In der Hölle der Ostfront. Arno Sauer
Februar, als die Tage wieder länger wurden, begannen wir mit dem Bau neuer Unterkünfte, und es folgte zusätzlich der übliche Dienstbetrieb.
Anfang März, einige Wochen vor Beendigung der RAD-Zeit, erschienen eines Morgens zwei stattliche große blonde Männer der Waffen-SS in schneidiger schwarzer Uniform. Da uns allen in naher Zukunft die Musterung für den allgemeinen Wehrdienst, in der Regel bei der Wehrmacht, bevorstand, warben sie im Unterrichtsraum mit verlockenden Angeboten für den Eintritt in ihre Organisation. Der SS gehöre die Zukunft, und wer in ihr diene, gehöre zur Elite des Großdeutschen Reiches und der arischen Rasse.Am Ende der Vorträge fragten sie, wer sich denn nun freiwillig zum Eintritt in die SS melden wolle. Niemand von uns stand auf, niemand hob die Hand und meldete sich. Nach dem allgemeinen Gemurmel und Getuschel herrschte plötzlich eine unangenehme, gespannte Stille.
Der Wortführer schaute in die Runde und zeigte auf drei von uns, die groß gewachsen, blond und sportlich waren und sagte: »Sie melden sich nach dem Unterricht in der Lagerkommandantur zum Eintritt in die Waffen-SS. Wir sehen uns später wieder, dann bis nachher!«
Mir fuhr ein Stich ins Herz. Ausgerechnet ich war gemeint und sollte mich mit den beiden anderen Auserwählten melden. Mir war nicht wohl bei dieser Ehre. Es war nicht das Gefühl von Furcht vor etwas Neuem, sondern eher eine intuitive Ablehnung und das ungute Gefühl, sich einer parteinahen Organisation anzuschließen, was zusätzlich bedeutet hätte, dass ich noch weiter von Zuhause weggekommen wäre.
So entschloss ich mich, die Aufforderung zu ignorieren und nicht zu den Herren in Schwarz zu gehen. Ich hoffte, dass sich die Herren mit der Ausbeute von nur zwei »Freiwilligenmeldungen« zufriedengeben würden. Tatsächlich fuhren sie ab. Ich wurde unmittelbar danach zum Lagerkommandanten befohlen. Befehlsgemäß legte ich den Weg zur Kommandantur im Laufschritt zurück, und noch ganz außer Atem meldete ich mich zackig in der Baracke der Lagerleitung.
»Arbeitsdienstmann Sauer, warum sind Sie der Aufforderung der beiden Herren von der Waffen-SS nicht nachgekommen?«, fragte der Lagerkommandant mit ruhiger Stimme und in höflichem Ton.
»Weil es mein größter Wunsch ist, mich nach Beendigung meiner RAD-Zeit zur Luftwaffe zu melden, um Jagdflieger zu werden. Ich möchte eine Messerschmitt Bf 109 fliegen«, erwiderte ich unverzüglich.
Ich war über mich selbst überrascht, wie flüssig mir diese Ausrede über die Lippen kam. Schließlich wusste ich doch genau, dass die Waffen-SS keine eigene Luftwaffe hatte. Meine ernsthaft und sicher vorgetragene Argumentation zeigte Wirkung. Es gab abschließend noch ein paar allgemeine Fragen, und die Sache schien vorerst aus der Welt. Dem war allerdings nicht so, aber das erfuhr ich erst einige Monate später. Die anderen beiden Kameraden hatten sich verpflichtet. Ob sie den Krieg überlebten, habe ich nie erfahren.
Wenige Tage später ging im Lager das Gerücht um, wir würden vorzeitig aus dem RAD entlassen. Ausnahmsweise stellte es sich als wahr heraus, denn Gerüchte und Parolen gab es viele, und in der Regel steckte dahinter reines Wunschdenken.
Das gesamte Lager war in Hochstimmung, denn Ende März wurden wir zu unserer großen Freude tatsächlich drei Monate früher als vorgesehen nach Hause entlassen. Das geschah natürlich nicht ohne Grund oder aus christlicher Nächstenliebe. Nein, nach dem verheerenden Kriegswinter an der Ostfront und den katastrophalen Verlusten der Wehrmacht liefen die Musterungsstellen auf Hochtouren. Die Front brauchte Nachschub an Menschen und Material. Die Ausfälle der Deutschen Wehrmacht allein an der Ostfront betrugen nach nur wenigen Monaten Einsatz rund eine Million an Gefallenen, Verwundeten und Vermissten. Viele Ausfälle waren dem unvorstellbar harten russischen Winter geschuldet, auf den die deutsche Führung die Soldaten nicht oder völlig ungenügend vorbereitet hatte. Denn im »Führerhauptquartier« war man davon ausgegangen, die Rote Armee in einem Feldzug von nur wenigen Wochen zur Kapitulation zwingen zu können.
Beim letzten Appell hielt der Lagerkommandant eine knappe Rede, in der auch von der Liebe zum Deutschen Volk und dem Dienst am Vaterland die Rede war. Im Anschluss daran packten wir unsere wenigen Habseligkeiten und verabschiedeten uns von den vielen netten Kameraden, mit denen wir die RAD-Zeit wohlbehalten überstanden hatten. Wie bereits vor Weihnachten fuhren wir die gleiche Strecke zurück nach Hause in eine noch ungewissere Zukunft. Unsere Wege trennten sich, und die meisten Freunde und Kameraden sahen wir nie wieder.
