Die weiße Taube von Schloß Royal. Barbara Cartland

Die weiße Taube von Schloß Royal - Barbara Cartland


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wärst?«

      »Darauf läuft es wohl hinaus«, erwiderte Nina, »denn Mrs. Fontwell sagte, daß sie Miss Smith vorübergehend entläßt. Wenn ich die Räume in Ordnung hielte, würde der Lohn für ein Dienstmädchen eingespart.«

      »Etwas so Widerwärtiges habe ich noch nie gehört«, rief Christine wütend. »Das könntest du nicht ertragen, Nina. Wir wissen alle, wie sie Miss Smith behandelt.«

      Die beiden Mädchen dachten an die junge Lehrerin, die fortwährend Schwierigkeiten mit Mrs. Fontwell hatte und wie ein ängstliches Kaninchen vor ihr zitterte. Alles, was Miss Smith tat, war falsch. Sie wurde nur abgekanzelt und gescholten, bis sie schließlich allen Schülerinnen leid tat. Aber auch sie hatten Angst vor Mrs. Fontwell, die sie »den Drachen« nannten, und niemand war tapfer genug, Miss Smith beizustehen.

      Christine dachte, daß Nina, wenn sie an Miss Smiths Stelle träte, ebenfalls zu einer armseligen Kreatur werden würde, furchtsam und zitternd.

      »Darauf darfst du dich auf keinen Fall einlassen«, sagte sie bestimmt. »Und du mußt es dem Drachen sagen, bevor er die arme Miss Smith auf die Straße setzt.«

      »Das ist ein weiteres Problem, das mich aus der Fassung bringt«, sagte Nina mit schwacher Stimme. »Vor kurzem habe ich Miss Smith gefragt, warum sie die Schule nicht verläßt. Sie sagte, sie sei Waise und habe niemand, zu dem sie gehen könne. Sie ist überzeugt, daß ihr Mrs. Fontwell kein Zeugnis ausstellen wird, wenn sie versucht, eine andere Stelle zu bekommen.«

      »Diese Frau ist eine Tyrannin«, meinte Christine. »Aber auch wenn die arme Smith mit ihr auskommen muß, wirst du nicht unter solchen Bedingungen bleiben.«

      »Was bleibt mir anderes übrig?« fragte Nina niedergeschlagen.

      »Du begleitest mich.«

      Nina blickte verwundert zu Christine auf, und diese erklärte: »Deswegen bin ich hier. Ich verlasse die Schule.«

      »Jetzt? Sofort?« fragte Nina verwundert. »Aber das Schuljahr hat ja gerade erst angefangen.«

      »Ja, ich weiß. Aber was tätest du, wenn du einen beunruhigenden Brief wie ich erhalten hättest?« erwiderte Christine.

      »Oh, ich habe bloß von mir gesprochen. Erzähle, was dich bedrückt!« bat Nina.

      »Es bedrückt mich eigentlich nicht«, antwortete Christine, »ich wollte dich bitten, mir zu helfen. Ich stehe vor einem Problem, deines ist allerdings viel ernster. Ich beabsichtige, es an deiner Stelle zu lösen.«

      Über Ninas Gesicht ging ein leichtes Lächeln.

      »Du bist so gut zu mir. Aber ich will dir keinesfalls zur Last fallen.«

      »Das würdest du nie«, erwiderte Christine. »Doch laß mich zuerst einmal erzählen, warum ich die Schule verlasse. «

      Nina trocknete mit einem Taschentuch ihre Tränen. Dann setzten sich die beiden Mädchen einander gegenüber.

      Christine holte hörbar Luft, als wäre das, was sie zu sagen hätte, von größter Bedeutung.

      Dann begann sie: »Ich habe von meiner Stiefmutter einen Brief gekommen, in dem sie schreibt, daß Papa zum Gouverneur von Madras ernannt worden ist. Sie muß sofort abreisen, um ihm in Indien zur Seite zu stehen.«

      »Ich freue mich sehr für deinen Vater«, rief Nina. »Das ist bestimmt eine sehr bedeutende Stellung. Du mußt stolz auf ihn sein.«

      »Ich hätte mich mehr gefreut, wenn er mich vor einem Jahr mit nach Indien genommen hätte, wie ich es ihm vorgeschlagen habe. Jetzt ist es zu spät. Ich habe meine eigenen Pläne«, erwiderte Christine.

      Nina blickte überrascht drein.

      Ihre Freundin lachte leise.

