Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Arthur Rosenberg

Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik - Arthur Rosenberg


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man die Regierung, möglichst viel von den industriellen Kriegswünschen zu verwirklichen. Hätte eine bürgerliche Industriepartei selbst die Regierung Deutschlands gebildet, so hätte sie auch die Verantwortung für die Verwirklichung ihrer Wunsche gehabt und hätte sich sehr sorgfältig gefragt, was von ihren Plänen durchführbar sei. Unter der kaiserlichen Verfassung jedoch konnten die industriellen Verbände, von keiner Verantwortung gehemmt, Eingaben schreiben. Die Erlangung dieser Objekte war Sache der Regierung.

      Während die Industrie im Westen ihre Basis erweitern wollte, hatte der preußische Grundbesitz ähnliche Pläne für sich im Osten. Man wollte in den dünnbevölkerten Agrarländern Kurland und Litauen Siedlungsland für die jüngeren Söhne der deutschen Landwirte gewinnen. Man suchte Verbindung mit dem deutschbaltischen Adel der russischen Ostseeprovinzen. So sollte durch eine Gebietserweiterung nach Nordosten hin die agrarisch-aristokratische Regierungsschicht Preußens Verstärkung bekommen. Ein Teil der preußischen Konservativen zog freilich den Sonderfrieden mit dem russischen Kaisertum solchen Projekten vor.

      Bei den politischen Machtverhältnissen in Deutschland war es besonders wichtig, welche Wünsche zur strategischen Sicherung der Generalstab und die Marineleitung hatten. Leitende Generale waren der Ansicht, daß vor allem die Industriegebiete Deutschlands im Westen bisher zu nah an der Grenze lagen. Zur besseren Sicherung des deutschlothringischen Industriebezirkes müsse ein Streifen französischen Landes erworben werden, und zur Deckung des Rheinlandes müsse mindestens Lüttich deutsch werden. Noch besser sei es, wenn ganz Belgien unter deutschem Einfluß bleibe. Im Osten wünschten die militärischen Stellen eine bessere Grenzsicherung für Oberschlesien, Ost- und Westpreußen, also die Abtretung von russisch-polnischem Gebiet an Deutschland. Man sieht, daß die militärischen Kriegsziele in weitem Umfang mit den industriellen übereinstimmten. In dem Gebietsstreifen, den die Generale zur Sicherung Lothringens forderten, lag gerade Longwy-Briey, und ebenso deckten sich die militärischen und die industriellen Forderungen in bezug auf Belgien. Auch die Marine drängte darauf, daß Deutschland die Kontrolle über Belgien behalte: Denn nur wenn Deutschland die Herrschaft über die flandrische Küste behaupte, könne es mit Hilfe von U-Booten usw. England in Schach halten.

      Durch Zusammenlegung all dieser Kriegsziele der Industrie, des Großgrundbesitzes, der militärischen und Marinesachverständigen entstand ein einheitliches Programm des sogenannten deutschen »Siegfriedens«, dessen literarische und agitatorische Vorkämpfer vor allem im Alldeutschen Verband saßen18. Die Leidenschaft, mit der die führenden Schichten Deutschlands für den sogenannten Siegfrieden eintraten, ist aber nicht dadurch zu erklären, daß dieser oder jener für sich persönliche Vorteile erhoffte, sondern die politisch denkenden Männer des preußischen Adels und der Industrie empfanden, daß auf jeden Fall der Ausgang des Krieges ihre Machtstellung, und damit das alte Regierungssystem Deutschlands, aufs schwerste bedrohen würde. Ging der Krieg unglücklich aus, so war ein furchtbarer Zusammenbruch zu erwarten. Wenn der Krieg mit einem Status-quo-Frieden ende, dann müsse das deutsche Volk, ohne einen Vorteil errungen zu haben, Kriegsschulden von vielen Milliarden abtragen. Dies würde ohne ganz schwere Steuern nicht möglich sein. Wenn die Kriegsteilnehmer nach Hause kämen, würden sie nach so vielen Opfern ein verarmtes Vaterland vorfinden, und die Regierung würde von ihnen riesige Steuern verlangen. Das würde sich die Volksmasse nicht gefallen lassen, und so käme auch die Revolution. Das alte System Deutschlands war also nach Ansicht der sogenannten »Annexionisten« nur dann zu halten, wenn der Staat dem Volke nach dem Krieg etwas bieten konnte, sei es eine angemessene Kriegsentschädigung, oder Siedlungsland, oder eine in ihrer Leistungsfähigkeit erheblich gesteigerte Industrie, oder möglichst all dies zugleich.

