Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945. Paul Schmidt
„Vereinigte Staaten“ zu lesen stand. Das erregte unter den Wirtschaftlern allerdings kaum Aufsehen, denn auch ohne daß Amerika Mitglied des Völkerbundes war, hatten sich längst die engsten Beziehungen von Europa zu den Vereinigten Staaten und von diesen zur ganzen Welt angesponnen, so daß eine amerikanische Delegation den hier versammelten Prominenten aus Industrie, Handel und Landwirtschaft der Welt etwas Selbstverständliches war.
Noch eine weitere Besonderheit charakterisierte diese stattliche Versammlung, die am 4. Mai um 11 Uhr vormittags von dem Vorsitzenden, dem bereits bei der Londoner Reparationskonferenz erwähnten ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Theunis, mit einer längeren Rede eröffnet wurde. Die Delegierten waren eigentlich keine offiziellen Vertreter ihrer Länder. Sie hatten keine Vollmachten, irgendwelche Abmachungen zu treffen, sondern waren lediglich als Sachverständige dort, die sich ohne politische Bedingungen objektiv über die Ursachen der damaligen Wirtschaftskrise und die Heilmittel äußern sollten. Aus dem Bericht, der aus der Konferenz hervorgehen würde, konnte sich an und für sich noch keine direkte Besserung der Lage ergeben, denn er mußte zunächst von den beteiligten Regierungen gebilligt, dann von ihnen in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Unter diesen Umständen wurden von Anfang an in aller Welt viele skeptische Stimmen laut, deren Leitmotiv das Wort vom Hornberger Schießen war.
Gleich in dieser ersten Sitzung trat mir auch der stimmungsmäßige Kontrast zwischen der politischen Völkerversammlung des vergangenen September und diesem Wirtschaftsparlament der Welt deutlich vor Augen. Hier gab es keine dramatischen Szenen, keine erregten Debatten und keinen donnernden Applaus. Nüchtern, oftmals äußerlich unendlich langweilig, verliefen die Eröffnungssitzung sowie die Beratungen im Plenum und in den unzähligen Kommissionen. Nur manchmal wurde es etwas bewegter, wenn Jouhaux sein Rednertalent als Volkstribun zeigte, der mit solchen Reden die Massen in Frankreich sicherlich begeisterte, hier aber kaum ein Echo fand; wenn Frau Dr. Lüders, die demokratische Reichstagsabgeordnete, Marie Elisabeth, wie sie wegen ihrer Beliebtheit bei vielen Delegierten genannt wurde, witzig und schlagfertig ihren männlichen Kollegen den Kopf zurechtsetzte, oder wenn die Stimme Sowjetrußlands durch den Mund von Obolenski-Ossinski, dem Chef der Zentralverwaltung für Statistik, oder von Sokolnikoff, dem sowjetischen Beauftragten für die Planwirtschaft, immer wieder schonungslos, oft aber sehr treffend, die politischen Hintergründe der damaligen Wirtschaftsschwierigkeiten bloßlegte.
Auffallend still verhielten sich die Amerikaner, unter denen auch kaum sehr prominente Personen des Wirtschaftslebens vertreten waren. Das fiel sogar in der sonst so ruhigen Atmosphäre dieser Konferenz auf, bei der keine aufrüttelnden Reden mit Cellostimmen gehalten wurden, sondern deren Beratungen eher dem stetigen, eintönigen Ticken der Fernschreiber glichen, die einige Jahre später in allen Genfer Hotels den Text der im Völkerbund gehaltenen Reden übertrugen. Diese „tickers“ waren äußerlich genau so nüchtern und unsensationell wie die Weltwirtschaftskonferenz. Wenn man sich aber die Zeit nahm, vor ihnen stehen zu bleiben und Wort um Wort und Satz um Satz den Text verfolgte, wie er aus dem Apparat herauskam, dann erlebte man oft hochinteressante Dinge. So ging es mir auch mit dieser Konferenz. Während sich Sitzung an Sitzung und Besprechung an Besprechung reihte, entstand vor meinem Auge, wie aus kleinen Mosaiksteinen zusammengesetzt, allmählich das Bild der Wirtschaftslage Europas und der Welt, so wie es sich um das Jahr 1927 präsentierte.
Erleichtert wurde mir das Verständnis dieser weltwirtschaftlichen Zusammenhänge durch die Praxis der deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen, die mir seit 1924 einen reichen Anschauungsunterricht in dem Alltag der Wirtschaftsbeziehungen zwischen zwei Ländern boten. Hier genoß ich meine praktische Ausbildung, während die große Theorie auf der Weltwirtschaftskonferenz und den auf sie folgenden Tagungen des Genfer Wirtschaftsausschusses gelehrt wurde.
„Die Entwicklung der Technik und des Verkehrs im 19. und 20. Jahrhundert“, so hörte ich im Industrieausschuß der Konferenz von vielen Rednern, „drängt auf die Schaffung immer größerer Wirtschaftseinheiten.“ Nur so könne die moderne Wirtschaft zur vollen Entfaltung und zur höchsten Leistungssteigerung gelangen. Daraus müßten alle Beteiligten die entsprechenden Schlüsse ziehen. Zunächst aber war durch den Weltkrieg und seine Folgen genau das Gegenteil geschehen. Die große Einheit, die der Weltmarkt im liberalen Wirtschaftssystem der Vorkriegszeit dargestellt hatte, wurde durch den Krieg selbst in viele kleine Teile zerlegt und nach dem Kriege durch die Schaffung einer ganzen Reihe von neuen Staaten weiter zersplittert.
