In der Hölle der Ostfront. Arno Sauer
der Schule nach Hause kam. Als ich bei der Rückkehr hinter unserem Hoftor seine Schuhe erkannte, wusste ich sofort, was die Stunde geschlagen hatte.
Es blieb mir nur die Flucht nach vorne. Ich stieß das Tor auf und rannte an meinem verdutzten Vater vorbei in die Küche. Er lief mir sofort nach, und als er mich in der Küche im Kopfstand, den Hintern an der Wand vorfand, war die Situation entschärft, da Vater herzhaft lachen musste. Sein »Fritzje« kam wieder einmal durch einen neuen Trick mit einem blauen Auge davon. Irgendwie spürte ich, dass Vater auf meinen Einfallsreichtum, meine Schnelligkeit und sportlichen Fähigkeiten insgeheim mächtig stolz war.
Mein knabenhafter Mut reichte zwar zum heimlichen Rauchen mit Klassenkameraden, aber er verließ mich schnell, wenn einmal im Jahr der mobile Zahnarzt mit seinem Auto voller schrecklicher Instrumente an unserer Schule vorfuhr, wie dies ab 1933 alljährlich geschah. Sämtliche Schulkinder einschließlich der Lehrkräfte mussten sich einer vorsorglichen Zahnuntersuchung unterziehen. Aus Angst vor dieser Zeremonie verschwand ich regelmäßig und lief zu Mutter nach Hause. Sie brachte mich jedoch zurück zur Schule, und ich konnte dem netten Zahnarzt mit seinem mechanischen Zahnbohrer nicht mehr entkommen. Dass es zur Belohnung anschließend etwas Süßes gab, brachte nicht den gewünschten Erfolg, und im folgenden Jahr unternahm ich den nächsten Fluchtversuch. Leider gehörte ich zu den Schülern, bei denen es nie ohne Bohren abging.
In meiner Kindheit wurde ich nicht nur durch die Erziehung meiner Eltern geprägt, sondern auch durch die damals noch recht strenge katholische Kirche. Nicht nur an jedem Sonn- und Feiertag, sondern auch bei zahlreichen anderen Anlässen mussten wir die Messe besuchen. Das beanspruchte natürlich auch wieder einen Teil unserer kostbaren Zeit. Als guter Christ erzogen, glaubte ich natürlich an Gott, und das Beten habe ich insbesondere später im Krieg in Russland und bis ins Alter nie verlernt. Trotzdem hatte ich keine Lust, das Angebot unseres Pfarrers, mich zum Messdiener zu ernennen, anzunehmen.
Für unseren fürsorglichen Vater war es natürlich selbstverständlich, dass seine Kinder regelmäßig und ordentlich gekleidet jeden Sonntag zum Hochamt erschienen. So stand er jeden Sonntagmorgen in unserer Waschküche neben der Scheune, putzte für uns vier Jungs die hohen genagelten Schuhe und klopfte den einen oder anderen fehlenden Nagel in die Ledersohlen.
Ich hingegen verbrachte meine freie Zeit lieber auf unserem Sportplatz unten am Bach. Dorthin zog es mich in jeder freien Minute, und früh erkannte ich, dass der Sport meine größte Leidenschaft war. Hier konnte ich meinem Bewegungsdrang freien Lauf lassen. Wir spielten jeden Tag Handball und ab und an auch Fußball, soweit es das Wetter zuließ. Hier fanden die spannenden Spiele unserer 1. Mannschaft im Feldhandball statt. Der TV Bassenheim 1911 e. V. spielte in der Oberliga Rheinland, der damals höchsten Spielklasse im Deutschen Reich. Anpfiff war immer sonntags um 14:00 Uhr. Wenn die starken Mannschaften von Grün-Weiß Mendig, Welling, Weibern, Mülheim, Kärlich oder Urmitz antraten, war unser Dorf wie ausgestorben, und alle standen rund ums Spielfeld. Manchmal, bei hochkarätigen Spielpaarungen, waren es mit den angereisten Gästen, die überwiegend zu Fuß kamen oder auf offenen Lkw mitfuhren, annähernd 2000 Zuschauer.
Zu meiner ersten Heiligen Kommunion am Weißen Sonntag 1932 schenkten mir meine Eltern einen echten Lederhandball. Das war damals mein kostbarster Besitz. Nun waren dem täglichen Training keinerlei Grenzen mehr gesetzt, und ich war überglücklich.
Neben dem Handball war die Leichtathletik mit den Disziplinen Werfen, Laufen und Springen mein Favorit. So sprang ich gerne und oft in die alte Weitsprunggrube neben unserem Sportplatz, deren Inhalt nur aus einer dünnen Sandschicht bestand, die noch dazu oft mit Steinen und manchmal auch mit Hundekot angereichert war. Das Werfen übte ich mit allem, was mir in die Finger kam, vom Schotterstein bis zum selbst geschnitzten Speer aus Haselnussholz.
Den alljährlichen Sportfesten fieberte ich schon Wochen vorher entgegen, und das Training wurde noch intensiviert. Kam dann der große Tag, war die Spannung riesengroß. In den Schuljahren sechs bis acht erhielt ich die höchste Punktzahl, und es gab als Siegespreis immerhin einen Lorbeerkranz. Ich kann mich gut erinnern, dass ich die 80 Gramm schweren Lederbällchen fast von einem Tor bis zum anderen warf. Allerdings war der Sportplatz nicht wie üblich 100 Meter, sondern nur knapp 90 Meter lang. Trotzdem war es enorm weit.
