Herzkasper. Dirk Zöllner
ich mich Mitte März 2020 an die Arbeit für dieses Buch mache, wird die Welt um uns herum aus den Angeln gehoben. Corona ist in Deutschland angekommen. Tiefe Verunsicherungen, Ängste, aber auch Hoffnungen bestimmen den Alltag der Menschen. Die alternative Musikszene, der ich mit den Zöllnern angehöre, ist komplett lahmgelegt und nur noch im Internet präsent. Die Darsteller der industriellen Musikverwertung sind natürlich weiterhin keimfrei im Radio und Fernsehen zu bewundern, aber der deutsche Otto-Normal-Musiker lebt ausschließlich von den engen, schwitzenden Konzertbegegnungen. Dort wird auch der Großteil seiner Alben abgesetzt.
Bei musikalischen Lesungen bringe ich außerdem viele meiner Bücher an den Mann und die Frau. Hier wurde ich in der Vergangenheit stets von meinem Freund André Drechsler begleitet. Nicht nur auf der Gitarre, sondern auch seelisch. Er ist einer der sanftesten Menschen, die mir im Leben begegnet sind – und ich wünsche mir sehr, dass wir mit Erscheinen dieses Buches wieder gemeinsam auf eine schöne ausgedehnte Lesetour gehen.
Wir sind in Kontakt und reden schon über unsere zukünftigen Heldentaten, aber – den Regeln geschuldet – nur mit diesem fürchterlichen Abstand: Telefon, E-Mail, Skype. Noch nie ist mir so klar gewesen, in welcher Abhängigkeit ich zu den inniglichen Umarmungen und intensiven Aug-in-Aug-Gesprächen stehe.
Wenn es endlich wieder losgeht, wird der sensible André bei den Lesungen die Rolle meines Köpenicker Herzens übernehmen, mit dem ich mich auf den folgenden Seiten im Zwiegespräch befinde. Es berlinert ein wenig, denn es war im ersten Teil meines Lebens etwas unterfordert. Nun, im fortgeschrittenen Alter, haben die Verkopfungen nachgelassen, und mein Herz und ich sind eine Symbiose eingegangen. Ab sofort bin ich nie mehr allein.
Dirk Zöllner, Berlin-Köpenick, den 15. Juni 2020
Herz oder Zahl?
Bei schlechten Gedanken kann ich mich nicht aufhalten. Ich spüre da sofort körperliche Auswirkungen. Aber was ist überhaupt schlecht? Und was gut? Alles dreht sich, sogar die Wahrheit. Ich kann mich nur sehr schwer entscheiden, denn der liebe Gott hatte leider kein Foto für mich. Kein vorgefertigtes Korsett. Kein passendes Kostüm.
Grundsätzlich würde ich mich ja in meinem Glauben eher links verordnen – zumindest trage ich die Illusion von der großen Gerechtigkeit in mir, bin getrieben von der Sehnsucht nach unbetretenem Land. Links hat für mich allerdings nur noch wenig mit der Partei dieses Namens zu tun – die verbliebenen Visionäre sind so spaßfrei. Da sehe ich kein lebensfrohes Ideal mehr blinken. Bei den Linken ist wenig Vergnügen zu finden.
Meine Kirche ist deshalb eine kunterbunte Mischung aus allen möglichen Religionen und weltlichen Glaubensgemeinschaften. Mit meinen fast sechzig Jahren lebe ich immer noch wie ein Student. Antiautoritär, in Kommune mit Freundin und Kindern. Das Haus steht offen für Gäste. Mir ist klar, dass die meisten Menschen nicht so turbulent leben wollen, und ich habe Verständnis für konservative Sicherheitsbedürfnisse.
Meine Freunde sind auch keinesfalls nur Studenten, Kommunisten oder Musiker! Keine Filterblase, das Herz ist immer entscheidend. Ich stelle sogar die Behauptung auf, dass fast jeder ein Herz hat beziehungsweise keiner dafürkann, wenn er mit einem etwas verkümmerten daherkommt. Ich bin überzeugt: Ein Herz ist das, was man daraus macht.
Herz oder Zahl? Das ist in der Tat eine elementare Frage. Man will doch zuerst mal dabei sein. Dazugehören. Mitspielen. Der Mehrheit angehören. Dafür muss man aber wohl oder übel der Vernunft folgen und als Zahnrädchen in der Maschinerie der Geldgenerierung funktionieren.
Wenn man sich dagegen für das Herz entscheidet, wird man unweigerlich zur Randfigur. Das muss man aushalten können! Es gibt die Möglichkeit, in Enklaven abzutauchen, um nicht allein zu sein. Auf dem Lande, an entlegenen Orten, gibt es immer mehr Inseln, die einem Kibbuz nach israelischem Vorbild ähneln. Verbindungen von Aussteigern, die ein alternatives soziales Miteinander leben. Hier können Sonderlinge durchaus ihr Glück finden.
