P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner

P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben - Elsbeth Schneider-Schöner


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      Barteczko lachte leise. Früher, in einem anderen Leben, war er Dozent für Kunstgeschichte an der Universität Warschau gewesen, ein Feingeist, der stundenlang über das kulturelle Leben im Florenz der ausgehenden Renaissance diskutieren konnte, heute war er ein verhärmter Wicht in einem verschlissenen Wollmantel, der auf einem Klapptisch antiquarische Bücher anbot. Er hatte immer noch gute Verbindungen in die ehemalige akademische Welt oder was davon noch übrig geblieben war, so dass sein Zustrom an Erstdrucken und anderen interessanten Druckerzeugnissen unerschöpflich schien. Tomasz und Barteczko hatten sich im Arbeitsamt kennengelernt, als sie für eine Arbeits-Kennkarte anstanden und überrascht feststellten, dass sie beide eine Stelle als Nachtwächter gefunden hatten, Tomasz bei einem Eisenbahndepot, der Professor beim Fernmeldeamt – Stellen, die sich mühelos mit einer Tätigkeit auf dem Schwarzmarkt verbinden ließen.

      »Hast du ’ne Zigarette für mich?«

      Unwillig beugte sich Tomasz über seinen Rucksack, holte die letzten beiden Zigaretten aus dem Seitenfach, hielt Barteczko eine hin und steckte die andere wieder zurück.

      »Hier, mehr gibt’s nicht … Ich hoffe, ich kann heute ein paar Packungen eintauschen, Wolski hat mir den ganzen Rucksack mit Selbstgebranntem vollgepackt. Mein Gott, wenn du dessen Bude sehen könntest, das ganze Chaos auf diesem Hof! Irgendwann fliegt er mit seiner gesamten Destille mal in die Luft.«

      »Ist vielleicht kein schlechtes Ende«, sinnierte Barteczko und nahm einen gierigen Zug. »In einer Schnapswolke zum Himmel aufsteigen.«

      »Ich dachte, du bist ein Freigeist und glaubst nicht an den Himmel?«

      Der Professor kniff die Augen zusammen. »Hab meine Meinung geändert. Da es meiner Erfahrung nach an der Existenz der Hölle keinen vernünftigen Zweifel mehr geben kann«, er vollführte eine Handbewegung, die den ganzen riesigen Platz, vermutlich sogar die ganze Stadt Warschau mit einschließen sollte, »stehen die Chancen auf einen Himmel vermutlich gar nicht so schlecht.«

      »Immer noch der alte Optimist! Kann ich meinen Fusel mit zu deinen Sachen stellen?« Auf Barteczkos Nicken hin packte Tomasz seinen Rucksack aus und stellte ein paar Literflaschen Wodka hinter die fleckigen Bände einer polnischen Literaturgeschichte.

      »Wenn du früher kommen würdest, könntest du dein Zeug leichter loswerden«, bemerkte Barteczko, drückte die halb gerauchte Zigarette an seiner Schuhsohle aus und schob den Rest bedauernd in seine Hosentasche. »In der Dämmerung trauen sich auch die Deutschen aus ihren Löchern und stöbern hier herum. Die besten Geschäfte machst du mit denen, bevor es hell wird.«

      »Vielleicht will ich ja gar keine Geschäfte mit denen machen? Vielleicht bin ich ja ganz zufrieden damit, wie es jetzt läuft? Ich brauche nicht viel.«

      Der Alte schüttelte den Kopf. »Eine ehrenwerte, aber schwachsinnige Haltung.«

      Tomasz schob sich die Mütze in den Nacken, gähnte und rieb sich die Augen. »Verdammt, ich bin einfach hundemüde. Gestern Abend war ich erst um zwölf von Wolski zurück, und heute Morgen bin ich schon um halb sechs wieder aufgebrochen.«

      »Ich dachte, du hast ein Fahrrad?«

      »Ja. Aber es ist mir zu gefährlich, damit in die Stadt zu fahren. Wenn irgendeiner von denen auf die Idee kommt, es zu beschlagnahmen, bricht mein Geschäftsmodell zusammen. Ich brauche das Fahrrad, um zu meinen Bauern zu fahren.« An zwei, manchmal auch an drei Tagen in der Woche fuhr Tomasz seine Runde ab zu den Bauern, die er noch aus den Anfangsjahren seiner Zeit als Reporter kannte, bevor er seine Liebe zum Sportressort entdeckt hatte. Als Grünschnabel der Redaktion war er für das Warschauer Umland zuständig gewesen und hatte regelmäßig über die Fortschritte in der Schweinezucht, die Jahrmärkte und die Pflege dörflicher Traditionen geschrieben. Damals hatte er das langweilige Einerlei gehasst, heute kamen ihm seine Kontakte zugute. Er hatte sich auf den Alkoholschmuggel spezialisiert, weil die Flaschen, die er bei einer Tour auf seinem Fahrrad transportieren konnte, ein Vielfaches von dem einbrachten, was etwa mit Kartoffeln oder Gemüse zu verdienen war. Die Bauern verkauften an ihn, weil sie ihm trauten, und waren froh, dass er sie dafür mit Zigaretten und Nachrichten aus der Hauptstadt versorgte.

