Hexenglut. Historischer Kriminalroman.. Simone Dorra

Hexenglut. Historischer Kriminalroman. - Simone Dorra


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sie sich nie und nimmer gegen seine Mutter durchsetzen können. Wenn er jetzt und hier starb, dann war sie weiterhin zu einem elenden Schattendasein verdammt. Genau wie Veronika. Sein Kind. Sein wunderschönes Mädchen.

      Der Gedanke an die beiden Frauen, die er liebte und die von seinem Schutz abhängig waren, verlieh ihm wieder ein wenig Kraft. Er stieß sich von dem Baum ab und stolperte eine kleine Ewigkeit weiter, ohne etwas zu sehen, die Hände nach vorne ausgestreckt, um sich vor einem weiteren schmerzhaften Aufprall zu schützen.

      Da – jetzt hatte er hinter sich doch etwas gehört. Er blieb stehen und lauschte. Ein Wispern, ein Rascheln, ein Ast, der mit einem scharfen Knacken zerbrach, höchstens ein paar Ellen von ihm entfernt. Sie verfolgten ihn wirklich. Und sie hatten ihn fast erreicht. Er gab alle Vorsicht auf, setzte sich in Bewegung und rannte weiter, die Kehle eng in namenloser Furcht. Die Bäume rings um ihn her standen jetzt nicht mehr gar so nahe beieinander. Plötzlich sah er ein gutes Stück voraus ein schwaches Licht – und wo ein Licht brannte, da mussten auch Menschen sein, bei denen er sich in Sicherheit bringen konnte. Belebt von der unverhofften Aussicht auf Rettung steuerte er hastig und blindlings auf den Schein in der Ferne zu.

      Ein jäher Windzug traf sein Gesicht, und etwas Weiches streifte seine Wange. Er hielt inne, schnappte nach Luft – und beim nächsten unsicheren Schritt trat sein Fuß ins Leere. Er warf die Arme hoch, stieß einen Schrei des Entsetzens aus und stürzte. Sein Körper rollte einen Steilhang hinab, überschlug sich, krachte mehrfach gegen unsichtbare Hindernisse und blieb endlich reglos liegen.

      I

      Zuflucht im Kloster

      Das Erste, was ihm auffiel, als er langsam wieder zu sich kam, war ein leichter, aber deutlicher Duft nach Kräutern. Er erfüllte seine Sinne, während er mit geschlossenen Augen dalag, noch nicht ganz bei Bewusstsein, und die Eindrücke seiner Umgebung bruchstückhaft in sich aufnahm: ein kühles, glattes Laken unter seinem Körper; leiser Frauengesang in der Ferne, sanft auf- und absteigend mit einer beruhigend gleichförmigen Melodie; der dumpfe Schmerz in seinem rechten Bein, deutlich stärker als das Pochen und Stechen in seinem Kopf; und über allem das starke, bittersüße Aroma von Engelwurz.

      Er blinzelte und sah, dass er tatsächlich in einem Bett lag. Das Bett stand in einem großen, lichtdurchfluteten Raum. Gleich mehrere Spitzbogenfenster ließen die Sonne ein, und er entdeckte ein halbes Dutzend weiterer Betten, schlicht aus Holz zusammengezimmert und bis auf eines alle leer. In dem lag ein älterer Mann. Er schien zu schlafen, aber was immer es auch für ein Leiden war, das ihn quälte, es hatte tiefe Linien in sein bleiches Gesicht gezeichnet, die auch der Schlaf nicht tilgen konnte.

      Was war das hier? Wo war er bloß hingeraten?

      Er machte den Versuch, sich aufzusetzen, und sank hilflos wieder auf das Laken zurück. In seinem Kopf drehte sich alles, seine Ohren klingelten, und ihm war übel. Er versuchte, sich die Ereignisse der vergangenen Stunden ins Gedächtnis zu rufen, stellte fest, dass er das nicht konnte, und fühlte sich noch elender. Er schloss die Augen wieder und hätte am liebsten geweint.

      Das Dröhnen in seinem Kopf ertränkte die Schritte, die sich seinem Bett näherten, aber die leise, freundliche Stimme, die als Nächstes kam, übertönte es nicht.

      »Seid Ihr wach, Herr? Könnt Ihr mich hören?«

      Er tastete ziellos nach Halt; seine Hand wurde erfasst und in einem tröstlich warmen Griff festgehalten.

      »Deo gratias – so ist's recht. Jetzt müsst Ihr mich nur noch anschauen und mit mir reden, dann habe ich eine Sorge weniger.«

      Er öffnete die Augen einen Spaltbreit und sah, dass eine Frau auf einem niedrigen Schemel neben seinem Bett saß. Eine Nonne. Sie trug das schwarze Habit mit der weißen Haube, die ihr Gesicht eng einrahmte; ein kluges, eckiges Gesicht mit reiner, heller Haut, dessen Alter sich merkwürdigerweise nur schwer schätzen ließ. Vielleicht war sie Mitte zwanzig oder auch Anfang dreißig, er konnte es unmöglich sagen. Ihr Kinn sprang leicht vor, was von einer gewissen Sturheit sprach. Ihre Augen waren groß und von einem leuchtenden Haselnussbraun, in dem goldene und grüne Lichter tanzten.

