Hinter der Tür. Giorgio Bassani
hatte es ganz und gar nichts zu tun.
»Sss!«
Ein leiser Pfiff von rechts ließ mich zusammenfahren. Mit einem Ruck wandte ich mich zur Seite. Es war Veronesi. Geduckt hinter dem Rücken Mazzantis forderte er mich mit ausgestrecktem Zeigefinger auf – es war ein dünner, unwahrscheinlich nikotinverfärbter Finger –, nach vorn zu blicken. Was ich denn mache, schien er mich, halb belustigt, halb besorgt, fragen zu wollen. Wo meinte ich wohl zu sein, ich närrischer Kauz, für den, wenn nicht für Schlimmeres, er mich hielt!
Ich blickte auf. In der vollkommenen Stille, kaum unterbrochen durch ein halb unterdrücktes Lachen, waren alle Gesichter mir zugewandt. Auch Professor Guzzo fixierte mich vom Katheder aus mit einem ironischen Lächeln.
»Endlich!« bemerkte er mit sanfter Stimme.
Ich stand auf.
»Sie heißen?«
Ich stammelte leise meinen Namen.
Guzzo war für seine Bosheit berüchtigt; sie grenzte an Sadismus. Er war ein Mann um die fünfzig, hochgewachsen, von herkulischer Kraft, mit großen, blitzenden Augen – von smaragdgrüner Farbe mit braunen Flecken, wie die Haut gewisser Eidechsen – unter einer gewaltigen Stirn (einer Wagnerstirn) und mit langen grauen Koteletten, die bis zur Mitte seiner hageren Wangen reichten. Im Guarini-Gymnasium galt er als eine Art Genie. (Die Worte auf der Gedenktafel für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, die sich unten im Treppenhaus so schön ausnahm, waren von ihm: ›Mors domavit corpora – Vicit mortem virtus: Der Tod bezwang die Körper – Die Tugend besiegte den Tod‹.) Er gehörte nicht der faschistischen Partei an, und nur deshalb – so sagten alle – hatte er nicht den Lehrstuhl an der Universität erhalten, für den ihn seine in Deutschland veröffentlichten philologischen Arbeiten gewiß legitimiert hätten.
»Wie bitte?« fragte er und hielt dabei seine Hand hinter das Ohr, während er sich so weit vorbeugte, daß er mit dem mächtigen Oberkörper das aufgeschlagene Klassenbuch berührte. »Sprechen Sie bitte lauter!«
Keine Frage: Es machte ihm Spaß. Er spielte Komödie.
Ich wiederholte meinen Namen.
Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf und blickte aufmerksam ins Klassenbuch. »Gut«, bemerkte er, während er eine geheimnisvolle Eintragung vornahm.
»Und jetzt erzählen Sie mir ein bißchen von sich«, fuhr er fort und lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück.
»Von mir?«
»Natürlich, von Ihnen. Kommen Sie aus der ›Fünf a‹ oder aus der ›Fünf b‹?«
»Aus der ›Fünf b‹.«
Er verzog den Mund.
»Also aus der ›Fünf b‹. Und wie haben Sie den Aufstieg hierher geschafft? Im ersten Anlauf, im Fluge oder – verzeihen Sie mein schlechtes Gedächtnis – erst in zweiter Instanz?«
»Ich habe die Prüfung in Mathematik im Oktober wiederholen müssen.«
»Nur in Mathematik?«
Ich bejahte.
»Tatsächlich? Haben Sie nicht doch vielleicht auch ein paar andere Fächer wiederholen müssen? Latein und Griechisch zum Beispiel?«
Ich verneinte.
»Ganz bestimmt nicht?« fragte er von neuem, mit katzenhafter Freundlichkeit.
Abermals verneinte ich.
»Nun hören Sie zu, mein lieber Freund, geben Sie gut acht … Ich möchte nicht, daß Sie im nächsten Sommer außer in Mathematik die Prüfung auch noch – quod deus avertat – in Latein und Griechisch wiederholen müssen – in drei Fächern … Sie verstehen mich doch, nicht wahr?«
Dann fragte er mich, wie ich mich bisher im Gymnasium durchgeschlagen hätte und ob ich nicht das eine oder andere Mal sitzengeblieben wäre. Aber er sah mich dabei nicht an, sondern blickte im Kreise umher, als ob er mir nicht traute und gern das spontane Zeugnis eines anderen gehört hätte.
»Er war immer einer der Besten«, wagte schließlich jemand zu sagen. Ich glaube, es war Pavani, in der ersten Bank der ersten Reihe.
