Das himmlische Banquet. Barbara Allmann
Erinnerung tauchte, die sie nach Wien, in ihre Heimatstadt schleuderte.
Der gute Vater stärkt das Rückgrat seiner Tochter
Oberst Rudolph Bienen war sehr zufrieden an diesem klaren kalten Novembernachmittag. Er hatte sich eine seiner seltenen Mußestunden genehmigt und sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, ohne die penibel gepflegte Uniform abzulegen. Warum sollte er auch? Die kaiserlich-königliche Arbeitskleidung war das einzige Gewand, in dem er sich sicher und damit wohlfühlte. Ganz nebenbei ließ sie seine Gestalt vorteilhaft zur Geltung kommen, da sie das überschüssige Bauchfett eines Mittfünfzigers kaschierte. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er darin auch sein einziges Kind gezeugt; doch damals stand er noch im Banne seiner schönen Frau. Für Lily hätte er sich mit Vergnügen duelliert, so hübsch, so schüchtern und so gut erzogen, wie sie war. Noch dazu stammte sie aus dem Wiener Beamtenadel, eine für ihn karrierefördernde Draufgabe, die das Mädchen noch attraktiver erscheinen ließ. Dass sie auch intelligent und kultiviert war, wertete Rudolf als belanglos. Wenn er nicht so unsterblich verliebt gewesen wäre, hätten ihn diese Eigenschaften sogar gestört, denn er sah sie als unvereinbar mit femininer Sittsamkeit und Jungfräulichkeit an. Rudolph hatte es bedauert, nie einem ernst zu nehmenden Nebenbuhler begegnet zu sein. Dem hätte er es so richtig zeigen können! Er hob eine alte Pistole mit versilbertem Griff von der Wand, auf der verstreut Gewehre, Säbel, Dolche und anderes kriegerisches Kleingerät aus den letzten Jahrhunderten hingen. Mit dem großen Schnupftuch aus seiner Hosentasche polierte er die Waffe, die er mit einer ruckartigen Drehung zum Schreibtisch hin schussgerecht ansetzte, um auf das Hochzeitsfoto zu zielen: Lily trug das dreireihige Collier, das hochkarätige Brautgeschenk ihrer Schwiegermutter. Als der Lauf auf das Porträt von Kaiserin Sissy mit den offenen, bodenlangen Haaren schwenkte und seine jähzornigen Augen ihr Herz anvisierten, pochte es verhalten an der Tür, die die mit Büchern dicht tapezierte Seitenwand unterbrach. Valentina trat geräuschlos ein, steuerte auf den Kartentisch zu, das Herzstück von Oberst Bienens Arbeitszimmer, und griff nach einem der Zinnsoldaten, die die im Siebenjährigen Krieg so erfolgreiche schiefe Schlachtordnung von Friedrich II. nachstellten.
Valentina drückte das Spielzeug an ihre flache Brust und drängte sich in den abgenutzten Lesesessel aus dunklem Leder, von dem ihre dünnen Beinchen aus den hellen Rüschen ihres blauen Kleides ragten und den Boden nur knapp berührten. Wenn ihr Vater gut gelaunt war – was selten vorkam –, wollte sie immer in seiner Nähe sein und ihn zumindest beobachten dürfen. Auf eine andere Art gab er sich kaum mit ihr ab.
„Ah! Fertig mit den Hausaufgaben!“ Die Begrüßung kam – wie fast alles, was Rudolph sprach – wie ein Befehl an seine Soldaten, die er als seine Ziehsöhne betrachtete. Valentina war die Einzige, die es vermochte, im barschen Ton ihres Vaters eine zaghafte Schwingung zu erkennen, die ihr wohlwollend entgegenkam. Das untrügliche Zeichen dafür war, dass er ihr in die Augen sah und sich über den Backenbart strich, den er grau und eitel nach der Fasson des Kaisers trug. Er trat vor seine Tochter und streckte ihr die Pistole entgegen: „Ist das nicht ein Prachtstück? Nimm sie in die Hand!“ Valentina richtete sich im Sessel auf und verschränkte die Hände auf dem Rücken, ohne den Zinnsoldaten loszulassen, den sie sich in die Haut drückte. Trotzig sah sie ihrem Vater in die Augen, über denen sich die buschigen Brauen einander bedrohlich näherten. „Und ich habe gedacht, aus dir hätte ein schneidiger Bub werden können!“ Valentinas grüne Augen standen unter Wasser.
Gaumenfreuden bei Familie Bienen
Am nächsten Tag, als die Pendeluhr wie immer pünktlich um zwölf das Mittagessen ankündigte, saß man bei Bienens am langen, adrett gedeckten Tisch des Esszimmers, das mit Perserteppichen ausgelegt war. Auf schlichtem weißem Batist lagen in exakten Abständen die goldumrandeten Teller mit dem silbernen Besteck. Die filigran geschliffenen Gläser aus dem renommierten Hause Lobmeyer hatte Lily erst kürzlich angeschafft, denn die alten, von ihrer Mutter geerbten waren trüb geworden. Rudolph hatte ihr deshalb wieder einmal Geldverschwendung vorgeworfen. Die beiden Tischenden waren vom Ehepaar besetzt, Valentina saß zwischen den beiden, auf der Seite, die zur massiven Eichentür zeigte. Sie bückte sich stumm über ihren Teller und stocherte in Petersilienkartoffeln, Karotten und Erbsen. Das Ticken der Pendeluhr begleitete das Schweigen, wobei Valentina drei Mal auf das Ziffernblatt blickte, in der Hoffnung, die Mahlzeit wäre bald vorüber. Während Rudolph routiniert seine Forelle filetierte, wischte sich Lily den Mund mit der Serviette, auf der sie einen roten Abdruck hinterließ. Sie nahm einen kräftigen Schluck vom Riesling und bohrte ihren Blick in Valentina.
