P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner
Berlin besuchen, Rom, Paris … Brennend gern würde sie auch selbst fahren lernen. Joachim hatte schon angeboten, es ihr beizubringen, aber natürlich waren ihre Eltern dagegen gewesen, die deutsche Frau und so weiter. Sie seufzte und faltete das Blatt auf, dessen Text sie inzwischen fast auswendig konnte.
»Mein liebes Lottchen, ich liege hier in meiner Koje und denke daran, wie schön es wäre, dich hier bei mir zu haben und dein süßes Mäulchen und noch mehr zu küssen! Aber das müssen wir wohl aufschieben bis zum nächsten Heimaturlaub. Ich habe hier mit drei anderen Jungs von der Sipo eine kleine Wohnung mit zwei (!) Stuben, eine zum Schlafen und eine zum Wohnen. Es ist zwar eng und einfach, könnte aber schlimmer sein, schließlich haben wir Krieg!«
Daneben hatte er ein paar Bildchen gezeichnet, die seine Kameraden darstellen sollten: Einer davon hatte furchtbar abstehende Ohren, ein anderer schielte. Joachim hatte immer schon eine gute Hand fürs Zeichnen gehabt, auch wenn er sich in den letzten Jahren meistens auf irgendwelche technischen Dinge konzentriert hatte. Aber Charlotte konnte sich noch gut an ein paar ziemlich freche Karikaturen ihres eigenen Vaters erinnern, auf denen der Oberlehrer wie ein aufgeplusterter Gockel vor einer vollgekritzelten Tafel hin und her stolziert war.
»An der Front sieht’s viel übler aus. Wir Deutschen haben hier in Warschau ein Stadtviertel für uns, und das ist ein Segen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie heruntergekommen und dreckig die Leute hier sind, Männer wie Frauen! Auf den Straßen fühlt man sich oft seines Lebens nicht mehr sicher. Außerhalb des Dienstes kommen wir aber kaum mit ihnen zusammen. Wir essen gutes deutsches Essen in unserer eigenen Kantine, haben unsere eigenen Kneipen und Kinos und natürlich die Kameradschaftsabende. Aber du kannst dir sicher vorstellen, um wie viel lieber ich mit dir zusammen wäre! Richtig zusammen!!! Wie dumm waren wir, dass wir so lange gewartet haben! Schon der Gedanke daran lässt es bei mir jucken und zucken! Bist du auch brav, mein Frauchen, und wartest auf mich?…«
Das »richtig« war so fett unterstrichen, dass sie es nicht missverstehen konnte, ebenso wie die vielen Ausrufezeichen. Charlotte faltete den Brief wieder zusammen und legte ihn zurück in den Korb. Sie hatte Eva ein bisschen daraus vorgelesen, aber vieles lieber auch nicht. Eva musste nicht unbedingt mitkriegen, wie Joachim von den Erfahrungen schwärmte, die er an dem besagten Abend gemacht hatte. Der neue Brief knisterte in ihren Händen; sie hielt ihn kurz an die Nase und roch daran. Wenn überhaupt, dann meinte sie, eine leichte Spur Motoröl zu riechen – Joachim war nicht der romantische Typ, der seine Briefe parfümierte.
»Mein kleines Mädle, du fragst mich nach Warschau.«
Nachdem sie erfahren hatte, dass Joachim in Warschau war, hatte sie gleich auf der großen Europakarte im Flur nachgeschaut, auf der ihr Vater – wie er es auch in der Schule tat – mit verschiedenfarbenen Stecknadeln den Verlauf der Front markierte. Für den Osten benutzte er Weiß. Wegen der langen Winter, hatte er erklärt. Der viele Schnee! Immerhin war die weiße Linie beruhigend weit von Warschau entfernt, als dass sie hätte befürchten müssen, Joachim könnte gleich in Kämpfe verwickelt werden.
»Warschau ist eine große Stadt, viel größer als unser Stuttgart. Die Weichsel fließt mittendurch. Wir haben sogar schon darin gebadet, es war hundekalt! Es gibt eine Altstadt mit einem Markt, ein paar Parks sowie große Straßen mit mehrstöckigen Häusern daran, alles verlottert und heruntergekommen.«
Auf der Skizze daneben sah es allerdings ganz hübsch aus, schöne alte Häuser, eine Art Schloss und davor ein Brunnen.
»Besonders in den Vororten, aber auch im Zentrum ist von vielen Gebäuden nur noch ein Trümmerhaufen übrig – da haben die Jungs von der Luftwaffe ganze Arbeit geleistet!«
Es knackte im Gebüsch, und Charlotte sah hoch.
