Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945 - Paul  Schmidt


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herab auf französisch zu verlesen. Vor Michaelis und seinem Temperament hatte man immer noch Angst.

      So ging ich denn kurz nach 10 Uhr mit Stresemann und den beiden anderen Hauptdelegierten Deutschlands, Staatssekretär von Schubert und Ministerialdirektor Gaus, zu Fuß in den nur einige hundert Meter neben dem Métropole gelegenen provisorischen Sitzungssaal des Völkerbundes, den sogenannten Reformationssaal. Als wir aus dem kühlen Hotel auf die sommerliche Straße kamen, erwartete uns schon eine Menschenmenge, die das Hotel seit den frühen Morgenstunden belagert hatte, um den deutschen Außenminister zu sehen. Sie gab uns bis zum Völkerbundshaus das Geleit, etwa so wie die Zuschauer in breiter Front neben der aufziehenden Wache Unter den Linden in Berlin mitzulaufen pflegten. Sogar einige unentwegte Autogrammjäger winkten aus der Nähe mit bereitgehaltenem Block und Füllhalter Stresemann zu. Er selbst strahlte, als er sich, umringt von vielen Journalisten und Konferenzbummlern aus aller Herren Ländern, im angeregten Gespräch mit den beiden anderen Delegierten unter dem strahlenden Genfer Himmel auf das Ziel zu bewegte, das er nach der langen Wanderung von London über Locarno und die Hindernisse, die sich noch im Frühjahr so unerwartet vor ihm aufgetürmt hatten, nunmehr in wenigen Minuten erreicht haben würde.

      An der Tür des Reformationssaales empfing uns Sir Eric Drummond, der Generalsekretär, und geleitete uns durch ein paar enge, dunkle, überfüllte Räume, die wohl dem entsprechen sollten, was man in den Parlamenten die Wandelgänge nennt. Die Vollversammlung tagte bereits seit einer halben Stunde. Als erster Punkt stand die Aufnahme Deutschlands auf der Tagesordnung. Soeben, genau um 10.35 Uhr, war von dem Präsidenten, dem jugoslawischen Außenminister Nintschitsch, der formelle Beschluß dieses Weltparlaments verkündet worden, daß Deutschland aufgenommen sei.

      „Ich bitte die deutschen Delegierten, nunmehr ihre Plätze einzunehmen“, tönte seine Stimme aus dem Lautsprecher in der engen „Wandelhalle“, die eigentlich der Teesalon des mit dem Tagungssaal zusammenhängenden Hotels Victoria war. Der große Augenblick war gekommen.

      Eine kleine Tür öffnete sich, die den Blick in einen großen, dunkelgetönten Saal mit mehreren übereinanderliegenden Rängen freigab. Durch das Glasdach drang das helle Sonnenlicht hinein. Die Eingangstür lag etwas erhöht hinter dem Präsidentensitz und der Rednertribüne, so daß man die Delegationen im Saal, dicht gedrängt und erwartungsvoll auf die kleine Tür blickend, erkennen konnte. Die Tribünen waren überfüllt. Die hellen Sommerkleider der Frauen und einige weiße Turbane von Delegierten oder Zuschauern aus Indien oder Arabien leuchteten als bunte Flecken in der Menge auf, die fast regungslos und schweigend dasaß.

      Ich sah noch, wie Stresemann sich plötzlich aufrichtete und dann als erster Deutscher im wahrsten Sinne des Wortes über die Schwelle der kleinen Tür hinweg in den Völkerbund eintrat. Bei seinem Erscheinen setzte im ganzen Saal ein wahrer Beifallssturm nach der vorher herrschenden erwartungsvollen Stille ein. Schnell folgten ihm Schubert, Gaus und ein Mitglied des Ministerbüros, der damalige Legationssekretär Feine. Ich selbst bildete das „Schlußlicht“ dieser kleinen Delegation und war somit der fünfte Deutsche, der richtiggehend in den Völkerbund eintrat.

      Der Beifall hatte eine wahre Orkanstärke erreicht. Von allen Seiten wurde geklatscht und Bravo gerufen. Nur mit Mühe konnten sich die drei deutschen Delegierten durch die herandrängende Masse der ausländischen Völkerbundsvertreter den Weg zu ihren Plätzen bahnen. Alle wollten ihnen die Hände schütteln und ihnen persönlich zu diesem großen Ereignis Glück wünschen. Inzwischen tobte das Publikum auf den Tribünen, Tücherwinken, Hüteschwenken, „bravo Stresemann“, Zurufe mit fremdländischen Akzentuierungen. Eine Szene, wie sie sich im Völkerbund noch nie abgespielt hatte, und wie ich sie selbst in einem so internationalen Kreise auch nie wieder erleben sollte. Dieser Empfang Deutschlands durch die Völker der Welt war wirklich etwas Einmaliges, um ein später so oft mißbrauchtes Wort hier zu verwenden.

      Recht schwer hatte es der Präsident inmitten dieser Begeisterungsstürme, sich für seine Begrüßungsworte Gehör zu verschaffen. Aber es wurde ganz still, als er Stresemann das Wort erteilte und dieser sich unter atemloser Spannung langsam auf die Rednertribüne begab. Feine hatte ihm noch schnell vorher das Manuskript seiner Rede übergeben, das er nun aufschlug und zu verlesen begann.

