P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner

P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben - Elsbeth Schneider-Schöner


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dass es für den Angehörigen eines Kulturvolkes unwürdig war, eine entkräftete Frau aus Langeweile zu schlagen, unwürdig und beschämend – da war der Augenblick schon vorbei und er mit der Frau in seinem Arm in die Lagerwelt eingetreten.

      Das Durchgangslager Bietigheim bestand aus zwei voneinander durch einen Zaun getrennten Bereichen, nämlich dem unreinen und dem reinen Bereich. Als Schleuse fungierte die sogenannte Entlausungsanlage. Sofort wurde die erste Gruppe in die Anlage hineingetrieben, während die anderen auf dem Appellplatz zu warten hatten, bis sie an der Reihe waren. Nur die wenigsten verstanden die auf Deutsch gebrüllten Anweisungen; die meisten hockten ergeben und apathisch auf dem Boden und ließen sich von den Wachen hin- und herschieben wie Gepäck.

      »Hätte nie gedacht, dass ich mich auf die Entlausung freuen würde«, presste Janek zwischen den Zähnen heraus, als er sich neben Tomasz in eine Schlange einreihte, um endlich die Ankunftsration – ein Stück Roggenbrot mit Margarine – in Empfang zu nehmen. Der Junge reagierte stärker auf das Ungeziefer als die meisten anderen; statt der üblichen roten Punkte und Quaddeln entwickelte er großflächige, übel aussehende Schwellungen, die noch dazu erbärmlich juckten und ihn in den Nächten kaum zur Ruhe kommen ließen. Mehrfach war Tomasz davon aufgewacht, dass der Junge sich im Halbschlaf kratzte wie verrückt, und hatte versucht, ihn davon abzuhalten. Er warf einen Blick auf die andere Seite, die reine Seite des Zauns. Es war nicht schwer zu erkennen, dass das Lager hoffnungslos überbelegt war, dass vermutlich auch im reinen Bereich überfüllte Baracken auf sie warteten, aus denen Läuse und Wanzen sich nicht vertreiben ließen, mochte man auch jeden Tag die Insassen samt deren Kleidung desinfizieren. Ermutigend klopfte er Jan auf die Schulter.

      »Geduld, Kleiner. Wenn wir erst hier raus sind, wird es besser.«

      Janek sah ihn aus verklebten Augen an. »Was denkst du, wie lange das dauern wird?«

      »Keine Ahnung. Aber ich glaube, die brauchen uns dringend zum Arbeiten, sonst hätten sie uns ja nicht hierhergeschleppt. Wahrscheinlich wollen sie uns so schnell hier durchschleusen wie möglich.«

      Weil jeder nur ein Stück Brot bekam, ging es zügig voran, fast waren sie schon an der Ausgabestelle angelangt. Viele hatten ihr Brot schon aufgegessen, wenn sie zu ihrem Platz zurückkehrten.

      »Ich habe eigentlich noch nie richtig gearbeitet …«

      »Haben sie dich nicht eingezogen?«

      »Doch, schon. Um die Arbeitspflicht kommt man nicht herum. Aber mein Vater kennt jemanden bei der Stadtverwaltung, der hat mir eine Aushilfsstelle gegeben, so dass ich wenigstens auf dem Papier etwas nachweisen konnte und eine Arbeitskarte hatte. Eigentlich hatte ich da aber nichts zu tun, sondern konnte anfangen, Altgriechisch zu lernen.«

      Altgriechisch, was zum Teufel!, dachte Tomasz. Was für eine Vorbereitung auf das Leben als Hilfsarbeiter unter Tage oder wo auch immer! Er riss seinen Brotkanten in zwei Teile und nahm sich vor, ein Stück davon für später zu verwahren und den Rest so langsam zu essen wie möglich.

      »Antreten, los, los!«

      Tomasz schreckte von seiner Pritsche hoch. Seit drei Tagen waren sie jetzt im Lager, und er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, ständig darauf gefasst zu sein, irgendeinem Befehl zu gehorchen. Ein Befehl rief die Deportierten in die Duschräume und hieß sie danach frierend und nackt darauf warten, dass ihre Kleidung aus der Entwesungsanlage kam, ein Befehl trieb sie durch die ärztliche Untersuchung, zum Lagerfotografen und zu der Stelle, wo ihre Fingerabdrücke genommen wurden wie von Kriminellen; ein Befehl klebte an der Ausländerkennkarte und erst recht an den fünf P-Abzeichen, die an der Kleidung anzubringen waren und jeden darüber informierten, dass der Träger ein polnischer Arbeiter war und somit jedem Deutschen zu Gehorsam und Demut verpflichtet. Tomasz besaß gar keine fünf Kleidungsstücke, um alle Abzeichen vorschriftsmäßig anzunähen; ein einziges hatte er an seiner eingelaufenen Jacke angebracht. Er zog sich die Schuhe an (noch ein, zwei Entwesungen, schätzte er, dann würden sie komplett auseinanderfallen) und lief mit den anderen Barackenbewohnern nach draußen auf den zentralen Platz. Niemand hielt sich freiwillig hier auf, denn von der Latrine, einem riesigen Loch in der Lagermitte mit Querpfählen darüber, auf denen man sitzen musste, um seine Notdurft zu verrichten, ging ein bestialischer Gestank aus, der Fliegen in großer Anzahl anzog. Wenigstens konnten sich auch die Lagerwärter, die entlang des Platzes Aufstellung bezogen hatten, dem Gestank nicht entziehen.

