P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner

P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben - Elsbeth Schneider-Schöner


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und ließ ihn in ihrem Korb verschwinden. »Ich wünschte, Joachim wäre schon wieder zurück aus Warschau«, sagte sie.

      Eva sah sie mitfühlend an. »Hast du so große Angst um ihn?«

      »Nein. Aber es ist so schrecklich langweilig hier! Nur noch alte Leute, Frauen und Kinder! Niemand mehr da, mit dem man tanzen oder wenigstens mal ins Kino gehen könnte!«

      Eva kicherte und gab Charlotte einen freundschaftlichen Knuff. »Du kannst ja Hermann oder einen von seinen Pimpfen fragen, die gehen bestimmt liebend gern mit. Wenn du sie einlädst!«

      »So weit kommt’s noch!« Charlotte lehnte sich zurück und genoss die Abendsonne auf ihrem Gesicht. »Hermann war schon immer eine grauenhafte Nervensäge. Schon immer. Aber seit er Fähnleinführer geworden ist und meine Eltern ihm diese Uniform gekauft haben, ist er vollständig unerträglich.«

      Vom Dorf her waren die Glocken zu hören: fünf Uhr. Eva stand auf und klopfte sich den Sand vom Rock. »Ich muss gehen. Bei uns gibt’s Bratkartoffeln heute Abend, willst du zum Essen kommen?«

      Charlotte schüttelte den Kopf, stand dann auch auf und reckte sich. »Geht nicht. Mein Vater will, dass ich ihm mit den Diktaten der Mittelklasse helfe. Wahrscheinlich wartet er schon sehnsüchtig, dass ich komme. Aber wir können wenigstens noch zusammen runterlaufen.«

      »Morgen gehen wir in die Johannisbeeren. Wenn du Zeit hast, kannst du ja dazukommen.« Kein Tag, an dem auf dem Fahrnerhof nicht irgendetwas gearbeitet werden musste. Es war bekannt, dass sie »schaffige Leute« waren – das größte Kompliment, das die Dorfgemeinschaft jemandem machen konnte. Im Vergleich dazu kam Charlotte sich oft träge und nutzlos vor. Aber Obst zu ernten und zu verarbeiten war eine der wenigen Arbeiten in Hof und Garten, die auch ihr Freude machten, und sie würde die Gelegenheit nutzen, ihre Zeit morgen zusammen mit Eva und deren Mutter zu verbringen statt bei sich zu Hause.

      Insgeheim war sie erleichtert, dass Joachim keinerlei Ehrgeiz zeigte, die Landwirtschaft seiner Eltern zu übernehmen, sondern alles darangesetzt hatte, als Kraftfahrer und Mechaniker Karriere zu machen. Bevor er in die Schule gekommen war, konnte er schon Fahrrad fahren, hatte dann später begeistert bei der Motorsportgruppe der HJ mitgemacht und war so früh wie möglich dem Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps in Tübingen und später als Kraftfahrer der Schutzstaffel beigetreten. Auch jetzt in Warschau bestanden seine Pflichten im Wesentlichen in Chauffeurdiensten für die höheren Chargen sowie in der Pflege und Wartung des Fuhrparks – das jedenfalls war es, wovon er schrieb. Wenn der Krieg erst zu Ende und er wieder zu Hause war, wollte er eine Reparaturwerkstatt aufmachen, am besten in Tübingen, wo auch Charlotte viele Möglichkeiten hätte, als Bürokraft oder in der Buchhaltung mitzuhelfen. Hauptsache, ihr stand keine Zukunft als Bäuerin bevor! Sollte Eva mit dem Mann, der sich früher oder später für sie finden würde, ruhig den Hof übernehmen, Charlotte gönnte es ihr von ganzem Herzen. Leider konnte sie mit Eva nicht darüber sprechen, da Joachim seine Eltern noch nicht in seine Pläne eingeweiht hatte. Der alte Fahrner rechnete felsenfest damit, dass sein zweiter Sohn nach dem Soldatentod des Ältesten in Russland den Hof übernehmen würde. Die Nachricht, dass Joachim sich sein Leben ganz anders vorstellte, würde die Familie wie ein Erdbeben erschüttern, da war sich Charlotte sicher.

      »Und du meinst, dein Vater ist zu Hause?«, fragte Eva, als sie eine halbe Stunde später vor dem Voss-Haus angekommen waren. »Dann komme ich noch kurz mit rein und entschuldige die Zwillinge für morgen.« Charlotte nestelte ihren Schlüssel heraus, öffnete und zog Eva hinter sich herein. Aus dem Wohnzimmer hörten sie gedämpfte Stimmen.

      »Da sind sie«, sagte Charlotte, ging voran über die Steinfliesen und trat in die Stube.

      »Aber Lotti, wo warst du so lange?«, ertönte die tadelnde Stimme ihrer Mutter. Dann erst hatte sie Eva entdeckt. »Oh, Eva, schön, dich zu sehen.«

      »Guten Abend«, murmelte Eva und blieb an der Schwelle stehen, aber Arnold Voss war schon aufgesprungen und reckte die rechte Hand.