Als Musiker oder Künstler zu leben ist ebenfalls ein Sonderweg. Also ein Weg für Sonderlinge. Wenn ich hier von Künstlern und Musikern spreche, meine ich ausdrücklich nicht die Lohnsklaven der Musikindustrie. Wer sich der Suche nach dem wahrhaftigen Ausdruck der Liebe verschrieben hat, braucht logischerweise das Herz als Arbeitsgrundlage. Und wer diese Prozedur überlebt, kann am Ende eventuell über ein ausgewachsenes Organ verfügen. »Ich glaub, es gibt das Glück!«, hat der große, melancholische André Herzberg mal gesungen. Ja! Das glaube ich auch!
Geld oder Liebe? Meine Freundin Johanna ist – so wie ich – eine freischaffende Überlebenskünstlerin. Unsere Ansprüche sind bescheiden, aber schöner Raum zum Wohnen und Arbeiten ist leider unerlässlich. Als die Liebste vor knapp drei Jahren unserem Ludwig das Leben schenkt, bin ich plötzlich der alleinige Jäger und Geldsammler. Ich schreibe, organisiere und spiele auf allen Brettern, die halbwegs als Bühne zu bezeichnen sind. Ein Ur-Instinkt lässt mich rotieren, es rattert derartig in meinem Kopf, dass ich überhaupt nicht mehr runterkomme. In den schlaflosen Nächten muss ich mich mit Computerspielen, Facebook und Rotwein ruhigstellen. Und siehe da – plötzlich machen mir auch die Bandscheiben wieder zu schaffen! So wie ganz früher, als ich noch permanent unter gesteigertem Ehrgeiz litt. Aber außer Rücken hab ich nun auch noch Magen und irgendwelche anderen Beschwerden im Oberkörper, die nicht eindeutig zuzuordnen sind. Johanna gegenüber diagnostiziere ich Lungenkrebs. Aber die versteht keinen Spaß und nervt so lange rum, bis ich schließlich einen Arzt konsultiere.
Es ist wie immer: Schon im Warteraum bin ich schlagartig genesen und beim Onkel Doktor selbst fühle ich mich wie ein Simulant. Während meine Ausführungen an ihm abperlen, hört er schon den Brustkorb ab. Aus Gründen der Effizienz wird mir auch gleich noch ein EKG empfohlen. Was für ein Glück! Mein Arzt erkennt sofort eine schwere Herzrhythmusstörung, und ich werde umgehend zur Notaufnahme ins Krankenhaus Köpenick überführt. Vorbei an klaffenden Wunden und geborstenen Gliedmaßen lande ich direkt auf dem Tisch eines Spezialisten, der mich erneut durchcheckt. Seine Diagnose: extreme muskulöse Verspannung bei mir. Und ein kaputtes Messgerät beim Hausarzt.
Geld oder Liebe – was für eine absurde Frage! Ich überlasse mein Herz nie wieder irgendeiner Maschine und schon gar nicht der Maschinerie irgendeiner Gesellschaft – mein Herz ist ab sofort Chefsache!
Wie kuhl – ick bin dir also ’ne Herzensanjelegenheit! Dit trifft sich ja ausgezeichnet, Chefchen, ick hätte da ooch gleich mal ’ne Frage: Wie meinste denn dit mit den linken Spaßbremsen? Du bist doch eigentlich janz lustig!
Ja. Unbedingt. Aber ich bin ja auch nicht so ganz der typische Visionär. Ich denk mir zwar auch so Sachen aus, aber die singe ich dann meistens.
Dit sollten die Linken ooch mal versuchen! Vielleicht hört denen dann ooch mal wieder eener zu!
Lieber nicht. Wer sich irgendwas ausdenkt, ist dann auch nur irgendwas. Aber noch lange kein Künstler. Ich glaube, dass alle Künstler links sind! Zumindest solange man sie als solche bezeichnen kann, also in der kreativen Phase. Wenn einer anfängt, Geld zu sammeln, hat er auch nicht mehr dringend etwas zu sagen. Er ist dann Kunstarbeiter, singt Schlager. Oder malt Fotos ab, schreibt Drehbücher fürs Traumschiff oder spielt eine Rolle auf selbigem. Er macht dann sozusagen aus Kacke Bonbons. Aber ich sage dir eins, mein Herzchen: der Verlust des Ideals kann krank machen!
Na, dit wolln wa ja nich, oder! Also immer schön uff mich hörn, uff deine linke Seite. Ja? Lasset loofen, mach dir nich immer so’n Kopp! Watt is’n dit überhaupt für ’ne Angst? Also die von den andern, von den Nichtlinken?
Das ist die konservative Beschränktheit, also so eine Art klaustrophobischer Zustand. Immer dieselben engen Runden im Hamsterrad! Genau genommen mit Hospitalismus zu vergleichen, mit diesen sich ständig wiederholenden Bewegungen von eingesperrten Tieren.
Ja, dit kommt davon, wenn man immer nur uff seinen Kopp hört! Wie kann man bloß so herzlos sein, sich selber einzusperren? Ick werd ja von den meisten Menschen schon mit Ende der Schulzeit entsorgt. Da hört jeder Spaß uff, so janz ohne mich! Nun kommt der Ernst des Lebens! Wer hat dit dickste Auto, wer hat den dicksten Schwanz, wer is dit dickste Sahnehäubchen, oben uff der Torte? Und am Ende kommt’s dann so dick, dass dit janze schöne »Schlaraffia« von ner fetten Depression heimjesucht wird.