Beim Weitsprung hörte ich oft einige rufen: »Der Fritz springt! Der Fritz springt!« Und so standen um die Sprunggrube oft mehr als zwei Dutzend Zuschauer, die mich anfeuerten. Durch das viele Sprungwurftraining als Rechtshänder im Handball war meine Sprungkraft im linken Bein stark ausgeprägt. Die drei Sprungversuche, die jedem Teilnehmer zur Verfügung standen, erreichten ab der siebten Klasse immer Weiten von deutlich über sechs Meter. Ohne spezielles Training und angesichts der schweren und minderwertigen Sportschuhe sowie der mangelhaften Anlaufbahn war das eine beachtliche Leistung.
Im Feldhandball hatte ich in der ersten Mannschaft einige Vorbilder, denen ich vieles an Technik und Tricks abschauen konnte. Ich selbst spielte seit den Jugendmannschaften aufgrund meiner Schnelligkeit auf der Position des Mittelläufers. Dazu muss man wissen, dass eine Mannschaft im damals beliebten Großfeld-Handball wie beim Fußball aus elf Spielern bestand. Neben dem Torwart befanden sich vier Spieler in der Abwehr, die sich nur in der eigenen Spielfeldhälfte bis zur Mittellinie aufhalten durften. Vier Spieler waren im Sturm und blieben nur in der gegnerischen Hälfte. Die beiden Mittelläufer dagegen konnten sowohl im Sturm als auch in der eigenen Abwehr spielen. Diese beiden Spieler hatten daher über die volle Distanz ein enormes Laufpensum zu bewältigen. Neben der Verstärkung von Abwehr und Sturm bestand die Hauptaufgabe darin, Bälle abzufangen und diese so schnell wie möglich dem eigenen Sturm zuzuspielen, noch ehe die beiden gegnerischen Mittelläufer sich in der Abwehr positionieren konnten. Einige ältere Zuschauer nannten mich »das Reh«, wahrscheinlich wegen meiner Spurtstärke und Sprungkraft. Wenn ich ehrlich sein soll, war ich ziemlich stolz darauf.
Zwei meiner sportlichen Vorbilder möchte ich nicht unerwähnt lassen. Das war zum einen der hervorragende Torwart Paul Theisen, der später im Krieg gefallen ist, und zum anderen Josef Ringel, Jahrgang 1914. Er überlebte den Krieg und betrieb später ein Textil- und Lebensmittelgeschäft in der Mayener Straße. Josef war 1936 im Kader der Deutschen Feldhandball-Olympia-Mannschaft in Berlin, und das war für uns schon etwas ganz Besonderes. Josef erhielt den Spitznahmen »I«. Einfach »I« wie Ida. Das rührte daher, dass er beim Abwurf des Handballes während eines Sprungwurfes ganz laut die Luft ausstieß, um dem Ball eine hohe Abwurfgeschwindigkeit mitzugeben. Dabei erzeugte er ein Geräusch, das wie ein gepresstes Ihhhhhhjehhhh klang, und damit war der Spitzname geboren.
Besonders fasziniert war ich damals von dem von Leni Riefenstahl mit modernsten Mitteln gedrehten Film über die Olympiade 1936 in Berlin. Seit ich ihn zum ersten Mal in der Kinowochenschau gesehen hatte, träumte ich davon, einmal als Zehnkämpfer an einer Olympiade teilnehmen zu dürfen. Vielleicht 1944, dachte ich, 1948 oder 1952. Dass es 16 Jahre dauern würde, ehe eine deutsche Mannschaft wieder an einer Olympiade teilnehmen durfte – 1952 in Helsinki – hätte ich damals nicht für möglich gehalten. In meinen Gedanken drehte sich damals alles um den Sport. Wann und wo ich nur irgendwie Gelegenheit fand, trainierte ich in allen möglichen Disziplinen, vor allem Werfen, Laufen und Springen. Sogar am Training der erfolgreichen Bassenheimer Ringermannschaft, das mangels Turnhalle in den beiden Sälen der Dorfgaststätten Koch und Poll stattfand, nahm ich öfter teil und lernte dabei so manchen Trick.
Am Tag des Sportfestes marschierten wir mit unserer Abordnung zu Fuß die Alte Heerstraße hinab, gingen über die Horchheimer Eisenbahnbrücke zur anderen Rheinseite und gelangten auf diesem Wege unmittelbar zu den Sportstätten. Das Stadion Oberwerth füllte sich mit einer großen Anzahl von Sportlern und Zuschauern. Ich schätzte die Anzahl der Aktiven auf weit über 300. Obwohl von allen umliegenden Sportvereinen kleine Abordnungen zugegen waren, bestand doch der überwiegende Teil der Akteure aus Soldaten, Arbeitsdienstleistenden und Hitlerjugend. Wie sollten die Sportvereine auch große Mannschaften aufstellen, da doch die infrage kommenden Jahrgänge seit nun schon fast drei Jahren an allen Fronten kämpften?
Man meldete mich für den Mehrkampf, und so genoss ich den freien Tag in vollen Zügen. Körperlich und mental absolut fit, konnte ich meine Leistungen im Laufen, Springen und Werfen punktgenau abrufen. Am späten Nachmittag erfolgte die Siegerehrung, und ich war unendlich stolz darauf, dass ich im Mehrkampf die