»Eva! Ich hatte schon gedacht, du kommst nicht mehr!«
Eva lachte leise. Sie war nur ein paar Monate jünger als Charlotte, wirkte aber noch wie eine Vierzehnjährige – ein schmales Mädchen mit blonden Zöpfen und einem Kindergesicht, dessen zartem Körperbau man nicht ansehen konnte, dass es ein Bauernkind war und schwere körperliche Arbeit gewohnt. Eva streckte die Nase in die Luft und schnüffelte.
»Puh, hier stinkt’s! Hast du geraucht?«
Charlotte nickte. »Willst du auch eine?«
»Igitt, nein! Außerdem würde ich einen Mordsärger zu Hause kriegen, wenn die mich mit einer Zigarette erwischen.«
»Na, ich doch auch. Deshalb mache ich es ja.« Sie klopfte neben sich auf den Boden. »Setz dich hierhin, ist noch ganz warm.«
Eva ließ sich nieder und kreuzte die Beine. »Fast wäre ich nicht mehr weggekommen … Die Zwillinge sind krank, haben irgendetwas Verkehrtes gegessen. Den ganzen Tag schon putze ich hinter ihnen her.«
Hans und Emil waren die Nachkömmlinge im Hause Fahrner; als sie gezeugt worden waren, war ihre Mutter schon zweiundvierzig Jahre alt gewesen und hatte vermutlich nicht mehr damit gerechnet. Anfangs hatte es nicht so ausgesehen, als ob auch nur einer der beiden winzigen Säuglinge die ersten Lebenswochen überstehen würde, aber sie hatten sich verbissen an das Leben geklammert und die kritische Phase überstanden. Auch an der Bäuerin hatte die späte Schwangerschaft gezehrt. Nach der schwierigen Entbindung hatte sie wochenlang im Bett gelegen und war seitdem nicht wieder richtig auf die Beine gekommen, so dass der damals zwölfjährigen Eva ganz natürlich die Aufgabe zugefallen war, sich um die Kleinen zu kümmern. Sie liebte ihre kleinen Brüder abgöttisch, obwohl sie ein Grund dafür waren, dass sie selbst immer hatte zurückstecken müssen. Eva reckte ihr Gesicht in die Sonne und schloss die Augen.
»Joachim hat geschrieben«, sagte Charlotte.
Mit einem Ruck war Eva wieder munter. »Dir schreibt er viel häufiger als uns. Meine Mutter ist schon ganz traurig deswegen.«
»Vielleicht sind meine Briefe interessanter?«
Eva zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Mutter schreibt ihm wirklich jeden Tag, und so viel Neues gibt es von uns gar nicht zu berichten. Was steht denn drin? Lies vor!«
Charlotte überflog noch einmal die ersten Zeilen.
»Er ist in Warschau, aber das weißt du ja. Vieles ist während der Belagerung kaputtgegangen, aber trotzdem scheint es nicht so schlecht dort zu sein. Auf jeden Fall interessant: Auf den Straßen herrscht ein unbeschreibliches Durcheinander. An jeder Ecke hat jemand einen Stand aufgebaut und verkauft seinen Kram: alte Kleider, Blumentöpfe, kaputte Möbel, Kohl, was du dir nur denken kannst! Dazu schreien sie herum in dieser schrecklichen Sprache, die kein normaler Mensch verstehen kann. Und überall wird geschachert und gefeilscht. An diesem Geschacher merkt man schnell, wie verjudet diese ganze Gesellschaft hier ist! Kraftwagen gibt es nur die, die wir selbst mitgebracht haben. Ein paar Polacken fahren mit Pferdedroschken durch die Stadt, andere verdienen sich ein paar Złoty damit, Leute mit Fahrradrikschas durch die Gegend zu kutschieren.«
Von diesem eigenartigen Gefährt hatte Joachim wieder eine Skizze angefertigt. Charlotte zeigte Eva das Bildchen, wobei sie gut darauf achtete, dass sie den übrigen Text dabei mit der Hand verdeckte.
»Wie die schlitzäugigen Kulis in China, und genauso gerissen! Ich habe mich auch schon mal rumfahren lassen, nur so zum Spaß, und natürlich hat dieser Gauner versucht, mich dabei übers Ohr zu hauen … aber nicht mit mir! Du kannst dir vorstellen, dass der Kerl sich in Zukunft zweimal überlegen wird, sich mit einem deutschen SiPo anzulegen.«
»Und weiter?«
Charlotte überflog den restlichen Brief. »Was dann kommt, ist persönlich.«
»Ach so.« Eva schlang die Arme um die aufgestellten Knie. »Was meint er wohl mit dem, was er zum Schluss geschrieben hat? Das mit diesem Rikschafahrer?«
»Weiß auch nicht. Vermutlich hat er sich einfach geärgert und dem Kerl ordentlich den Marsch geblasen. Der Pole ist feige, sagt mein Vater zumindest immer. Wenn man den einmal anbrüllt, kuscht er.«
»Na ja. Brüllen kann Joachim jedenfalls, das weiß ich. Und zulangen auch. Die Zwillinge