In der Hölle der Ostfront. Arno Sauer
weit außerhalb des Ortes liegenden Bahnhof. Mein Elternhaus stand aber zum Glück nur 500 Meter von unserer Schule entfernt.
Kurzum, wir wohnten in einem wunderschönen, in Natur und Landschaft eingebetteten Dorf, eigentlich wie im Paradies, wäre da nicht das harte, entbehrungs- und arbeitsreiche Leben in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit gewesen. Allerdings hatte sich die Infrastruktur dank der 1904 neu erbauten Eisenbahnlinie Koblenz–Mayen–Daun–Gerolstein, an die unser Ort mit einem neuen, großen Bahnhof angebunden war, wesentlich verbessert, was auch einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung zur Folge hatte.
Allerdings war unsere landwirtschaftlich geprägte Gemeinde im Vergleich zu ihren Nachbargemeinden Ochtendung, Mülheim, Kärlich, Saffig und Kettig deutlich ärmer, obwohl die Gemarkung erheblich größer war. Neben den klassischen Handwerksberufen Bäcker, Metzger, Friseur, Hufschmied, Schreiner, Schuster, Dachdecker, Klempner oder Zimmermann, gab es im Dorf überdurchschnittlich viele Familien, die überwiegend von der Landwirtschaft lebten, und der Grundbesitz der Bauern war durchweg recht bescheiden. Das hatte einen einfachen Grund: Bassenheim stand seit dem frühen Mittelalter unter der Herrschaft der Ritter Walpot von Bassenheim, einem berühmten, einflussreichen und wohlhabenden Rittergeschlecht, das im 18. Jahrhundert in den Reichsgrafenstand erhoben wurde. Dies hatte eine aufwendige Hofhaltung zur Folge, deren Kosten von den Pächtern der verschiedenen Grundherrschaften, die sich im Besitz des Hauses befanden, getragen werden mussten. Auf diese Weise häuften die adeligen Herrschaften ein im wahrsten Sinn des Wortes fürstliches Vermögen an, während ihren Untertanen kaum das Nötigste zum Leben blieb. Dieser Reichtum ist in Bassenheim auch heute noch sehr gut an dem schönen Schloss zu erkennen, zu dem nicht nur ein großer Park und mehrere Seen, sondern auch 1000 Hektar Wald und 1000 Hektar fruchtbares Ackerland einschließlich dreier Gehöfte mit Försterei gehören.
Der Alltag für die Kinder und Jugendlichen in meinem Alter war durchweg bescheiden und arbeitsreich. Doch nutzten wir ab und an selbst erfundene Abwechslungen, die wir wiederum spannend zu gestalten wussten.
In der Regel gingen wir ganz normal tagein, tagaus in unsere Volksschule. Standen Arbeiten zu Hause oder im Feld an, mussten wir mithelfen. Ob wir dazu Lust hatten oder auch nicht, interessierte niemanden. Meistens hatten wir natürlich keine Lust und wären lieber im Dorf, im Wald, in der Flur oder auf unserem Sportplatz spielen gegangen. Mühselig war besonders die Kartoffelernte. Damals musste man diese Feldfrüchte noch mit den Händen in gebückter Haltung aufheben und die einen Zentner schweren Säcke heben, und das war für uns Kinder schon recht schwer.
Ich höre noch heute meinen Vater sagen, »Fritzje, wenn du fleißig Kartoffel ›raffst‹ (aufhebst), dann bekommst du an Weihnachten eine neue Hose«. Im nächsten Jahr waren es neue Schuhe. Ich hätte sowieso neue Hosen und Schuhe gebraucht, und ich glaube, ich hätte sie von meinen Eltern auch ohne Kartoffeln aufzuraffen bekommen.
Weihnachten war sehr feierlich, die Geschenke hingegen eher bescheiden. Unglücklicherweise hatte ich auch noch am 22. Dezember Geburtstag. So wurden die Geschenke der Einfachheit halber mit den Weihnachtsgaben zusammengelegt, wodurch sich diese leider aber auch nicht vermehrten.
In späteren Jahren wussten wir natürlich, dass nicht das Christkind, sondern die Eltern für die Geschenke sorgten. Trotzdem spielte unser Hans weiter den Knecht Ruprecht und warf draußen vom Hof aus durch das offene Küchenfenster ein paar Hände voll Nüsse, Äpfel und auch Apfelsinen ins Haus. Dazu gab es dann die versprochene Hose oder ein paar neue Schuhe, außerdem von Mutter selbst gestrickte Socken und eine Tafel Schokolade.
Um nochmal auf die Kartoffeln zurückzukommen, möchte ich erwähnen, dass deren Anbau der Haupterwerb unseres Betriebes und somit entscheidend für unseren Lebensunterhalt war. Wie bereits erwähnt, besaßen die Bassenheimer Landwirte, bedingt durch die großen herrschaftlichen Ländereien, wenig eigenen Grund. Von dessen Ertrag mussten oft große Familien mehr schlecht als recht leben. Auch wir hatten acht Morgen eigenes Land. Das waren nur zwei Hektar und eigentlich sehr wenig. Die restlichen Morgen pachteten wir deshalb noch von der katholischen Kirche dazu.
