Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
Abkommen war ebenfalls eine Auswirkung der neuen deutschfranzösischen Verständigungspolitik von Briand und Stresemann. Nach den Beschränkungen des Versailler Vertrages wurde die deutsche Zivilluftfahrt nunmehr völlig frei. Motoren und Flugzeuge konnten von jetzt ab in jeder beliebigen Größe gebaut werden. Der Höhenflug unterlag keiner Beschränkung mehr. Zeppelin-Luftschiffe konnten von neuem konstruiert werden, und die Luftschiffwerft in Friedrichshafen wurde nicht demontiert! Es war ein großer Schritt vorwärts.
Noch oft habe ich später an diese Maitage des Jahres 1926 in Paris gedacht, wenn ich mit der Lufthansa über Europa dahinflog. Auf solchen Flügen hoch über den Wolken, in einer Umgebung, in der einen kaum etwas an den Dunst des Lebens auf der Erde erinnert, wenn die Maschine in den stillen oberen Luftschichten sanfter als ein D-Zugwagen ihre Bahn dahinzieht, kommt man leichter zum ruhigen Nachdenken als im Getriebe der Verhandlungen. Selten ist mir der Zusammenhang zwischen dem, was ich in den Gesprächen der Staatsmänner hinter verschlossenen Türen miterlebte, und dem praktischen Leben des großen Alltags klarer geworden als an diesem Beispiel der wiedererstandenen deutschen Zivilluftfahrt. Am Anfang hatten zwei Männer in ernstem Gespräch über das Verhältnis ihrer beiden Länder und über die Beseitigung der Nachkriegsschwierigkeiten in Europa in einem kleinen Hotelzimmer in Locarno gesessen. Bereits einige Monate danach war ihre Vision teilweise zur Wirklichkeit geworden. Die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland war im Luftverkehr verschwunden. Der ersten Fluglinie zwischen Berlin und Paris folgten weitere Verbindungen mit allen Hauptstädten Europas. Bis über den Atlantik nach Südamerika reichte später das Streckennetz der Lufthansa.
Ich habe die Fortentwicklung der deutschen zivilen Luftfahrt stets mit Interesse verfolgt. Als Luftpassagier habe ich viele Tausende von Kilometern zurückgelegt und als Dolmetscher an einigen Konferenzen der Vereinigung der Luftverkehrsgesellschaften, der berühmten I.A.T.A., der heute noch bestehenden International Air Traffic Association, teilgenommen, habe auch dort etwas hinter die Kulissen geblickt und gesehen, welche heftigen Kämpfe sich um Flugplätze und Tarife abspielten und was für ein angstvolles Problem die Frage der Haftung des Lufttransporteurs war, über die man sich in dem so stark erweiterten Kreise der heutigen I.A.T.A. auch heute noch immer nicht einig geworden ist.
Im Mai 1926 wurde ich im Anschluß an die Pariser Luftfahrtverhandlungen noch einmal für kurze Zeit nach Genf geschickt, wo die Abrüstungsfrage zum ersten Male nach dem Weltkriege auf internationaler Grundlage in Angriff genommen werden sollte. Ein vorbereitender Ausschuß, dem als deutscher Vertreter der ehemalige Botschafter in Washington, Graf Bernstorff, mit einer ganzen Reihe von militärischen Sachverständigen angehörte, trat am 18. Mai dort zusammen, um das Programm für die internationale Abrüstungskonferenz aufzustellen und die sachlichen Vorbereitungen zu treffen. Im Laufe der Jahre löste eine vorbereitende Sitzung die andere ab, und erst sechs Jahre später, im Februar 1932, kam nach starken französischen Verzögerungsversuchen auf vielfaches Drängen Deutschlands die eigentliche Abrüstungskonferenz zustande. Hier war ich über ein Jahr lang der erste deutsche Dolmetscher, bis das Reich unter Hitler im Herbst 1933 die Abrüstungskonferenz verließ und aus dem Völkerbund austrat.
Nach einem Zwischenabkommen wurden im Sommer die deutschfranzösischen Handelsvertragsverhandlungen vertagt, und ich kehrte nach Berlin zurück. Mein Aufenthalt sollte nur von kurzer Dauer sein.
Am 8. September 1926 um 11.55 Uhr beschloß die Vollversammlung des Völkerbundes einstimmig die Aufnahme Deutschlands und erkannte ihm einen ständigen Ratssitz zu. Damit war das Reich wieder endgültig als diplomatisch gleichberechtigter Partner in den Kreis der Nationen aufgenommen. Noch am Abend desselben Tages reiste ich mit Stresemann und der übrigen Delegation, diesmal ohne Sonderzug, nach Genf. Der Reichskanzler – es war an Stelle Luthers wieder Marx – blieb in Berlin. Als sein Vertreter nahm der Staatssekretär der Reichskanzlei, Dr. Pünder, der später als Oberdirektor der höchste deutsche Beamte in der Bizone war, an der Reise teil. Außerdem waren der Delegation noch Vertreter der politischen Parteien beigegeben worden, wie es von da ab bei den alljährlichen Herbsttagungen des Völkerbundes stets geschah. So erlebte ich Breitscheid von den Sozialdemokraten, den Prälaten Kaas von der Zentrumspartei, den Freiherrn von Rheinbaben von der Deutschen Volkspartei, Professor Hoetzsch von den Deutschnationalen und andere Parlamentarier bei dieser und bei späteren Gelegenheiten auf dem Genfer Parkett. Sie vertraten das Reich würdig und geschickt in den verschiedenen Unterkommissionen der Vollversammlung, und ich habe den meisten von ihnen als Dolmetscher oder Übersetzer zur Seite gestanden.