      »Wo … wo bin ich?«

      Seine Stimme klang so heiser, als hätte er eine Handvoll Kieselsteine verschluckt.

      »Ihr seid im Kloster Frauenalb, Herr«, sagte die Nonne. »Im Infirmarium, genauer gesagt. Unsere Knechte haben Euch letzte Nacht hergebracht, nachdem sie Euch fast in Sichtweite unseres Gasthofes besinnungslos aufgefunden haben. Ihr müsst böse gestürzt sein.«

      »Ich …«

      Plötzlich kehrte die Erinnerung zurück und traf ihn wie ein heftiger Schlag in die Magengrube. Das Gebrüll der Räuber, die ihm und seinem Wagen aufgelauert hatten … Ein wilder Tumult aus klirrenden Schwertern und Schmerzensschreien … Im Licht der fast untergegangenen Sonne zwei grässlich verkrümmte Leichen auf dem Waldboden … Und er war geflüchtet, als wäre ihm der Leibhaftige auf den Fersen.

      »Wir wurden überfallen«, murmelte er. »Zwei der Wachen, die meinen Besitz schützen sollten, sind ermordet worden von dem Gesindel, das scharf war auf meine kostbaren Tuche und mein Gold. Die anderen beiden … Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben sind.« Er stellte fest, dass er am ganzen Leib zitterte. »Vielleicht sind sie ja auch tot.«

      Die Nonne schüttelte den Kopf. Ihr Daumen strich beruhigend über seinen Handrücken. »Nein. Sie haben genauso hergefunden wie Ihr. Und von ihnen haben wir auch gewusst, dass wir nach Euch suchen müssen. Die Mutter Oberin hat sofort unsere Knechte ausgeschickt, und ich bin dankbar, dass sie Euch so schnell entdeckt haben. Ein gebrochenes Bein ist übel genug – nach einer Nacht im Wald hättet Ihr Euch vielleicht auch noch eine Lungenentzündung zugezogen, Herr Stöcklin.«

      Er bewegte versuchshalber das rechte Bein … und biss sich auf die Lippen, als der Schmerz bis hinauf in seine Leiste schoss.

      »Es ist ein sauberer Bruch«, meinte die Nonne beruhigend. »Er ist ordentlich geschient, und bislang habt Ihr noch kein Fieber. Wenn Ihr lange genug stillhaltet und es mit Gottes Hilfe zu keiner Entzündung kommt, seid Ihr in ein paar Wochen so gut wie neu.«

      Plötzlich war er sehr erschöpft.

      »Mein … mein Wagen? Was ist mit meinem Wagen?«

      »Das wissen wir nicht«, erwiderte die Nonne. »Wir haben uns erst einmal um Euch und Eure Verletzung gekümmert. Aber ich vermute, dass die Männer, die Euch überfallen haben, den Wagen ebenso mitgenommen haben wie das Zugpferd.«

      Sein Herz sank. Er versuchte, zu überschlagen, wie hoch der Verlust sein mochte, den er erlitten hatte, aber die Zahlen vollführten in seinem Kopf nur einen verwirrenden Tanz. Er schloss die Augen und seufzte.

      »Waren kann man ersetzen, Herr Stöcklin.« Die Stimme der Nonne war sanft, aber bestimmt. »Ein verlorenes Leben nicht.«

      Jetzt klang sie deutlich näher. Er spürte, wie die Decke über ihm glatt gestrichen wurde, und der vertraute Kräuterduft verstärkte sich.

      »Meine Mutter hat mir immer Engelwurz gegeben«, murmelte er. »Wenn mich mal wieder der Magen gedrückt hat vom guten Essen unserer Köchin.«

      »Dann hat Eure Frau Mutter sich gut ausgekannt.« Er konnte hören, dass sie lächelte. »Ich gebe Euch jetzt auch etwas: ein Tonikum aus Weidenrinde und Mohn. Das hilft gegen die Schmerzen, gegen das Fieber, und es sorgt für einen ruhigen Schlaf. Könnt Ihr Euch hinsetzen, was meint Ihr?«

      Er stemmte sich mühsam hoch, und ein erstaunlich kräftiger Arm half ihm, sich aufrecht zu halten. Der Rand eines Bechers berührte seine Lippen. Er öffnete den Mund, trank gehorsam und verzog das Gesicht. Gallebitter. Dann wurde er behutsam wieder zurück in die Kissen gebettet.

      Er hörte Stoff rascheln und schaffte es mit einiger Anstrengung, noch einmal


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