      »Du könntest bei uns einziehen, das weißt du ja, dann hättest du es nicht so weit. Wir haben in der Küche doch das Schlafsofa stehen. Antonia würde sich freuen, nicht immer nur mit mir zu streiten.«

      »Nein«, antwortete er, ohne den Professor anzusehen. Zurück nach Warschau? Wo sie gemeinsam gewohnt hatten. Wo jede Straße, jeder Park an sie erinnerte, die süße Juniluft und der Herbstwind und die ersten Schneeflocken, die quietschenden Türen der Straßenbahnen und das Läuten der Glocken und das Klappern der Milchkannen am Morgen. Zurück nach Warschau.

      »Auf keinen Fall. Ich komme zum Markt hierher, das reicht. Und ich wohne gut bei Andrzej, er käme ohne mich gar nicht mehr zurecht.«

      Barteczko zog die Augenbrauen hoch. »Hattest du nicht gesagt, du schläfst dort im Treppenhaus? Auf einem Teppich? Und du brauchst eine Stunde, um bis zu deinem Arbeitsplatz zu kommen?«

      »Na und! Dafür ist es ruhiger dort, und ich bin schneller auf dem Land draußen! Außerdem kann ich im Depot schlafen.«

      »Ist ja gut. Brauchst dich nicht aufzuregen, ich versteh schon.«

      Es war nicht richtig, dass sich all seine Wut plötzlich auf Barteczko richtete, einen alten, freundlichen Mann, dessen einziges Verbrechen darin bestand, dass er mit seiner Antonia immer noch in einer winzigen Wohnung im Warschauer Stadtzentrum wohnte. Es war nicht richtig. Tomasz holte tief Luft und versuchte sich zu entspannen. »Wie geht’s Antonia?«

      »Geht so. Die Bronchitis hat sie irgendwie überstanden, aber sie ist fast wahnsinnig vor Sorge wegen Halina. Wir haben jetzt wochenlang nichts von ihr gehört, und Antonia stellt sich immer das Schlimmste vor.«

      Das Schlimmste. Was für Antonia wohl das Schlimmste war? Ihre Tochter Halina lebte mit ihrem russischen Mann in Moskau und war mit ihrem ersten Kind schwanger; seit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion hatten sie nur sehr sporadisch von ihr gehört.

      »Ist gar nicht gesagt, dass es sich unter sowjetischer Herrschaft schlechter lebt als unter deutscher«, sagte Tomasz. »Ich zumindest kann’s mir nicht vorstellen.«

      »Und ich dachte immer, als Journalist braucht man Fantasie«, bemerkte Barteczko trocken.

      In dem Augenblick spürte Tomasz, wie in dem Markttreiben um sie herum eine eigenartige Unterströmung einsetzte, eine Bewegung ohne Ziel und Richtung. Dann hörte er das Geräusch schwerer Maschinen, Schritte, die im gleichen Rhythmus näher kamen, gebrüllte Befehle, zu weit entfernt noch, um ein Wort zu verstehen. Der ganze Markt wurde von einer Art Fieber erfasst; Händler rafften in größter Hast ihre Waren zusammen, Frauen zerrten ihre Kinder hinter sich her, jemand schrie, und die Ersten begannen zu laufen.

      »Hast du das gehört, Tomek? Was ist da los?« Barteczko war bleich geworden, bleich und grau wie alter Schnee.

      »Die Deutschen«, antwortete Tomasz. »Sie machen eine Razzia auf dem Kercelak.«

      Mittlerweile waren die Soldaten unübersehbar aufmarschiert, die Waffen im Anschlag, und riegelten den Platz ab. Eine Gewehrsalve knatterte zu ihnen herüber, gefolgt von panischem Geschrei; Menschen rannten wild durcheinander, versteckten sich in den hölzernen Buden, drückten sich in Kellereingänge, versuchten sich an den Fenstern der umliegenden Häuser hochzuziehen. Wenn es noch eine Chance zu entkommen gab, dann jetzt, sofort. Er wusste das, aber ein Gefühl der Lähmung hatte ihn überfallen; es war, als ob nicht er selbst dort am Rande des Platzes stünde, sondern jemand anderer, den er dabei beobachtete: ein schlecht rasierter kräftiger Mann in einem schäbigen Armeemantel, daneben Barteczko, der sich an seine Bücher klammerte. Er wollte dem alten Mann den Arm um die Schultern legen und ihm etwas Tröstliches ins Ohr flüstern, einen Satz voller Zuversicht und Tiefe, aber ihm fiel nichts ein, nicht ein Wort.

      »Es hat uns erwischt, alter Freund«, sagte er schließlich. Kurz schoss es ihm durch den Kopf, dass er die letzte Zigarette doch hätte rauchen sollen. Stattdessen griff er zu einer der Wodkaflaschen, schraubte sie auf und hielt sie Barteczko hin. »Auf


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