„Hör doch endlich auf, wie ein Huhn im Teller zu picken!“
Rudolph blickte irritiert auf, während Valentina noch weiter zusammensank und ein winziges Stück Forelle in den Mund schob.
„Und bitte nicht mit so einem Gesicht!“, herrschte sie Lily an. „Dein Schlankheitswahn ist ja unerträglich!“ Lily, die in den 15 Jahren ihrer Ehe, die sie fast alle in der Döblinger Villa ihrer Schwiegereltern verbracht hatte, jeden Tag ein bisschen wütender und dicklicher geworden war, konnte jeden Moment explodieren, auch wenn sie es gelernt hatte, sich zu beherrschen; zumindest ihrem Gatten gegenüber. Jetzt warf sie gereizt die Serviette auf den Tisch, stellte sich hinter Valentina und packte sie hart an den zarten Schultern. „Ich werde dir zeigen, wie du am schnellsten abnehmen kannst!“ Lily riss ihr schmächtiges Kind hoch, drückte es an die Sessellehne und öffnete sein Kleid, um ruckartig das Korsett enger zu schnüren. Valentinas Herz blutete, und ihr Hirn war so gedemütigt, dass sie an Gegenwehr nicht einmal denken konnte.
Rudolph beobachtete die ihm merkwürdig anmutende Erziehungsmaßnahme seiner Frau, ohne dabei seinen Kopf zu heben. Als Valentina sich eine Hand vor den Mund und die andere an den Bauch hielt, tat sie ihm fast ein bisschen leid. Doch schon als die Gezüchtigte auf die Tür zustürzte, freute er sich auf seinen Kaffee und seine Zigarre, die er in seinem Arbeitszimmer einzunehmen pflegte.
Valentina hatte es gerade noch zur Toilette geschafft, wo sie sich übergeben musste. Dann kauerte sie in der Sitzbadewanne, umgeben von zartrosa und weiß gekachelten Wänden, die nur einmal durch ein winziges Fenster unterbrochen wurden und durch die das Novemberlicht dürftig drang. Valentina fröstelte im warmen Wasser, mit dem sie sich wusch, indem der große Schwamm immer wieder auf derselben Stelle oberhalb des Magens kreiste. Ihr Blick blieb starr auf die Tür gerichtet, bis sie aus der Wanne stieg. Ohne sich abzutrocknen, sah sie ihr Gesicht im Spiegel, das ihr unbekannt war, nahm die Zahnbürste vom Regal und striegelte ihr Haar. Als leise Klaviermusik aus dem Wohnzimmer heraufdrang, erkannte Valentina ihr Tun und wunderte sich, dass sie überhaupt im Badezimmer war.
Der Salon der Bienen unterschied sich von den übrigen Zimmern der Villa durch eine gewisse Beschwingtheit, die vom Garten durch das große Fenster hereinzukommen schien und vom schwarzen Flügel, auf dem Lily täglich Klavier spielte, verbreitet wurde. Die dicken Teppiche trugen das großzügig verteilte Mobiliar, durchwegs aus Palisanderholz gefertigt, wie der zierliche Teetisch etwa, der von plüschigen Fauteuils umstellt war. Aus allen Ecken wuchsen hohe Vasen mit Grünpflanzen, der üppige Kristallluster versprach jederzeit genügend Helligkeit. Nur das sperrige, in düsteren Schattierungen gehaltene Doppelporträt von Lilys Großeltern, das über dem Instrument hing, vertrug sich schlecht mit der angedeuteten Heiterkeit des Raumes. Am Flügel saß Paulina Mayrhoff und begleitete Händels Arie Lascia, ch´io pianga, die ihre um zwei Jahrzehnte ältere Schwester Lily mit einem gewissen Talent zum Besten gab. Paulina hörte ihrem eigenen Spiel zu, ohne Lily besonders zu beachten. „Ergreifender als mit dieser Arie ist wohl niemals getrauert worden“, dachte sie und ließ die eleganten Hände geschmeidig über die Tasten gleiten, bis sie entschlossen zum Schlussakkord ansetzen.
Lily machte sich am mit Rosen geschmückten Teetisch zu schaffen, reichte ihrer Schwester eine Tasse und goss sich selbst den Cognac ein, einen doppelten. Wenn die Schwestern einmal die Woche in Muße zusammenkamen, verstanden sie sich; war das Spiel vorbei, fand Lily Paulinas Gegenwart anstrengend. Und das nicht, weil sie eleganter, schöner und schlanker war.
„Wenn du um diese Zeit schon Cognac trinkst, drängt sich mir nur eine Frage auf: Wie geht es meinem Schwager?“, erkundigte sich Paulina.
„Rudolph