Hinter der Tür. Giorgio Bassani

Hinter der Tür - Giorgio  Bassani


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als eine Welt, in die man keineswegs, zu begeisterter Mitarbeit bereit, sich einzufügen suchte, sondern die man sabotierte und schlechtmachte, wo man nur konnte. Wie gut verstand ich jetzt den Geist anarchischer Verachtung, den ich immer schon in der Grundschule mit furchtsamem Schaudern aus dem Hintergrund des Klassenzimmers hatte wehen spüren!

      Ich sah mich in der Klasse um und lehnte ab: alle und alles. Die Mädchen in ihren unvorteilhaften schwarzen Schulschürzen zählten als Frauen überhaupt nicht. Die vier auf den beiden ersten Bänken (sie kamen aus der ›Fünf a‹) waren lächerlich klein und schienen mit ihren dünnen Zöpfen, die ihnen auf den schmächtigen Rücken herabhingen, geradewegs aus dem Kindergarten zu kommen. Wie hießen sie doch? Ihre Familiennamen endeten jedenfalls alle auf. ›-ini‹, so ähnlich wie Bergamini, Bolognini, Santini, Scanavini, Zaccarini; Namen, die allein durch ihren Klang an Familien des allerkleinsten Bürgertums erinnerten, an die Inhaber von Kurzwaren- oder Lebensmittelgeschäften, an Buchdrucker, städtische Angestellte, Vertreter und dergleichen mehr. Die beiden auf der dritten Bank, die Cavicchi und die Gabrieli – die erste schrecklich dick, die zweite so dünn, daß man beinahe durch sie hindurchsehen konnte, mit einem Gesicht voller Pusteln, von verwaschenem Ausdruck, dem Gesicht einer unverheirateten Dreißigjährigen –, waren allein von dem Dutzend Mädchen aus der ›Fünf b‹ übriggeblieben. Es waren gewiß die beiden häßlichsten – zwei farblose, geschlechtslose Büfflerinnen, die einmal Apothekerin oder Lehrerin werden sollten und so unpersönlich wie Dinge, wie bloße Gegenstände anzusehen waren. Die letzten auf der vierten und fünften Bank – die Balboni und Jovine auf der vierten, die Manoja allein auf der fünften – kamen von außerhalb: die Balboni vom Lande (man sah es – die Ärmste! – nur allzu gut an ihrer Kleidung; ihre Mutter war Dorfschneiderin und – was lag näher? – schneiderte die Kleider für sie); die Jovine aus Potenza und die Manoja aus Viterbo, vermutlich Töchter von Beamten der Provinzialverwaltung oder Staatsbahn, die wegen besonderer Verdienste nach Oberitalien versetzt worden waren. Es war schon ein rechtes Elend! Mußten Frauen, wenn sie es mit dem Studium ernst nahmen, wirklich so sein: Betschwestern ähneln, geduckt und farblos (übrigens waren sie auch nicht besonders gut gewaschen, diese Mumien, nach dem Mief zu urteilen, den sie ausströmten!), während man Schönheiten wie die Legnani und die Bertoni zum Beispiel, die beiden Vamps aus der ›Fünf b‹, immer erbarmungslos durchfallen ließ? Nur machten die sich nicht viel daraus. Die Legnani stand im Begriff zu heiraten, wenn nicht alles trog; und konnte man sich vielleicht vorstellen, daß die Bertoni, mit ihrer Wespentaille, ihrer schwarzen, glänzenden Fransenfrisur und den verschmitzt dreinblickenden Augen (im Stil der Elsa Merlini) die fünfte Klasse wiederholt hätte? Sie war ganz der Mensch, nach Rom zu verschwinden und zum Film zu gehen, wie sie uns so oft erklärt hatte, jedenfalls alles andere eher zu tun, als hierzubleiben und hinter der Tür des Gymnasiums zu versauern!

      Aber hauptsächlich richtete sich meine Kritik gegen die männlichen Mitschüler, besonders gegen die in den Bänken der mittleren Reihe, die sich dem Katheder gegenüber befand. Da vorn, in der ersten und zweiten Bank, hatte die alte ›Fünf a‹ gleich drei der Ihren placieren können: Boldini, Grassi und Droghetti, dazwischen Florestano Donadio von der ›Fünf b‹, der auf der zweiten Bank neben Droghetti saß, nur wie ein geduldeter Gast wirkte, dürftig wie er in allem war, in geistiger, körperlicher und überhaupt in jeder Beziehung. Mit Droghetti, dem Sohn eines Kavallerieoffiziers, einem Jungen von ebenso untadeligem wie geistlosem Aussehen, das ihn, wie man schwören mochte, dazu bestimmte, die Laufbahn seines Vaters einzuschlagen, war zwar gewiß nicht viel los. Aber die beiden auf der vorderen Bank, Boldini und Grassi, die zu den Besten der a-Klasse gehörten, stellten zusammen eine Großmacht dar, der sich der blonde, kleine und rosige Donadio, dieses ängstliche Vögelchen, das er von jeher gewesen war, als tributpflichtiger Vasall geradezu anbot. Auf der dritten Bank saß wieder ein schlecht zusammengestelltes Paar: Giovannini von der ›Fünf b‹ und Camurri von der ›Fünf a‹. Nicht, daß Giovannini weniger tüchtig gewesen wäre als sein Nachbar, da es doch der gute Walter trotz seiner ländlichen Herkunft sogar fertigbrachte, sich in der Schriftsprache auszudrücken. Aber Camurri war ein Herr – häßlich, kurzsichtig, bigott, aber ein Herr. Seine Familie (die Camurri aus der Via Carlo Mayr – wer kannte sie nicht?) gehörte zu den reichsten der Stadt. Sie besaß Hunderte Hektar Land in der Gegend von Codigoro, aus der Walter kam, so daß es keineswegs ausgeschlossen war, daß Walters Vater oder Großvater früher, ja, vielleicht noch jetzt im Dienst der Familie Camurri stand … In der vierten Bank aber saß, allein, wer weiß, warum – vielleicht um anzudeuten, daß niemand soviel Verdienste aufwies, um neben ihm sitzen zu dürfen –, Cattolica, Carlo Cattolica, der schon von der ersten Gymnasialklasse an der unbestrittene Star der a-Klassen gewesen war (regelmäßig acht oder neun von zehn Punkten in sämtlichen Fächern). Man sah es ihnen nicht an – aber über die getreuen Camurri und Droghetti, die mit gebeugten Rücken vor ihm saßen, würde es für Cattolica in jeder Lage ein Kinderspiel sein, sich mit den nicht minder getreuen Boldini und Grassi in der ersten Bank in Verbindung zu setzen. Das würde man bald merken bei den Klassenarbeiten in Latein und Griechisch, und wie! Die Nachrichtenverbindung zwischen der vierten und ersten Bank würde so gut funktionieren, als ob die von der ›Fünf a‹ über ein Feldtelefon verfügten.

