P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner

P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben - Elsbeth Schneider-Schöner


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      Jan, von allen Namen. Von allen Namen ausgerechnet dieser. Tomasz zog scharf die Luft ein, schloss für ein paar Sekunden die Augen, bis der Pfiff einer Trillerpfeife das Kommando zum Einsteigen gab. »Komm, es geht weiter … Jan. Komm.«

      Jemand hatte die Geistesgegenwärtigkeit besessen, den Latrineneimer mit nach draußen zu nehmen und zu leeren. Der Eimer wurde als Erstes wieder eingeladen, dann kletterten die Gefangenen zurück. Tomasz ließ den Arm des Jungen nicht los und sorgte dafür, dass sie einen Platz nebeneinander fanden, so nah an der Waggontür wie möglich, wo man noch einen kleinen Luftzug spürte.

      Der kurze Aufenthalt hatte die Lebensgeister der Deportierten angefacht und ihre Hoffnungen. Wenn man ihnen zu essen gab, konnte es ja wohl so schlecht nicht um sie bestellt sein, oder? Wozu sollte man das tun, wenn man sie nur umbringen wollte? Gespräche flackerten auf, munterer als zuvor, hier und da war sogar leises Lachen zu hören. Der Junge zitterte wieder; Tomasz legte ihm den Arm um die Schultern.

      »Alles in Ordnung bei dir?«

      »Ich – ja. Alles in Ordnung.«

      Er hörte ihn schluchzen; wahrscheinlich schämte der Junge sich dafür. Tomasz konnte sich noch dunkel daran erinnern, für wie viele Dinge er sich geschämt hatte, als er in dem Alter gewesen war – ein zu schwacher Bizeps, zu spärlicher Bartwuchs, zu dünn, zu weich, zu verträumt. Es schien hundert Jahre her zu sein. Er drückte den Jungen leicht an sich.

      »Und du bist ganz allein hier? Oder ist deine Familie in einem anderen Waggon?«

      »Nein, meine Familie ist in Lemberg. Ich bin allein.« Selbst im fahlen Zwielicht des Waggons glänzte das Gesicht des Jungen von Tränen. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

      »Ist ja gut, Janek«, sagte Thomas hilflos. »Ist ja schon alles gut. Sicher gibt es bald eine Gelegenheit, nach Hause zu schreiben und deinen Eltern Bescheid zu geben, wo du steckst. Vielleicht kannst du ihnen ja sogar ein bisschen Geld schicken. Ich habe gehört, dass man in Deutschland mehr verdient als hier.« Zumindest hatte das immer auf den Werbeplakaten gestanden, mit denen die Deutschen anfangs versucht hatten, polnische Arbeitskräfte ins Reich zu locken. Tomasz hatte nie daran geglaubt.

      »Dann – dann denken Sie, man bringt uns zum Arbeiten nach Deutschland, Pan? Nicht ins Lager? Mein Onkel hat gesagt, in den Lagern …« Die Stimme brach ab.

      Tomasz griff nach der feuchten Hand des Jungen und hielt sie fest. »Sag Tomasz zu mir, einverstanden? Ich denke, die wollen, dass wir für sie arbeiten. Ob das in einem Lager ist oder nicht …« Er ließ den Satz in der Luft hängen. Viele Deportierte lebten in Deutschland in Lagern, das wusste in Warschau jedes Kind. »Damit beschäftigen wir uns, wenn es so weit ist. Und im Lager bist du immerhin nicht allein. Kannst du ein bisschen Deutsch?«

      »Wenig. Ich war auf dem Gymnasium, bis sie die Schulen geschlossen haben. Da habe ich es ein bisschen gelernt. Aber ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, als diese Nazisprache zu sprechen.«

      Tomasz seufzte. »Überleg dir das gut. Wahrscheinlich ist es ein Vorteil, wenn du Deutsch kannst.«

      »Und du?«

      »Ich spreche ganz gut Deutsch. Vor dem Krieg habe ich Germanistik und Philosophie studiert.« Tomasz spürte, wie der Körper des Jungen sich versteifte und ein Stück von ihm abrückte. Wahrscheinlich war dieses Kind überzeugt davon, jeder, der sich mit deutscher Geschichte, Philosophie und Literatur beschäftigt hatte, mit Kant, Goethe und Lessing, sei automatisch ein Kollaborateur.

      »Ich bin im Widerstand! Bei den Partisanen!«

      »Bist du wahnsinnig, das hier herauszuposaunen?! Behalt das für dich, kapiert? Hast du vergessen, wo du hier bist?« Immerhin hatte der Junge aufgehört zu heulen und hatte sogar die Fäuste geballt. Gut so. Im Flüsterton sprach Tomasz weiter.