Schon der Empfang am Bahnhof in Genf war für Stresemann ein persönlicher Triumph. Eine riesige Menschenmenge erwartete die Ankunft unseres Zuges. Nur mit Mühe konnten wir uns einen Weg durch das Gewühl der offiziellen Vertreter, der Journalisten und des internationalen Publikums bahnen. An Locarno gemessen, schien mir allerdings zunächst die Begrüßung etwas kühl. In dem calvinistischen Genf gab es keinen Applaus wie am Lago Maggiore. Hier starrte zunächst alles nur schweigend und gespannt den deutschen Außenminister an, der hier und dort einen Bekannten in der Menge entdeckte und ihm strahlend die Hand reichte. Nur langsam kamen wir vorwärts, denn nun streckten sich Stresemann immer mehr Hände entgegen, er wurde allmählich von allen Seiten angesprochen. Zurufe auf deutsch und französisch flogen ihm entgegen, die Spannung begann sich zu lösen. Als er schließlich die Bahnsteigtreppe erreicht hatte, brach der Beifall los, und die kühle Genfer Atmosphäre verwandelte sich in diesem Augenblick mit einem Male in das strahlende Wetter von Locarno.
Das war auch äußerlich der Fall, denn hell schien diesmal die Sonne in dem sommerlich heißen Genf vom klaren, blauen Himmel herab, während wir über die Montblanc-Brücke zum Hotel Métropole fuhren. Die Märzstürme hatten einer sanften Brise Platz gemacht, und in der Ferne konnten wir, fast zum Greifen nah, den schneebedeckten Gipfel des Montblanc erkennen, an dessen Hängen sich die Sonne auf den Eisflächen der Gletscher spiegelte.
Kaum hatten wir unsere Koffer ausgepackt, begann schon die Arbeit mit Hochdruck. Es wurde wieder eine schlaflose Nacht der Übersetzung, „die Nacht der Nächte“, wie wir diese Vorbereitungen auf große Reden im Sprachendienst nannten. Michaelis und Norden waren auch wieder aus Berlin mitgekommen, und während Gaus, Schubert und andere Delegationsmitglieder am Anfang des „Fließbandes“ noch die letzte Hand an die aus Berlin im Rohbau bereits mitgebrachte Eintrittsrede Stresemanns legten und er selbst die vorbereiteten Texte durchsah und umdiktierte, übersetzten wir drei in der Endstufe dieser Gemeinschaftsarbeit den Text ins Französische. Jeder von uns übernahm ein Drittel, dann traten wir zu einer gemeinsamen Redaktionssitzung zusammen, in welcher der endgültige französische Text fertiggestellt wurde. Jeder las sein eigenes Meisterwerk vor, und die beiden anderen kritisierten. Bei solchen Besprechungen ging es immer sehr lebhaft zu, besonders zwischen den „Veteranen“ Michaelis und Norden, die, jeder in seiner Art, hervorragende Stilisten waren, aber sich nur schwer vom anderen überzeugen ließen. Ich saß als Jüngster dazwischen und war meistens froh, wenn meine „Prosa“ von ihnen nicht allzusehr zerpflückt wurde. Je länger die Nacht sich hinzog, um so erregter wurde die Stimmung bei uns.
„Hier geht es ja zu wie im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages“, sagte einmal Breitscheid morgens um 2 Uhr, als er, durch das Stimmengewirr herbeigelockt, den Kopf zur Tür hereinsteckte, ihn aber beim Anblick der drei kampfeslustigen Dolmetscher erschreckt sofort wieder zurückzog.
Für den ganzen technischen Stab der Delegation fiel die Nachtruhe ebenfalls aus. Bis in den hellen Morgen hinein klapperten die Schreibmaschinen und drehten sich die Vervielfältigungsapparate; so eine wichtige Rede sollte ja unmittelbar, nachdem sie gehalten war, auf deutsch und, wenn möglich, auch auf französisch an die Presse verteilt werden. Das hört sich alles viel leichter an, als es getan ist, denn der Text wird meistens noch in letzter Minute an diesem oder jenem Punkt neu formuliert. Das bedeutet neues Schreiben, neues Vervielfältigen, neues Übersetzen. Alle Beteiligten müssen dabei sehr scharf aufpassen, damit nicht aus Versehen im deutschen oder im französischen Text überholte Stellen stehenbleiben und auf diese Weise der Welt verraten, was der deutsche Außenminister noch im letzten Augenblick geändert hat. Daher sinkt das technische Personal nach so einer durcharbeiteten Nacht meist erschöpft ins Bett und erlebt unmittelbar nichts von dem, wofür es die Nachtruhe opfern mußte.
Nur der Dolmetscher kann nicht ruhen. Durch eine kalte Brause und einen starken Kaffee bringt er sich wieder in Form,