      »Heil Hitler, Mädchen! Nur herein! Und, wie geht’s zu Haus? Was macht der tapfere Kraftfahrer?« Charlottes Vater war ein stattlicher Mann, dem schon Dutzende kichernder Schulmädchen eine gewisse Ähnlichkeit mit Hans Albers nachgesagt hatten. Er leitete die Dorfschule und hatte alle Laifinger Kinder schon unterrichtet. Jetzt stand er vor Eva und wartete auf eine Antwort, als wäre sie eine Zehnjährige, die ihre Aufgaben nicht gemacht hat.

      »Danke der Nachfrage«, sagte sie endlich. »Aber Charlotte weiß es besser als ich, sie hat heute einen Brief bekommen. Joachim ist immer noch in Warschau und betreut dort die Kraftwagenflotte. Wir hoffen sehr, dass sie ihn nicht zu den kämpfenden Truppen an die Front schicken.«

      »Jeder nach seinen Fähigkeiten, Eva! Der Endsieg für Deutschland wird schließlich nicht nur mit der Waffe in der Hand erkämpft. Wenn auch unser Hermann darauf brennt, dass er endlich einrücken kann und sie ihm ein Gewehr in die Hand geben.« Bei diesen Worten ließ Erika Voss ihren Stopfpilz in den Schoß sinken und sah auf.

      »Du musst es doch nicht auch noch beschwören, Arnold!«, tadelte sie. »Manchmal glaube ich, wenn du nicht immer davon sprechen würdest, dann hätte der Junge niemals solche Flausen im Kopf!«

      »Flausen? Seit wann sind das Flausen, wenn ein deutscher Junge für sein Vaterland kämpfen will?«

      »Er ist doch erst sechzehn, Arnold. Unser einziger Sohn.«

      »Eben deshalb! Wenn wir nicht bereit sind, das Beste zu geben, was wir haben, wie soll dann Deutschland …«

      »Eva will noch ihre Brüder entschuldigen«, unterbrach Charlotte. »Sie sind krank.«

      Arnold Voss wandte sich wieder den Mädchen zu. »Was Ernstes?«

      »Nein, Herr Voss, nur eine Magenverstimmung … Aber morgen sind sie bestimmt noch nicht so weit, dass sie wieder zur Schule kommen können.«

      Er nickte. »Gut, ich weiß Bescheid. Sag einen lieben Gruß zu Hause, Eva, ja? Und komm gut heim! Heil Hitler!«

      Charlotte schob Eva energisch aus dem Wohnzimmer in die Diele und schloss die Zimmertür.

      »Jeden Tag, sag ich dir. Jeden Tag muss ich mir das anhören. Hermann, seine Gesundheit, seine schulischen Leistungen, seine Berufsaussichten und jetzt eben seine Zukunft bei der Wehrmacht – als ob es nichts anderes gäbe, über das sie reden könnten!«

      »Will Hermann wirklich an die Front?«, fragte Eva.

      Charlotte verzog das Gesicht. »Na klar. Erst mal weg von zu Hause und dann zeigen, was für ein toller Kerl er doch ist. Aber wer will schon wissen, was Hermann will! Ich jedenfalls nicht.« Eva zuckte mit den Schultern.

      »Ich muss los!«

      »Bis morgen dann, Eva!« Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, blieb Charlotte noch ein paar Augenblicke im schummrigen Flur stehen. Irgendwo draußen krähte ein Hahn. Aus der Stube kam immer noch Arnold Voss’ Stimme.

      »… solche Jungen wie Hermann sind es doch, die der Führer meint! Mutig, intelligent, pflichtbewusst, deutschnational erzogen …«

      Charlotte holte die Briefe heraus und drückte sie an ihre Brust. Komm gesund zurück!, murmelte sie. Bitte, komm bald zurück!

      4

      Familie Fahrner bewohnte einen der Höfe im alten Ortskern, ein Fachwerkhaus, das in den vergangenen vierhundert Jahren immer wieder aus- und umgebaut worden war – Zwerchgiebel waren aufgesetzt, das Dach angehoben, eine Hopfendarre angebaut worden; zuletzt hatte Evas Großvater Gotthold kurz nach der Jahrhundertwende sein Haus an die neue Wasserleitung anschließen und elektrisches Licht legen lassen. Ihre Mutter hatte sich jahrelang einen modernen elektrischen Herd gewünscht, aber dafür war nie genug Geld da gewesen. Jahrhunderte der Realteilung hatten den Landbesitz auf wenige Hektar schrumpfen lassen, die in der ganzen Gemarkung verstreut waren und nur wenig mehr abwarfen, als für den Bedarf der eigenen Familie nötig war; die Wirtschaftsgebäude – Scheune, Kuhstall, Schweinestall, Hühnerhaus, gemauerter Backofen – gruppierten sich um den ungepflasterten Hof, in


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