      »Und was hast du da gemacht, bei den Partisanen?«

      »Nachrichten überbracht, Flugblätter verteilt … Und manchmal nachts haben wir Plakate überklebt oder andere Botschaften daraufgeschrieben.«

      »Und das hast du in Warschau gemacht? Oder in Lemberg?«

      »In Lemberg. Erst haben wir gegen die Russen gekämpft, dann gegen die Deutschen.«

      Erleichtert stellte Tomasz fest, dass der Junge sich langsam beruhigte. »Wir? Du und deine Familie?«

      »Nein. Meine Eltern wissen gar nichts davon. Wir, das ist meine Pfadfindergruppe. Wir haben uns der Untergrundarmee angeschlossen. Ganz viele Gruppen haben das getan, Sportvereine, kirchliche Jugendgruppen … Wir wollen ein freies Polen, stark, gerecht, unabhängig!«

      Die Begeisterung war dem Jungen selbst jetzt noch anzuhören; Tomasz empfand so etwas wie Neid. Was für ein Alter, dachte er, in dem man in einer Minute ein heldenhafter Freiheitskämpfer sein konnte und in der nächsten ein Häufchen Elend, dem das Heimweh das Wasser in die Augen trieb. Erst dann fiel ihm auf, dass das mit dem Alter gar nichts zu tun hatte. Wie viele gestandene Männer und Frauen hatte er in den letzten Monaten unter dem Druck der Verhältnisse erst kämpfen und dann zusammenbrechen sehen? Und wieder aufstehen, darauf kam es an. Immer wieder aufstehen.

      »Vergiss das«, sagte er etwas schroffer als nötig. »Diesen ganzen Helden- und Widerstandskram. Ab heute hast du nur noch ein Ziel: lebend zurück nach Hause zu kommen.« Der Junge murmelte etwas, das Tomasz nicht verstand. »Was hast du gesagt?«

      »Bist du überhaupt ein Pole?, habe ich gefragt«, antwortete Jan hitzig. »Der Widerstand ist das Wichtigste überhaupt! Wie kann dir das egal sein?«

      »Sprich nicht so laut, oder willst du gleich hier schon sterben?!« Am liebsten hätte Tomasz den Jungen geschüttelt, hätte ihn genommen und die ganze Naivität, den ganzen Idealismus und Leichtsinn aus ihm herausgeschüttelt. Die ganze Jugend, die es ihm so schwer machen würde zu überleben. »Wer sagt, dass es mir egal ist? Aber für alles gibt es eine Zeit. Und wenn du gerade in einem verdreckten Güterwaggon sitzt mit Bewaffneten rings um dich herum wie die Engelein um dein Bett, dann ist nicht die Zeit für Heldentum.« Auf diesen Jungen würde man aufpassen müssen, Gott im Himmel. Aber er, Tomasz, war nicht der Richtige dafür. Sicher nicht. »Was hast du in Warschau gemacht, als sie dich geschnappt haben? Oder bist du schon in Lemberg gefangen worden?«

      »Nein, in Warschau. Ich habe einen Onkel dort, dem sollte ich Schuhe bringen, einen Koffer voll. Mein Vater ist Schuhmacher. Er wollte, dass mein Onkel die Schuhe in Warschau verkauft, weil es mehr bringt als zu Hause. Aber mein Onkel hatte keine Zeit, er arbeitet jetzt bei der Reichsbahn, beim Gleisbau. Deshalb bin ich selbst mit dem Koffer zum Kercelak gegangen, und da haben sie mich erwischt.« Er zog die Beine eng zu sich heran und umschlang sie mit den Armen. Genauso, dachte Tomasz, hat er bestimmt am Lagerfeuer gesessen, als er noch bei den Pfadfindern war, hat romantische Lieder gesungen und von Heimat und Heldentum geträumt.

      »… wenn ich mich nur besser ausgekannt hätte, wäre ich abgehauen – in irgendeine Seitenstraße hinein, und zack! Ich wäre garantiert entkommen, garantiert.«

      »Oder tot«, sagte Tomasz trocken. »In Warschau schießen sie auf Leute, die bei einer Razzia flüchten. Ist in Lemberg vielleicht anders.«

      »Mein Freund Frantek …« Die Stimme war ganz leise, kaum noch zu hören jetzt. »Sie haben ihn erschossen, als er abends noch kurz mit dem Fahrrad zum Bäcker fahren wollte. Einfach so. Und das Fahrrad haben sie mitgenommen.«

      »Es tut mir leid.« Tomasz suchte nach tröstenden Worten. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie leid mir das tut. Und deshalb musst du alles versuchen, lebend zurückzukommen, hörst du? Dass deine Eltern so etwas nicht erleben müssen. Du musst so unauffällig sein wie möglich, tun, was sie dir sagen, gut arbeiten, einstecken. Und Deutsch sprechen, wenn es dir hilft. Davon, dass du’s nicht tust, geht der Krieg keinen Tag früher zu Ende.« Der Junge antwortete nicht. »Dein Vater ist Schuster, sagst du? Hast du bei ihm auch etwas gelernt? Warst du manchmal in der Werkstatt? Könnte nützlich sein.« Jan räusperte sich.

      »Die letzten zwei Jahre habe ich ihm geholfen … als ich nicht mehr zur Schule gehen konnte. Aber es hat mir keinen


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