Die weiße Taube von Schloß Royal. Barbara Cartland
verraten.«
»Ich muß aber«, entgegnete Christine. »Harry wird das einsehen.« Sie sah, daß Nina aufmerksam zuhörte, und fuhr fort: »Der Marquis steht in dem Ruf, der flotteste und unmoralischste Mann von ganz London zu sein. Er hat Dutzende von Affären mit schönen Frauen gehabt. Seit Jahren höre ich, daß die Leute über ihn schwatzen.«
»Sagen sie wirklich solche Dinge in deiner Gegenwart?« erkundigte sich Nina.
Christine lächelte.
»Natürlich nicht. Sie behandeln mich wie ein Kind.«
»Woher weißt du das dann?«
»Weil, liebste Nina, die Dienstboten immer Klatsch und Tratsch untereinander austauschen, als ob die Kinder taub seien. Und Diener wissen alles... Wichtiger ist allerdings, daß ich, wenn ich zu Hause bin, meine eigenen Methoden habe, um herauszufinden, was los ist.« Christine lächelte und fügte hinzu: »Ich weiß, du wirst damit nicht einverstanden sein, und deswegen habe ich es dir nicht früher gesagt, aber es gibt in unserem Schloß, das sehr alt ist, eine ganze Anzahl Räume, von denen aus man hören kann, was im Nachbarzimmer geschieht.«
»Du meinst, du hast gehorcht?« fragte Nina.
»Generationen von Lydfords müssen das vor mir getan haben«, erwiderte Christine zu ihrer Verteidigung. »Wenn Mama noch am Leben wäre, hätte ich es nicht getan. Aber wenn es um meine Stiefmutter geht, ist das etwas anderes.«
Als sie von ihrer Stiefmutter sprach, wurde ihre Stimme wieder schärfer.
Nina sagte: »Erzähl weiter, Christine.«
»Meine Stiefmutter ist in den Marquis verliebt, seit Papa nach Indien gereist ist. In der Regel hat sie Gesellschaften, wo sie ihn hätte treffen können, gemieden, ebenso welche auf Vent Royal, seinem Schloß in Hertfordshire. Aber wenn er bei uns war, gab es keinen Zweifel an ihren wechselseitigen Gefühlen.« Christine schwieg einen Augenblick, dann sagte sie leidenschaftlich: »Es macht mich krank zu wissen, daß sie sich in den Räumen küssen, die meiner Mutter gehört haben, während Papa weit weg ist.«
Anscheinend nahm sich Christine das alles sehr zu Herzen. Deshalb ergriff Nina ihre Hand und sagte: »Es tut mir leid, daß es dir so nahe geht, Liebste.«
Christine gab darauf keine Antwort, sondern fuhr fort: »Manches von dem, was sie gesagt haben, konnte ich nicht verstehen. Ein- oder zweimal fiel mein Name, aber nur beiläufig. Offenbar war es nichts Wichtiges.«
»Ich denke, du sollst den Marquis heiraten«, warf Nina ein.
»Das weiß ich von Hannah. Heute morgen, als der Brief meiner Stiefmutter ankam, hat sie mir von dem Komplott berichtet. Mit Hannah spreche ich über alles, wie du weißt.«
Nina nickte.
»Ich habe ihr erzählt, daß meine Stiefmutter möchte, daß ich bei dem Marquis wohne, und daß sie schon die entsprechenden Vorbereitungen getroffen hat. Daraufhin rief sie: ,Was mir Miss Parsons in den vergangenen Ferien gesagt hat, ist also wahr, und ich dachte, sie erlaube sich einen Scherz mit mir.'«
»Weiß sie noch mehr über diesen Plan?« fragte Nina.
»Ja. Ich soll bei dem Marquis wohnen und ihn später, wenn ich älter geworden bin, heiraten.«
»Was für ein Interesse sollte deine Stiefmutter daran haben, daß du ihn heiratest?«
»Überlege einmal, was sie sich dabei gedacht haben könnte!« erwiderte Christine. »Für den Fall, daß er eine junge, nachgiebige, arglose Frau sucht, wer eignet sich dann besser als ein sechzehnjähriges Mädchen, das keine Ahnung vom Leben hat? Hannah hat mir erzählt, daß Miss Parsons, die Zofe meiner Stiefmutter, ihr davon berichtet habe, daß der Marquis zu seinen engen Freunden immer wieder sagt, er werde nie eine Frau heiraten, die so untreu ist wie eine von den Damen, mit denen er befreundet ist.«
»Glaubst du, er ist dagegen?« fragte Nina.