Und weil mein Vater bereits Mitte der Zwanzigerjahre neben dem Kartoffelanbau eine Kuh, Hühner und Schweine hielt und dazu einen Kartoffelgroßhandel aufbaute, konnten wir einigermaßen auskömmlich leben und uns sogar zwei stolze Pferde leisten. Da zu der Zeit noch viele andere Bauern mit nur einem Pferd oder gar mit Ochsen und Kühen ins Feld fuhren, schätzten wir uns glücklich. Die Pferde wurden nicht nur für die übliche Feldarbeit eingesetzt, sondern auch für die Vermarktung und den Transport unserer Kartoffeln an die Kunden. Diese befanden sich überwiegend in Koblenz und Umgebung.
Das lief relativ reibungslos und wie folgt ab: Tagsüber wurden Kartoffeln geerntet und abends auf unserem Leiterwagen im Hof bereitgestellt. Florierte das Geschäft, kauften wir von anderen Bauern Kartoffeln dazu. Nachts zwischen 2:00 und 3:00 Uhr stand Vater oder mein Bruder Hans auf, spannte ein Pferd an, und ab ging die Fahrt nach Koblenz, wo man in aller Frühe eintraf. Mitten auf dem Platz »Am Plan« wurde dann an der Pferdetränke Halt gemacht. Das Pferd bekam seinen Hafersack und konnte dort seinen Durst stillen. Anschließend wurden die Kartoffeln bei den Kunden ausgeliefert, die überwiegend in der Altstadt wohnten. Verkauft wurde sowohl an die Gastronomie als auch an Privatleute.
Unser Leiterwagen ließ sich in der Länge variieren. »Kurz gestellt«, konnte man bis zu 25 Zentner transportieren. Wir erlösten für die angelieferten Kartoffeln pro Zentner zwei Reichsmark mehr als die normale Vermarktung einbrachte. Das war für uns ein enormer Verdienst von zusätzlich fünfzig Reichsmark. Nachdem sich Qualität und Zuverlässigkeit herumgesprochen hatten, wurden die Aufträge umfangreicher, und wir konnten größere Mengen liefern. Dazu wurde unser Leiterwagen »lang gestellt«, also wie bei einem Ausziehtisch auseinander gezogen. Das bedeutete, dass wir auf dem Wagen nunmehr 40 Zentner transportieren konnten, und die zusätzlichen Einnahmen erhöhten sich somit pro Fuhre auf 80 Reichsmark.
Für die größere und schwerere Ladung mussten jedoch beide Pferde vorgespannt werden, da ein Pferd allein den schweren Wagen nicht über den Anstieg der Koblenzer Straße bis auf die Höhe unseres Bahnhofes ziehen konnte. Von dort aus ging es zwölf Kilometer eben oder sogar leicht abschüssig bis ins Stadtzentrum. Da am nächsten Tag jedoch wieder ein Pferd für die Feldarbeit gebraucht wurde und Vater den Schlaf für die schwere Arbeit benötigte, wurde ich nachts von Hans geweckt. Ich musste ja morgens nur in die Schule!
Also stand ich mit acht Jahren um 2:00 Uhr in der Früh mit auf, spannte gemeinsam mit meinem Bruder die Pferde an, und ab ging die Fahrt. Nach zwei Kilometern auf der Höhe angekommen, wurde ein Pferd ausgespannt, und ich ritt auf diesem Pferd wieder zurück nach Hause. Es war für mich total spannend, so jung bei tiefster Dunkelheit allein durch die Nacht zu reiten. Außer dem Klappern der Pferdehufe hörte man in dieser einsamen Stille keine weiteren Geräusche. Allein die leuchtenden Sterne und der Mond waren in diesen Nächten unsere Begleiter. Dennoch hatte ich keine Angst. Es überkam mich eher ein erhabenes und stolzes Gefühl, weil man mir ein so kostbares Tier anvertraute. Erst in späteren Jahren wurde mir bewusst, wie konsequent uns unsere Eltern im Geist von Verantwortung und Leistungsbereitschaft erzogen hatten.
Zu Hause angekommen versorgte ich zuerst das Tier und legte mich schnell bis zum Wecken ins Bett. Natürlich musste ich nicht jede Nacht antreten. Mal war mein zwei Jahre älterer Bruder Peter an der Reihe, mal gab es keine Aufträge. Aber wenn ich Schulferien hatte, durfte ich fast immer mit den Kartoffeltransporten in die Stadt fahren. Das war für mich natürlich Spannung pur. Ich kam aus unserem Dorf hinaus in die für mich damals große weite Welt.
Schon in Rübenach und mehr noch in Metternich wurden die Häuser größer und prächtiger. Auf den schönsten und größten Villen in Metternich waren Jahreszahlen von 1908 bis 1913 zu lesen. In dieser letzten Phase vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Wirtschaft geblüht, und viele Bürger waren reich geworden. Weiter fuhren wir dann durch den Koblenzer Stadtteil Lützel mit seinen prächtigen Jugendstilhäusern, dann über die aus dem 14. Jahrhundert stammende Balduinbrücke über die Mosel in die Altstadt. Stadteinwärts erblickte man links die alte Burg und gegenüber auf der rechten Seite den Bassenheimer Hof mit der anschließenden Dominikanerkirche.
»Lützel« heißt übrigens im Rheinischen Dialekt wie im Norddeutschen Lütje »klein«, womit die Proportionen