      So wird für die Konservativen und den größten Teil der Nationalliberalen der Siegfriede der letzte politische Rettungsanker19. Obwohl diese Kreise den wirklichen Ernst der Kriegslage nicht kannten, mußte man sich doch in den Jahren 1915 und 1916 allmählich sagen, daß ein voller militärischer Sieg Deutschlands über alle seine Feinde nicht wahrscheinlich sei. Aber da ließ die Marine unter der Hand überall verbreiten, daß sie eine Waffe habe, um den Hauptfeind England ungefähr in einem halben Jahr verhandlungsbereit zu machen, nämlich den unbeschränkten U-Boot-Krieg. Aus übertriebener Rücksicht auf England und Amerika scheue sich Bethmann-Hollweg, diese entscheidende Waffe anzuwenden. Die »Flaumacher« am kaiserlichen Hof, Männer wie die Kabinettschefs von Valentini und von Müller, seien dabei die Helfershelfer Bethmann-Hollwegs. So ziehe sich der Krieg hin, untergrabe die Wurzeln der deutschen Kraft und stärke den Sozialismus und die Demokratie. Bethmann-Hollweg müsse von seinem Posten entfernt werden, der verschärfte U-Boot-Krieg müsse ohne Rücksicht geführt werden 20. So könne Deutschland zum Sieg und zum Siegfrieden kommen. Nur so sei die Revolution abzuwehren und die traditionelle Staatsordnung zu verteidigen. So argumentierten das Offizierskorps, der preußische Großgrundbesitz und die Industrie.

      Völlig entgegengesetzt waren die Kriegsziele der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Aus den oben erwähnten Gründen waren die Arbeiter von tiefem Mißtrauen gegen die herrschenden Schichten erfüllt und von dem Willen, so schnell wie möglich den Krieg zu beenden. Die Massen hatten den Eindruck, daß der Krieg den höheren Offizieren in den Stäben und den Großindustriellen gar nicht unangenehm sei. Nun hörten sie noch, daß diese selben regierenden Kreise große Eroberungspläne hegten. Sie hörten ferner die optimistische amtliche Auffassung der Kriegslage. Die Angriffe der Feinde auf Deutschlands Existenz waren überall zurückgeschlagen. Die deutschen Truppen standen überall in Feindesland. War es da nicht möglich, einen Frieden der Verständigung, ohne Eroberungen, jederzeit zu erhalten? Waren nicht die Eroberungspläne der regierenden Klassen das Haupthindernis des Friedens? Wenn führende Konservative und Alldeutsche erklärten, daß Deutschland einen sogenannten Verständigungsfrieden gar nicht annehmen dürfe und auf dem Siegfrieden bestehen müsse, so sahen die sozialdemokratischen Arbeiter darin die Bestätigung ihres Verdachts21. Dieselben Männer, von denen das Proletariat politisch, wirtschaftlich und im Heere gedrückt würde, seien auch die Kriegsverlängerer. Sie müsse man unschädlich machen, um so das Elend zu beenden. So belebte die Losung: »Gegen die Alldeutschen und Annexionisten« den Klassenkampfgeist der Arbeiter. Das war die Formel, mit der das Proletariat die Fesseln des Burgfriedens durchbrach und den politischen Machtkampf wieder aufnahm. Denn die »Annexionisten«, das waren in den Augen der sozialdemokratischen Arbeiter die herrschenden Schichten des kaiserlichen Deutschlands. Wenn man die »Annexionisten« niederschlug, dann gewannen die sozialdemokratischen Arbeiter das Übergewicht in Deutschland.

      Das leidenschaftliche Verlangen der Arbeitermassen nach Kampf gegen jeglichen Annexionismus hätte eigentlich die sozialdemokratische Parteileitung in eine schwierige Lage bringen müssen. Die Sozialdemokratie hatte zwar nach Kriegsbeginn eine selbständige politische Initiative im Sinne von Engels nicht ergriffen. Aber sie hielt trotzdem im Sinne der Tradition von Marx und Engels an der Niederwerfung des Zarismus als einem wünschenswerten Kriegsziel fest. Ebenso war die sozialdemokratische Parteileitung damit einverstanden, daß durch die deutschen Siege im Osten die von Rußland unterdrückten Völker, vor allem die Polen, »befreit« wurden. Politisch hätte es klar sein müssen, daß das kaiserliche aristokratische Deutschland die Ostvölker gar nicht »befreien« konnte. Ein durch die Siege der kaiserlichen Armee »befreites« Polen, Litauen und Kurland konnte weiter nichts werden als ein Vasallenstaat der deutschen Aristokratie und der deutschen Industrie. Wenn also die Sozialdemokraten die Formel »keine Annexionen und Verständigungsfriede auf Grundlage des Status quo« aufnahmen, so hätte diese Losung für den Osten genauso gelten müssen wie für den Westen. Aber um ihr Kriegsziel vom 4. August, den Kampf gegen den Zarismus nicht ganz preiszugeben, blieb die Sozialdemokratie hier inkonsequent. Sie bekämpfte zwar alle Pläne eines offenen und versteckten deutschen Annexionismus in Belgien und Nordfrankreich. Sie hatte aber keine ernsten Einwendungen dagegen, daß Deutschland in Kurland, Polen und Litauen auf Kosten Rußlands neue Staaten gründete. Die Sozialdemokratie verlangte zwar, daß in diesen »befreiten« Ländern auch wirklich das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur Geltung käm22. Aber für die reale Politik war das bedeutungslos.

      Es ist bemerkenswert, daß die Arbeitermassen Deutschlands zwar jeden mit ungeheuerer Verbitterung verfolgten, der für die Annexion Belgiens und besonders der flandrischen Küste eintrat, daß sie aber gegen die östlichen Eroberungspläne kaum etwas einwandten. Die Massen waren nämlich gar nicht


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