Die Zeit im RAD-Lager hat uns nicht umgebracht und auch nicht geschadet. Wir lernten so nützliche Dinge wie Putzen, Waschen, Flicken und Nähen, wurden erzogen zu Disziplin und Pünktlichkeit, Kameradschaft, Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt, lernten Respekt, Achtung, Rücksichtnahme und Selbstbewusstsein. Da wir in der Regel aus Familien mit einem festgefügten christlichen Weltbild stammten, konnte uns die damals unvermeidliche ideologische Indoktrinierung wenig anhaben.
Zum Reichsarbeitsdienst wurden Jungen wie Mädchen gleichermaßen zwischen dem siebzehnten und achtzehnten Lebensjahr herangezogen.
Wir waren vorgestern Kinder und gestern Jugendliche gewesen. Nun galten wir schlagartig als gestandene, erwachsene Männer, denen die Härten des Krieges uneingeschränkt zugemutet wurden.
Stellungsbefehl zur Wehrmacht
Nur wenige Tage nach meiner Entlassung vom Arbeitsdienst und wieder gut zu Hause angekommen, erhielt ich einen Brief, in dem ich zur Musterung befohlen wurde.
Ich erhielt diesen Brief in einer Zeit, in der unsere Armeen im Osten in erbitterte Kämpfe verwickelt waren. Die deutsche Führung hatte aus dem Schicksal Napoleons und aus den Erfahrungen des Zweifrontenkrieges von 1914–1918 nichts gelernt. Russland anzugreifen, noch dazu mit einer unzulänglich ausgerüsteten Armee, war ein verantwortungsloses, verbrecherisches Abenteuer, ein russisches Roulette, aber mit fünf Patronen anstelle von einer in der sechsschüssigen Revolvertrommel.
Im Januar 1942 standen auf einer Front von 600 Kilometern den 37 deutschen Divisionen der Heeresgruppe Süd 95 russische Divisionen gegenüber. Bis zum März des Jahres 1942 betrugen die Verluste des gesamten deutschen Ostheeres bereits 1 107 000 Mann. Die Heeresgruppe Mitte konnte in einem 1000 Kilometer breiten Verteidigungsabschnitt den gegenüberstehenden 190 sowjetischen Divisionen nur 67 abgekämpfte deutsche Divisionen entgegenstellen. Im Bereich der Heeresgruppe Nord kämpften 31 geschwächte deutsche Divisionen auf einer Frontbreite von 600 Kilometern gegen 86 russische. An allen Fronten waren die Russen der Wehrmacht also um das Dreifache überlegen. Aber davon wussten wir nichts. Wir hatten uns an die Erfolgsmeldungen aus dem Rundfunk gewöhnt, die sich im Sommer 1941 förmlich überschlagen hatten, und wunderten uns allenfalls darüber, dass sie nur noch spärlich ausgestrahlt wurden. So fuhr ich termingerecht und guten Mutes zum angegebenen Datum der Musterung nach Koblenz.
Die enorme Anzahl von jungen Rekruten an diesem frühen Morgen war überwältigend. Auf den Gängen drängten sich die Massen, und ich sah in neugierige, erwartungsvolle und euphorische, mitunter aber auch ängstliche und skeptische Gesichter. Auf den Fluren vollzog sich ein hektisches und reges Treiben, gesteuert mit Befehlen in einer lauten, deutlichen und unmissverständlichen militärischen Kommandosprache.
Die ärztlichen Untersuchung erfolgte folgendermaßen: In einer langen Reihe wurden die persönlichen Daten aufgenommen. In einem gegenüberliegenden Raum musste man sich komplett ausziehen. Sobald der eigene Name verlesen wurde, hatte man laut und deutlich »Jawohl« zu rufen, um anschließend in ein großes Untersuchungszimmer zu treten. Das ging ruckzuck, da die Probanden nicht einzeln, wie damals in Irrel, sondern jeweils zu acht von drei Ärzten ebenso gründlich wie schnell untersucht wurden. Das medizinische Personal bestand aus einem Oberstabsarzt im Range eines Majors, einem Assistenzarzt im Rang eines Oberleutnants und einem Unterarzt in Leutnantsuniform als Schreiber. Im Zuge der Untersuchung wurden unter anderem Größe (1,82 m) und Gewicht (78 kg) ermittelt und zwecks Bestimmung der Blutgruppe (ich hatte die Blutgruppe 0) eine Blutprobe genommen. Diese war auch in die Erkennungsmarke aus Aluminium eingeprägt, die jeder Soldat Tag und Nacht um den Hals trug. So konnte man bei einer Verwundung sofort die Blutgruppe erkennen. War ein Soldat gefallen, wurde die eine Hälfte abgebrochen und mitgenommen.
Anschließend mit acht Mann in einer Reihe stehend kam das berühmte sogenannte »Husten Sie mal«. Für mich war die Prozedur nicht neu, doch waren auch viele Neulinge dabei: Abiturienten, die ein vorgezogenes Notabitur