»Nur, wenn es um seine eigene Frau geht«, antwortete Christine höhnisch. »Bei den Frauen anderer Männer hat er nichts dagegen einzuwenden, wenn sie sich mit ihm kompromittieren wollen.«
Nina war verwirrt.
»Ich kann immer noch nicht ganz begreifen, warum dich der Marquis heiraten soll.«
»Meine Stiefmutter hat alles arrangiert. Sie glaubt, daß sie ihn auch weiterhin so oft sehen kann, wie sie will, wenn er mit mir verheiratet ist. Sie wären dann in der Lage, ihr Verhältnis nach der Rückkehr meiner Stiefmutter aus Indien fortzusetzen. Sie will den Marquis nicht verlieren.«
»Das ist ungeheuerlich«, rief Nina.
»Zweifellos«, stimmte Christine zu. »Und deshalb werde ich Harry heiraten. Er liebt mich wirklich, und zwar schon seit drei Jahren.«
»Harry?« wiederholte Nina. »Wer ist das denn?«
»Der zweitälteste Sohn des Grafen von Hawkstone«, antwortete Christine. »Er hat mir gesagt, daß er sich im ersten Augenblick, als er mich sah, in mich verliebt habe, obwohl ich erst vierzehn war. Natürlich wußte er, daß ich noch zu jung für die Ehe war und daß er auf mich werde warten müssen. «
»Hat er dir gleich zu Anfang eine Liebeserklärung gemacht?« fragte Nina.
Christines Augen leuchteten.
»Nein, das nicht. Aber ich war sicher, daß er mich attraktiv fand. Und als wir uns öfter trafen, um auszureiten, verliebte ich mich mehr und mehr in ihn.«
»Aber warst du nicht noch ein bißchen zu jung?«
Christine lächelte.
»Manchmal denke ich, daß ich noch nie so jung gewesen bin wie du, Nina, jedenfalls nicht so ahnungslos und unschuldig.«
»Auf mich hast du immer sehr erfahren und schon ganz erwachsen gewirkt«, stimmte Nina zu. »Aber ich dachte, das liege an meiner mangelnden Menschenkenntnis und an fehlenden Vergleichsmöglichkeiten.«
»Ich wurde erwachsen, als ich mich in Harry verliebte«, sagte Christine. »Natürlich mußten wir unsere Gefühle verbergen, weil Mama sonst nicht erlaubt hätte, daß er uns besucht.« Sie lächelte zärtlich und fuhr fort: »Obgleich er wenig Worte darüber verlor, spürte ich von Anfang an, wie sehr er um mein Wohl besorgt ist. Ich wüßte nicht, wie ich das erklären sollte. Aber dadurch unterscheidet er sich von anderen Männern.«
Nina wußte, daß es in Christines Leben von ihrem zwölften Jahr an Männer gegeben hatte, die sie attraktiv fanden und zu küssen versuchten. Auch Liebesbriefe hatten sie ihr geschrieben. Aber im Internat hielt Christine es für besser, die Briefe zu zerreißen, damit Mrs. Fontwell sie nicht fand.
Noch nie hatte Nina ihre Freundin in so ernstem Ton sprechen hören.
Gerührt sagte sie: »Und von all dem hast du mir noch nie etwas erzählt.«
»Weil ich es versprochen hatte«, erwiderte Christine. »In der ersten Zeit hatte, ich Angst, daß wir entdeckt würden. Als Mama tot war, erlaubte mir meine Stiefmutter nicht einmal, Harry zu sehen, wenn er zu uns zu Besuch kam. Wir trafen uns heimlich im Park. Eines Tages sagte er, daß er mich heiraten wolle.« Mit einem leidenschaftlichen Unterton in der Stimme fuhr sie fort: »Von da an wußte ich, wie sehr ich ihn liebe und daß ich einen anderen nicht so lieben kann.«
»Aber du bist noch so jung«, wandte Nina ein.
»Schon viele Mädchen haben mit siebzehn geheiratet. Harry sagt, wir müssen noch bis zu meinem Geburtstag warten, und dann will er Papa fragen.«
»Glaubst du, daß dein Vater zustimmt?«
Nach kurzem Zögern meinte Christine: »Harrys Vater ist zwar ein Graf, aber Harry nur der zweitgeborene Sohn. Ich fürchte, da ich so reich bin, werden Papa und erst recht meine Stiefmutter sagen, ich solle mir etwas Besseres suchen.« Ihre Stimme hatte einen spöttischen Klang. »Aus diesem Grund brenne ich durch.«
»Durchbrennen?« rief Nina.
»Harry und ich reisen nach