Während der Zeit des Voneinanderabgeschlossenseins hatten sich in all diesen Wirtschaftseinheiten, die meistens mit den Staaten identisch waren, unter dem Druck des Krieges nicht nur die alten Betriebe zu einer Höchststeigerung ihrer Leistungen entwickelt, sondern es waren auch noch zahlreiche neue Industrien in den Wirtschaften der einzelnen Länder entstanden, welche die nicht mehr vom Auslande erhältlichen Waren im eigenen Lande produzierten, und zwar ohne Rücksicht auf die Gestehungskosten. Nach Beendigung des Krieges, als die Einfuhr von außen in die meisten Länder zum großen Teil wieder möglich wurde, wären diese neuen Industrien in die schwerste Bedrängnis geraten, wenn sie im eigenen Lande mit den im Auslande seit langem besser und billiger hergestellten Waren hätten in Konkurrenz treten müssen. Sie forderten daher Zölle für die Auslandswaren, damit deren Preise im Inland möglichst höher lagen als ihre eigenen. Diese Forderung nach Zollschutz wurde ihnen auch vielfach erfüllt, obwohl die Konsumenten letzten Endes die Rechnung zahlen mußten. Es war für die einzelnen Nationalwirtschaften unmöglich, die allmählich zu beachtlichen Wirtschaftsfaktoren angewachsenen neuen Industrien durch die ungehinderte Konkurrenz des Auslandes ruinieren zu lassen; hierdurch wären erhebliche Kapitalinvestitionen verlorengegangen und die Arbeitslosigkeit, die eines der großen Probleme der Zeit nach dem ersten Weltkrieg bildete, hätte weiter zugenommen.
Von den „Zollmauern“, die jedes der zahlreichen europäischen Länder, vor allem aber Rußland und Amerika, immer höher um seine Landesgrenzen, auftürmte, war damals in Genf sehr viel die Rede. Es war sogar eine Reliefkarte vorhanden, auf der die Landesgrenzen mit richtigen Zollmauern in der relativen Höhe dargestellt waren, so wie sie sich im Verhältnis zu denen der anderen Länder präsentierten. Die höchste Mauer in Westeuropa hatte Frankreich um sich gebaut. Deutschland lag etwas niedriger. Boshafte Besucher zogen allerdings manchmal dieses oder jenes Land – die einzelnen Staaten waren auf der Karte mit ihren Zollmauern wie in einem Puzzle-Spiel vertikal beweglich aneinandergesetzt – etwas höher heraus, so daß es zum Entsetzen der Delegation dieses Landes die anderen weit überragte.
Es galt damals in Genf nicht als Empfehlung, einen hohen Schutzzolltarif zu besitzen. „Wirtschaftlich und politisch“, erklärte Layton, „ist Europa in eine Anzahl kleinerer Einheiten aufgeteilt worden und besitzt heute über 11 000 km Tarifschranken mehr als vor dem Kriege ... Kleine wirtschaftliche Einheiten mögen vor 50 Jahren ihre Berechtigung gehabt haben, angesichts der modernen Produktionsbedingungen sind sie heute ein Anachronismus geworden.“
Damit war eines der Grundübel der damaligen Wirtschaftsstruktur aufgezeigt. Wie sollte es nun aber beseitigt werden? „Die Industrien müssen sich untereinander verständigen“, erklärten die Franzosen. Kartelle sollten durch privatwirtschaftliche Abmachungen die Zollschranken überspringen, so daß deren Abbau überflüssig würde, denn eine Herabsetzung des Zollschutzes wäre in Frankreich und in anderen Ländern auf einen erheblichen Widerstand der Interessenten und ihrer politischen Freunde in den Parlamenten gestoßen. Vielfach blickte man dabei auf Deutschland, das Land der „Organisation“, von dem man eine Unterstützung dieser Kartelltheorie erhoffte. „Meine Firma ist an mehreren internationalen Industrievereinbarungen beteiligt“, erklärte Siemens, „aber trotzdem möchte ich vor einer Überschätzung des modernen Schlagwortes,Organisation’, das in vielen Kreisen als Allheilmittel angesehen wird, warnen“, und rückte damit von der von Loucheur propagierten französischen Theorie ab. „Solche Monopole behindern die freie Entfaltung der produktiven Kräfte und die Verwirklichung des höchsten wirtschaftlichen Allgemeinwohls“, sagte Cassel in einem scharfen Angriff gegen die Kartelle. „Unsere Klage über die Kartelle und Trusts geht dahin, daß sie eine unkontrollierte Macht in die Hände einer kleinen Gruppe von Leuten legen, die einen Gebrauch davon machen oder machen können, der dem allgemeinen Interesse entgegengesetzt ist“, sekundierte der Generalsekretär des Internationalen Genossenschaftsbundes dem schwedischen Nationalökonomen, dessen Standpunkt natürlich auch bei Jouhaux und den