In der Hölle der Ostfront. Arno Sauer

In der Hölle der Ostfront - Arno Sauer


Скачать книгу
sein ganzes Leben in zahlreichen Angst- und Albträumen, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte weniger wurden. Die schrecklichen Bilder jedoch ließen seine Gedanken nie mehr richtig los und verfolgten ihn bis an sein Lebensende.

      Im Krieg gibt es niemals Gewinner, nur Verlierer. Nichts geht über Frieden und ein friedliches Miteinander der Völker aller Nationen und deren unterschiedlichsten Religionen.

      Arno Sauer, Bassenheim, im Januar 2017

      An einem wunderschönen Frühlingsmorgen nach einem langen, harten Winter 1940/41 brachte mich der Zug an die luxemburgische Grenze. Beim Hinausschauen aus meinem Dritte-Klasse-Abteil, ausgestattet mit unbequemen, harten Holzbänken, konnte ich die herrliche Landschaft bewundern, die in voller Blütenpracht an mir vorbeizog.

      Einige Tage zuvor hatte ich, vier Wochen nach Abschluss meiner Friseurlehre, den Einberufungsbefehl zum RAD (Reichsarbeitsdienst) erhalten. In dem amtlichen Schreiben wurde mir mitgeteilt, dass ich ein Jahr lang im »Musterlager Gau Moselland« in Irrel an der luxemburgischen Grenze eingesetzt werden würde und zu dem aufgeführten Termin dort pünktlich zu erscheinen hätte. Ich packte also am Vorabend neben einigen persönlichen Dingen die wenigen Utensilien, die in dem »Einladungsschreiben« aufgeführt waren, in einen kleinen alten Koffer, verabschiedete mich am nächsten Morgen schweren Herzens von Mutter und meinen Brüdern und marschierte zu unserem Bahnhof.

      Die Bahnfahrt führte anfangs auf vertrauten Wegen über Mayen, wo ich die Berufsschule besucht hatte, weiter über Daun, Gerolstein, Kyllburg, Bitburg bis nach Irrel. So fuhr ich mit 17 Jahren zwar kostenlos, aber mit einem mulmigen Gefühl der Ungewissheit quer durch unsere schöne Eifel einem Ziel entgegen, das ich mir nicht ausgesucht hatte und das ich auch nicht aufsuchen wollte.

      Mit jedem Kilometer, der mich weiter von Zuhause entfernte, wuchs in mir ein eigenartiges Unbehagen, gemischt mit Heimweh. Da halfen auch die guten Schmalzbrote nichts, die mir Mutter noch im letzten Augenblick eingepackt hatte und die ich nun mit mäßigem Appetit verdrückte. Viele Gedanken, Erinnerungen und Episoden meiner noch nicht allzu großen Vergangenheit liefen wie in einem Film an mir vorbei. Ich erinnerte mich an meine kurze Jugendzeit und an so viele schöne und traurige Begebenheiten, etwa den frühen Verlust meines Vaters, der mich auf all meinen Wegen nur in meinen Gedanken und in meinem Herzen begleiten konnte. Mit erst 17 Jahren musste ich mich den Anforderungen des Regimes im Kriegsalltag stellen, und die waren hart. Lamentieren, ausheulen und herumjammern lag uns fern, Unbotmäßigkeit konnte sogar das Leben kosten. Es blieb nur, den Blick nach vorne zu richten, hellwach zu bleiben und dabei im wahrsten Sinne des Wortes die »Flöhe husten zu hören«, wie das schöne Sprichwort lautete. Es war überlebenswichtig, sich auf spontane Situationen ohne Angst einzustellen, ohne gleich zu resignieren.

      Während ich durch das monotone Fahrgeräusch der Eisenbahnwaggons über vergangene Begebenheiten vor mich hin grübelte, musste ich schmunzelnd an eine Geschichte zurückdenken, die dank meines Bruders Karl im letzten Moment zu meinen Gunsten entschieden worden war. War mir Karl bei unseren rivalisierenden »Böckchen-Kämpfen« draußen im Hof oder in der Scheune in jungen Jahren stets unterlegen gewesen, so hatte ich im fortgeschrittenen Alter jenseits der 14 gegen ihn keine Chance mehr. Karls enorme Körperkräfte luden nicht mehr zu einem Kräftemessen ein.

      Ich weiß noch gut, dass Mutter sich eines Tages darüber beklagte, dass die Hühner in der Scheune kaum noch Eier legen würden, und sie führte den Verlust in erster Linie auf einen Marder zurück. Nach vielen Wochen wurde der Marder schließlich gefasst, doch er hatte nur noch zwei Beine und hieß mit Vornamen Karl. Der junge und schnell wachsende Knabe verspeiste heimlich und unentdeckt seit Langem an manchen Tagen zehn bis zwölf Eier, indem er sie einfach roh aussaugte. Er hatte angeblich immer Hunger, und der süße Eidotter schmeckte ihm besonders gut. Es waren aber nicht nur die vielen Eier, sondern auch unsere stets frische Kuhmilch, der zusätzliche Speck und der Extralöffel Schmalz beim Mittagstisch, die dazu führten, dass Karl so kräftig wurde. Ich wiederum mochte kein Fett, sodass mein Anteil auf dem Teller meines Bruders landete. Aber gewiss spielten auch die Erbanlagen und vor allem die schwere körperliche Arbeit von klein auf in unserem landwirtschaftlichen Betrieb eine nicht unwesentliche Rolle.