      »Antreten!«

      Sie stellten sich vor den Baracken auf wie befohlen; Tomasz schaffte es, sich neben Janek zu platzieren. Der Junge hatte in den letzten Tagen kaum ein Wort mit ihm gesprochen; die weißblonden Haare hingen strähnig um sein Gesicht, das immer noch von Ungezieferstichen angeschwollen war. Wieder und wieder hatte Tomasz versucht, ihn aufzumuntern und seinen Kampfgeist anzustacheln, aber Janek zog sich immer weiter in sich selbst zurück wie ein kleines Tier, das sich vor Feinden schützen will. Ein typisches Opfer, dachte Tomasz beunruhigt, ein Opfer, das durch seine Schwäche andere geradezu zu Gewalt einlädt.

      »So, Junge, es geht los!«, flüsterte er Janek zu und hoffte, dass seine Stimme sich ermutigend anhörte. Janek reagierte nicht. »Brust raus, Bauch rein, komm schon, du weißt doch, wie das geht! Und egal, was sie von dir wollen, du musst versuchen, es zu lernen. Je mehr du kannst und je besser du arbeitest, desto mehr werden sie dir zu fressen geben, glaub mir.«

      Janek sah ihn unsicher an. »Und du? Du hast doch studiert, hast du gesagt.«

      »Immerhin hatten meine Großeltern einen Hof, da habe ich früher jeden Sommer verbracht. Wenn mich einer danach fragt, ob ich Erfahrungen in der Landwirtschaft habe, dann sage ich Ja. Und du auch.«

      »Aber …«

      »Hier geht es nicht darum, die Wahrheit zu sagen oder fair zu sein oder edel. Es geht nur noch darum, lebend wieder rauszukommen, lebend, mit allen zehn Fingern und allen Zähnen und in der Lage, danach wieder ein normaler Mensch zu sein, verstehst du? Wenn sie dich fragen, ob du Deutsch kannst, dann sagst du Ja. Wenn sie dich fragen, ob du sensen und melken und dreschen kannst, dann sagst du Ja! Und wenn sie dich fragen, ob Hitler ein großer Mann ist und der gottgewollte Führer der Welt …«

      »Dann sage ich Ja?«

      Tomasz lachte leise und gab dem Jungen einen leichten Klaps.

      »Dann hältst du die Klappe. Vergiss nie, dass du ein Mensch bist, auch wenn sie versuchen, etwas anderes aus dir zu machen.«

      3

      Alles schien ruhig, selbst aus Hermanns Zimmer kam kein Geräusch. Wahrscheinlich war ihr Bruder mit seinen Pimpfen irgendwo unterwegs und sammelte Altmetall oder ließ sie marschieren und mit Schlagbällen auf Vogelscheuchen werfen, um sie so auf den Kampf mit der Handgranate vorzubereiten. Was früher nur notwendig oder sinnvoll gewesen war oder einfach Spaß gemacht hatte, hatte sich in einen Kampf für das Vaterland verwandelt, dachte Charlotte Voss – die Arbeit, die Freizeit, der Schlaf, so als lebte man in einem permanenten Belagerungszustand, in dem schon das Wort »Spaß« unanständig erschien. Sie lauschte noch einmal in die Diele hinaus, bevor sie Briefe und Zigaretten zuunterst in den Korb legte, zwei Äpfel dazupackte und alles mit einem Geschirrtuch abdeckte, um es vor neugierigen Blicken zu schützen. Dann knotete sie sich ein Kopftuch um, griff nach ihrer Jacke und verließ das Haus.

      Das Anwesen der Familie Voss war ein repräsentatives, mächtiges Gebäude, das mit seinen Stuckverzierungen und dem schmiedeeisernen Tor überhaupt nicht in das Ortsbild von Laifingen passte. Alle im Dorf wussten, dass Charlottes Mutter Erika aus einer Fabrikantenfamilie stammte und sich schlicht geweigert hatte, in die Dachgeschosswohnung der Schule zu ziehen wie die früheren Oberlehrer. Stattdessen hatte sie ihr umfangreiches Erbe eingesetzt und gemeinsam mit ihrem Mann Arnold dieses Haus bauen lassen, sobald sich abgezeichnet hatte, dass sie die nächsten Jahrzehnte in dem Ort wohnen würden. Wo ursprünglich eine pingelig gestutzte Rasenfläche mit Rosenlaube und Blumenrondell demonstriert hatte, dass hier jemand Besseres wohnte, erstreckten sich seit diesem Frühjahr bescheidene Gemüsebeete mit Karotten, Buschbohnen, Zwiebeln und Salat. Charlottes Vater hatte selbst mit Hand angelegt, um den Boden umzugraben und mehrere Schubkarren voll Mist einzuarbeiten,


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