      »In Indien zu leben wäre nicht so amüsant gewesen, wie es klingt. Meine Stiefmutter wird schon noch dahinterkommen.«

      Nina wußte, wie sehr Christine ihre Stiefmutter haßte. Sie war überzeugt, daß sie, seit sie Lord Lydford geheiratet hatte, ihn daran hinderte, zu seinem einzigen Kind liebevoll zu sein.

      Christine lächelte.

      »Ich weiß, du hast es nicht gern, wenn ich mich über meine Stiefmutter beschwere. Da sie nach Indien geht, hat sie Vorbereitungen getroffen, daß ich die Schule verlassen kann.«

      »Verlassen?« sagte Nina enttäuscht.

      Sie fürchtete, daß sie in der Zukunft einsam sein und ein völlig inhaltsloses Leben führen würde, denn zum Verlust des Vaters schien nun auch noch der der einzigen guten Freundin zu kommen.

      »Ich soll mit dem Marquis von Ventnor zusammenleben, gut behütet natürlich«, fuhr Christine fort.

      »Ist er ein Verwandter von dir?« fragte Nina.

      Christine lachte verächtlich.

      »Nicht nach dem Gesetz. Nein, er ist der neueste Liebhaber meiner Stiefmutter.«

      Im ersten Augenblick dachte Nina, sie habe Christine falsch verstanden.

      Sie sagte: »Ich begreife kein Wort.«

      »Das überrascht mich nicht. Mir ginge es genauso, wenn ich nicht erkannt hätte, was sich zwischen meiner Stiefmutter und dem Marquis abgespielt hat. Und außerdem hat Hannah herausgefunden, was sie mit mir vorhaben.«

      Hannah war, wie Nina wußte, Christines Zofe. Sie war schon bei ihr, als sie noch in den Windeln lag, und verhielt sich auch heute noch eher wie ein Kindermädchen als wie eine Zofe. Hannah betete Christine an, und ihr ganzes Leben drehte sich um sie.

      »Warum sollte der Marquis mit dir zusammenleben wollen?« fragte Nina.

      »Meine Stiefmutter erklärt das damit, daß es schwierig werde, für die Ferien einen geeigneten Aufenthaltsort zu finden, wenn sie so weit weg ist. Sie fühle sich viel wohler, wenn ich mit jemand unter einem Dach sei, dem sie vertraue.« Christines Stimme klang sarkastisch, als sie fortfuhr: »Ich hätte dann einen Freund, der darauf achtet, daß ich keine falschen Leute kennenlerne, sondern mich auf eine Weise unterhalte, die den Vorstellungen meines Vaters entspricht. Jeder wird denken, das sei ein ausgezeichneter Plan, weil der Marquis eine Anzahl wunderschöner Schlösser besitzt und ältere Verwandte hat, die mich mit dem größten Vergnügen beaufsichtigen würden, bis meine Stiefmutter und Papa nach England zurückgekehrt wären. Das ist aber nicht der wahre Grund all dieser Überlegungen«, erwiderte Christine. »Meine Stiefmutter hat die Absicht, mich mit dem Marquis zu verheiraten.«

      »Du hast doch gesagt, er sei ihr Liebhaber.«

      »Das ist er. Seit Weihnachten hat sie ein leidenschaftliches Liebesverhältnis mit ihm.«

      »Unglaublich«, sagte Nina schockiert.

      Da sie mit Vater und Mutter immer sehr zurückgezogen gelebt hatte, hatte sie keine Ahnung von dem unmoralischen Benehmen vieler Damen und Herren der Gesellschaft gehabt. Erst durch Christine erfuhr sie davon. Allerdings war sie überzeugt, daß ihre Freundin übertrieb, wie sie es oft tat. Wie war es möglich, daß Damen, die sich in höfischen Kreisen bewegten, ihren Männern untreu waren und so mancher Herr nichts dabei fand, mit der Frau seines Freundes ein Liebesverhältnis einzugehen? Wenn Christine Nina solche skandalösen Geschichten erzählte, klangen sie so verrückt, daß Nina glaubte, es handle sich um Erfindungen ihrer blühenden Phantasie. Jetzt sagte Nina mit leiser, aber energischer Stimme: »Liebste, ich bin überzeugt, daß du dich irrst. Wenn dich der Marquis heiraten will, kann er unmöglich ein Liebesverhältnis mit deiner Stiefmutter haben. Außerdem bist du zu jung zum Heiraten.«

      »In zwei Monaten werde ich siebzehn«, erwiderte Christine, »und dann will ich heiraten.«

      »Den Marquis?«

      »Nein, jemand ganz anderen! Ich habe dir noch nicht von ihm erzählt.«

      Ninas Augen weiteten sich.

      »Christine, ist das dein Ernst?«

      »Ich wollte dir schon davon berichten«,


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