      Hinter Cattolica saßen zwei von uns: Mazzanti und Malagù, beide ziemliche Nullen. Rechts neben mir saßen, tief über die Bank gebeugt, um sich zu verstecken und den forschenden Blicken des Professors hinter dem Katheder zu entgehen, Veronesi und Danieli. Veronesi war mindestens zwanzig Jahre alt, Danieli noch älter, sie waren daran gewöhnt, jede Klasse wiederholen zu müssen, alte Faulpelze, die nicht einmal zum Sport taugten und sich nur auf einem einzigen Gebiet auskannten: dem der Freudenhäuser der Stadt, in denen sie seit Jahren zu den eifrigsten Stammgästen zählten.

      Wenn nun die Plätze in der Bankreihe der Tafel gegenüber und neben der Tür auch ein wenig besser besetzt waren (in der zweiten Bank war Giorgio Selmi neben Chieregatti gelandet, in der dritten war es Ballerini wieder gelungen, neben Giovanardi, von dem er unzertrennlich war, Platz zu finden), wie hätte ich mich wohl damit abfinden können, auf der vierten Bank neben Lattuga zu sitzen, Aldo Lattuga, diesem infamen Stinker, der von allen gemieden und verspottet wurde und bei dem sich in den unteren Klassen selten jemand bereit gefunden hatte, die Bank mit ihm zu teilen, und der nun auch hier wie Cattolica – selbst wenn aus genau entgegengesetzten Gründen – allein geblieben war? Nein und noch mal nein!, sagte ich mir. Dann besser auf meinem einsamen Platz bleiben, den ich mir auf der hintersten Bank in der Reihe der Mädchenplätze gesucht hatte. Professor Bianchi hatte den Italienischunterricht mit dem Vortrag einer Kanzone Dantes begonnen, und ein Vers daraus hatte mich merkwürdig angerührt: »Die Verbannung, die mir zuteil ward, rechne ich mir zur Ehre an.« Das könnte mein Wahlspruch sein, dachte ich.

      Eines Tages blickte ich zerstreut durch das hohe Fenster links von mir auf den tristen, von hungrigen Katzen bevölkerten Hof, der das Guarini-Gymnasium, das sich im Gebäude eines ehemaligen Klosters befand, von der Seitenwand der Kirche del Gesù trennte. Ich dachte, daß es eigentlich schön gewesen wäre, wenn mich zum Beispiel Giorgio Selmi, der mir im Grunde immer sehr sympathisch gewesen war, von sich aus am ersten Schultag gebeten hätte, mich zu ihm zu setzen. Selmi war Vollwaise und wohnte mit seinem Bruder Luigi zusammen bei einem Onkel väterlicherseits, dem Rechtsanwalt Armando, einem mürrischen Junggesellen, der sich den Sechzig näherte und der nur auf die Stunde wartete, da er seine Neffen los wurde, wenn er den einen auf die Militärakademie in Modena und den anderen auf die Marineakademie in Livorno schicken konnte. Wie kam es, daß sich Giorgio lieber mit diesem stumpfsinnigen Büffler Chieregatti zusammensetzte als mit mir? Die Wohnung seines Onkels an der Piazza Sacrati (eine Anwaltskanzlei mit einigen dazugehörigen Wohnräumen) war sicherlich nicht besonders geeignet, um dort gemeinsam Schularbeiten zu machen, wenn es zutraf – und es traf wohl zu –, daß Giorgio in seinem Schlafzimmer lernen mußte, einem Kämmerchen von drei mal vier Metern. Bei mir zu Hause hingegen hätten wir so viel Raum gehabt, wie wir nur brauchten. In meinem Arbeitszimmer gab es Platz genug für mich, ihn und jeden, den wir noch in unsere Gemeinschaft aufnehmen wollten. Und was für einen prächtigen Imbiß, mit Tee, Butter und Marmelade als Grundlage, hätte uns meine Mutter um fünf Uhr bereitet, da sie so froh darüber war, daß ich jetzt den Nachmittag stets zu Hause und nicht wie früher bei den Fortis verbrachte. Es war wirklich schade, daß sich Giorgio Selmi nicht zu mir gesetzt hatte. Nur Eifersucht und Mißgunst konnten ihn davon abgehalten


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