      Zunächst fand sich Stresemann in der ungewohnten Umgebung nicht ganz zurecht. Ich stand mit meinem eigenen Manuskript unter dem Arm etwas unterhalb der Tribüne ganz in seiner Nähe und konnte ihn daher genau beobachten. Ich sah, wie er etwas zusammenzuckte, als der Schall seiner Stimme mit einem blechernen Echo aus den Lautsprechern am gegenüberliegenden Ende des Saales auf ihn zurückstieß. Zwar war vor ihm auf dem Rednerpult eine ganze Batterie von Mikrophonen aufgebaut, so daß er sich wohl hätte denken können, daß eine Lautsprecherübertragung im Saale stattfinden würde; es war uns aber vorher gesagt worden, daß diese Mikrophone lediglich der Rundfunkübertragung dienten. Stresemanns Rede wurde nicht nur von allen deutschen Stationen, sondern auch von vielen ausländischen Sendegesellschaften in Frankreich, England und Amerika übertragen. So hatte er denn geglaubt, mit seiner Stimme allein den Saal füllen zu müssen.

      Aber Stresemann fing sich sehr schnell und paßte seine Stimme den technischen Vorrichtungen, je länger er sprach, immer besser an. Nur einige Male zuckte er noch etwas nervös wegen der Blitzlichter der Photographen oder blickte unwillig auf, wenn ein Filmoperateur mit seiner surrenden Kamera ihm allzu nahe kam. Nach einigen Minuten aber fühlte er sich völlig zu Hause und verlas seine Rede, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu versprechen.

      „Es kann nicht der Sinn einer göttlichen Weltordnung sein, daß die Menschen ihre nationalen Höchstleistungen gegeneinander kehren und damit die allgemeine Kulturentwicklung immer wieder zurückwerfen“, mit diesen wenigen Worten umriß Stresemann sein gesamtes politisches Wollen und wies an anderer Stelle auf die Gründe hin, die ihn zu dieser Politik geführt hatten. „Wir sehen ... nach den grundstürzenden Ereignissen eines furchtbaren Krieges ... in vielen Staaten den Niederbruch wertvollster, für den Staat unentbehrlicher geistiger und wirtschaftlicher Schichten.“ Deshalb müsse man auch im internationalen Zusammenleben sein ganz besonderes Augenmerk auf die „Wirtschaft“ lenken, „die die alten Grenzen der Länder sprengt und neue Formen internationaler Zusammenarbeit erstrebt.“

      So behandelte er nacheinander die verschiedenen Gebiete, auf denen sich der Völkerbund betätigen sollte. Nach der Wirtschaft kam er auf die Abrüstung, die Friedensverträge, den Weltgerichtshof und den Locarno-Pakt mit den Schiedsverträgen zu sprechen. „Kein anderes Gesetz darf für sie (die Staaten) gelten als das Gesetz der Gerechtigkeit.“ Er schloß mit der „Freiheit, um die jedes Volk ringt wie jedes Menschenwesen“. „Möge die Arbeit des Völkerbundes sich auf der Grundlage der großen Begriffe Freiheit, Friede und Einigkeit vollziehen.“

      Beifall tönte beim Schluß seiner Worte auf. Gelegentlich hatten auch während seiner Ausführungen einige Delegierte, die Deutsch verstanden, ihre Zustimmung zu erkennen gegeben. Aber der Applaus am Schluß war nur mäßig, wenn man ihn mit dem verglich, was sich bei Stresemanns Eintritt in den Saal ereignet hatte, und was sich nachher im Anschluß an die große Briand-Rede noch abspielen sollte. Das lag zum Teil sicherlich daran, daß die meisten erst meine französische Übersetzung abwarten mußten, ehe sie verstanden, was er gesagt hatte. Zum großen Teil aber lag es wohl auch an dem etwas akademischen Charakter der Rede, an der zu viele beamtete Köche mitgewirkt hatten.

      Schon beim Übersetzen hatten wir das gemerkt; bei der Herstellung der fremdsprachlichen Fassung einer solchen Rede wirft der Übersetzer ganz naturgemäß ein sehr kritisches Auge auf das Original und entdeckt ebenso selbstverständlich sofort seine schwachen Stellen, wenn er sich überlegen muß, wie er diesen oder jenen Gedanken am wirksamsten seinen fremden Zuhörern zu Gemüte führen soll. Die Rede hätte sich vielleicht besser zum Lesen als zum Sprechen geeignet. Diesen Eindruck habe ich bei späteren, vorbereiteten Reden von Stresemann und von anderen deutschen Vertretern noch öfter gehabt. Das lebendige Wort, aus dem Stegreif gesprochen, der Aufnahmebereitschaft der Zuhörer angepaßt und auf sie abgewandelt, ist ein Instrument, das die Franzosen und die Engländer meiner Erfahrung nach besser handhaben können als die Deutschen. Das zeigte sich kurze Zeit darauf mit aller Deutlichkeit, als Briand sprach.

      Nachdem Stresemann auf seinen Platz zurückgekehrt war, erhielt ich das Wort zur französischen Übersetzung.


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