»Ach, einer der Besten!« rief Professor Guzzo erstaunt aus. »Aber wie erklärt sich dann dieser Abstieg? Wieso ist es dazu gekommen?«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte auf die Bank, als könnte mir ihr schwärzliches altes Holz die von Professor Guzzo gewünschte Antwort verraten.
Dann hob ich wieder den Kopf. »Wieso?« fragte er unerbittlich von neuem. »Und aus welchem Grunde haben Sie sich dann eine solche Bank ausgesucht? Vielleicht, um in der Nähe des ausgezeichneten Veronesi und des nicht minder ausgezeichneten Danieli zu sitzen und statt von mir von ihnen die wahre Wissenschaft zu erfahren?«
Die Klasse brach in ein einstimmiges Gelächter aus. Selbst Veronesi und Danieli lachten, wenn auch mit weniger Begeisterung.
»Nein, glauben Sie mir«, fuhr Guzzo fort, und mit der großen Gebärde eines Dirigenten vor seinem Orchester bändigte er den Lärm. »Vor allem müssen Sie Ihren Platz wechseln.«
Er suchte, prüfte und traf seine Entscheidung.
»Dorthin, auf die vierte Bank. Neben diesen Herrn.« Er zeigte auf Cattolica.
»Wie heißen Sie?«
Cattolica stand auf.
»Carlo Cattolica«, erwiderte er schlicht.
»Oh, gut! Der berühmte Cattolica. Gut. Vorzüglich. Sie kommen aus der ›Fünf a‹, nicht wahr?«
»Ja, Herr Professor.«
»Schön. A mit b. Ausgezeichnet.«
Ich packte meine Bücher zusammen, trat in den Gang, erreichte meinen neuen Platz, unterwegs von einem Gehüstel Veronesis gegrüßt und bei der Ankunft mit einem Lächeln vom Star der alten ›Fünf a‹ empfangen.
»Geben Sie gut acht auf ihn, Cattolica«, sagte Guzzo. »Ich vertraue ihn Ihnen an. Führen Sie dieses verirrte Schäfchen auf den rechten Weg zurück.«
2
Ich weiß nicht, was in den 30 Jahren nach unserer Schulzeit aus Carlo Cattolica geworden ist.
Er ist der einzige meiner Schulkameraden, von dem ich nichts weiß: nicht, welchen Beruf er ergriffen hat, ob er geheiratet hat, wo er lebt, ja, ob er überhaupt noch lebt. Ich kann nur sagen, daß seine Familie 1933, nach seiner glänzend bestandenen Reifeprüfung, von Ferrara nach Turin umziehen mußte, wo sein Vater, der Ingenieur war (ein kahlköpfiges Männchen mit blauen Augen, leicht verrückt: Opernnarr und leidenschaftlicher Philatelist, übrigens vollkommen beherrscht von einem Feldwebel von Frau, einer Mathematikprofessorin, die ihn um Haupteslänge überragte), ganz unvermutet eine feste Stelle gefunden hatte, ich glaube bei einer Fabrik, die Lacke herstellte. Ob der junge Cattolica nun wirklich Chirurg geworden ist, wie er es schon damals, zu Beginn des Liceo, mit seiner üblichen Selbstsicherheit verkündet hatte? Und ob er wirklich das Mädchen geheiratet hat, das er allabendlich mit dem Fahrrad in Bondeno besuchte und mit dem er bereits seit mehr als einem Jahr verlobt war? (Hieß sie nicht Accolti, Graziella Accolti?) Selten ist einer Generation so übel mitgespielt worden wie der unseren; der Krieg und die übrigen Ereignisse haben so unendlich viele unserer Vorhaben und Lebenspläne zunichte gemacht, die nicht minder ernst gemeint waren als die von Carlo Cattolica. Und doch, irgend etwas sagt mir, daß er lebt und daß er, wie er es sich vorgenommen hatte, wirklich Chirurg geworden ist (wenn noch nicht berühmt, so im Begriff, es zu werden), auch daß er, obwohl er Ferrara noch als Junge verließ, letzten Endes doch noch seine Graziella geheiratet hat. Werden wir beide uns jemals wiedersehen? Wer weiß. Ich halte es immerhin für möglich. Aber nur Mut.
Ich sehe das Gesicht Cattolicas noch vor mir: sein klares Profil, rechts neben mir, von der Präzision einer Medaille. Er war groß und sehr schlank; seine funkelnden schwarzen Augen lagen tief unter