarno-Abkommen gehörten als Nebenverträge die gleichzeitig abgeschlossenen Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Belgien und Deutschland und Frankreich, die die Verfahrensregeln bei der friedlichen Beilegung aller Streitigkeiten, wie sie im Hauptabkommen festgelegt worden war, im einzelnen bestimmten. Dazu kamen noch Schiedsverträge zwischen Deutschland und Polen und Deutschland und der Tschechoslowakei mit ähnlichen Bestimmungen über die friedliche Regelung aller Meinungsverschiedenheiten, die zwischen diesen Ländern entstehen könnten. In diesem Falle war also keinerlei Garantie des Gebietsstandes oder der Grenzen ausgesprochen worden. Dagegen hatte sich Deutschland mit Erfolg gewehrt. Grenzveränderungen waren also nicht ausgeschlossen. Sie mußten aber ohne Gewaltanwendung durchgeführt werden, wie dies, zum mindesten der Form nach, der Tschechoslowakei gegenüber später durch das Münchener Abkommen zwischen England, Frankreich und Deutschland im Jahre 1938 geschah.

      Schließlich wurden noch zwei Verträge zwischen Frankreich und Polen und Frankreich und der Tschechoslowakei paraphiert, in denen sich diese Länder gegenseitig eine Garantie für die Einhaltung der Verpflichtungen gaben, die Deutschland ihnen gegenüber übernommen hatte. Es handelte sich mit anderen Worten darum, daß Frankreich als Garant für die deutsch-polnischen und deutsch-tschechoslowakischen Verträge eintrat. Darin lag eine Einschränkung der Bündnisverträge Frankreichs mit diesen beiden Ländern insofern, als die Beistandspflicht Frankreichs nicht mehr, wie früher, allgemein gehalten war und für jede Art von kriegerischer Verwicklung galt, sondern jetzt nur noch für den Fall eines nicht provozierten Angriffs auf Polen oder die Tschechoslowakei in Anspruch genommen werden konnte. Dieser Bündnisfall ergab sich 1939 für Frankreich, als Hitler nach Polen einmarschierte.

      Alle diese Verträge nebst einem Schlußprotokoll lagen nun zur Paraphierung auf dem großen Tisch vor uns. Das Schlußprotokoll wurde als einziges Schriftstück verlesen. In ihm waren u. a. die Wünsche berücksichtigt, die Deutschland in bezug auf seine Mitgliedschaft im Völkerbund geäußert hatte, wie sie im Artikel X des Locarno-Abkommens als Bedingung für dessen Inkrafttreten festgelegt war. Außerdem fand hier auch die allgemeine Abrüstung Erwähnung, die schließlich auf der großen Abrüstungskonferenz scheitern sollte, an der ich in den 30er Jahren teilnahm und bei der ich im Jahre 1933 den dramatischen Austritt Deutschlands aus der Konferenz und aus dem Völkerbund miterlebte.

      Über die „Rückwirkungen“ aus dem Locarno-Abkommen, die Stresemann auf der Konferenz so energisch gefordert hatte, war im Protokoll selbst nichts vorgesehen. Sie fanden in vorsichtiger Form in Briands Schlußrede ihren Platz und wurden tatsächlich in späteren Jahren Wirklichkeit. Die letzte dieser Rückwirkungen war die Befreiung des gesamten Rheinlandes im Jahre 1930.

      Die Paraphierung dieser zahlreichen Dokumente durch die Hauptdelegierten der an der Konferenz beteiligten Länder nahm bei den engen räumlichen Verhältnissen sehr lange Zeit in Anspruch. Wieder ging es dabei, wie in London, wenig feierlich zu. Manchmal wurde man direkt an ein etwas überfülltes Schreibzimmer eines großen Hotels erinnert.

      Danach begann erst die eigentliche Schlußsitzung, die wohl das Eindrucksvollste war, was ich jemals in meiner langen Laufbahn erlebt habe. Seit mittags war der ganze Ort auf den Beinen, denn bereits am Tage vorher war die endgültige Einigung bekanntgeworden, und die kleine Stadt hatte zur Feier dieses Ereignisses ihren schönsten Festschmuck angelegt. Die Fahnen der beteiligten Länder prangten an vielen Häusern. Girlanden zogen sich durch die Straßen, an Transparenten war allenthalben das Wort „Pace“ zu lesen. Gegen Abend schon war die Stadt auf eine primitive, aber gerade deshalb um so überzeugender wirkende Weise illuminiert worden. Auf den Hotels erschien, aus elektrischen Glühbirnen gebildet, an vielen Stellen


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