      Nun, warum ich das erwähne? Es trug sich an einem Nachmittag zu, dass ich wieder einmal auf dem Sportplatz meinem Hobby nachging und mit anderen Jungs Handball spielte. Das ging so lange gut, bis auf einmal zwei etwas ältere Mitspieler meinen Ball klauen wollten, weil sie mir meine überlegene Technik neideten und sich über ein verlorenes Spiel ärgerten. Als sie damit abhauen wollten, gerieten wir uns heftig in die Wolle, wobei meine Chancen sehr schlecht standen. Noch während der Streiterei und angesichts meiner Hilferufe lief ein anderer Mitspieler zu uns nach Hause und rief unseren Karl, der seinem Bruder Fritz zu Hilfe eilte. Obwohl die beiden Gegner deutlich älter waren als er, mischte er sie ohne Probleme auf, sodass ich noch einmal glimpflich mit ein paar Kratzern davonkam und auch meinen geliebten Handball aus dem Getümmel retten konnte.

      Die quietschenden Bremsen der Dampflokomotive beim Einfahren in den Bahnhof von Bitburg holten mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. Nun war es nicht mehr weit, und ich sah den auf mich zukommenden Ereignissen optimistisch entgegen. Ich möchte nicht behaupten, dass ich darin eine erfreuliche neue Herausforderung sah, nach der ich mich gesehnt hätte. Ganz im Gegenteil wäre ich nur zu gerne bei Mutter zu Hause geblieben und als frisch gebackener Geselle meinem Beruf nachgegangen. Jedoch waren in dieser Zeit alle aus meinem Jahrgang und den älteren Jahrgängen irgendwo weit weg unterwegs, eingezogen zur Wehrmacht, in der militärischen Ausbildung oder bereits an der Front.

      Ich nahm diese neue Herausforderung an und machte mich gemeinsam mit vielen anderen Kameraden meines Alters, die ich bereits auf der Hinfahrt im Zug kennengelernt hatte, auf den Weg. Wir alle hatten den gleichen Marschbefehl, und so marschierten wir gemeinsam vom Bahnhof in Irrel los, um zum festgesetzten Zeitpunkt durch das Tor an der Wache des RAD-Lagers Gau Moselland einzuziehen.

      Nach kurzer Einweisung und dem Empfang von Uniform, Ausrüstungsgegenständen und dem berühmten Spaten, dem Symbol des Arbeitsdienstes, bezogen wir Quartier in einer der zahlreichen Baracken. Auf jeder Stube waren zwanzig Mann in zehn Doppelbetten untergebracht. Einen Spind teilten wir uns zu zweit.

      Von nun an war täglich morgens um 5:00 Uhr Wecken angesagt, und dies erfolgte mit lautem Geschrei. Schon am ersten Tag begannen wir mit dem Frühsport. Anschließend ging es im Laufschritt mit freiem Oberkörper über den Appellplatz zu den Waschräumen. Danach stand Stuben- und Revierreinigen auf dem Plan, wobei man uns in kürzester Zeit eindeutig und unmissverständlich vermittelte, was zu tun war. Danach ging es zum Frühstück, das ständig sehr mager ausfiel, was zur Folge hatte, dass der Hunger unser ständiger Begleiter war.

      Daran änderte auch die um 9:00 Uhr anstehende zweite Frühstückspause nichts, denn es gab meist nichts mehr, das wir noch hätten frühstücken können. Nur gelegentlich gab es noch ein paar trockene Brotscheiben, die vom Frühstück übrig waren, und wir verschlangen sie gierig.

      Am zweiten Tag stand die medizinische Untersuchung zur Diensttauglichkeit an, und es waren alle tauglich. Auch einige luxemburgische Kameraden meines Jahrganges, die nur wenige Kilometer entfernt auf dem anderen Ufer des Flüsschens Sauer zu Haus waren, leisteten hier mit uns gemeinsam Arbeitsdienst. Diese Jungs waren verständlicherweise noch weniger begeistert als wir, und auch bei uns war die Motivation eher bescheiden. Ich fand allerdings die luxemburgische Sprache mit ihrem singenden Tonfall angenehm. Da wir auch Dialekt, das sogenannte Moselfränkisch, sprachen, konnten wir uns untereinander recht gut verständigen.

      Die medizinische Untersuchung führte ein Unterarzt im Range eines Leutnants durch, und sie war schnell vollzogen. Größe, Gewicht, einmal bücken, noch ein paar Eintragungen, fertig.

      Anschließend begann der allgemeine Dienst, der sich über Monate hinweg immer in ähnlicher Form vollzog. Frühsport gab es an jedem Tag und bei jedem Wetter. Manchmal stand Sport auch noch ein zweites Mal am Nachmittag oder Abend auf dem Plan. Das spielte mir voll in die Karten, denn ich liebte den Sport und konnte mein Hobby auf diese Weise auch im Reichsarbeitsdienst weitestgehend zufriedenstellend ausüben.

      Weiterhin gab es täglichen Unterricht. Dazu gehörten selbstverständlich


Скачать книгу