In der Hölle der Ostfront. Arno Sauer

In der Hölle der Ostfront - Arno Sauer


Скачать книгу
lagen auf der Hand. Alle Frontverbände meldeten immer größere Verluste und hatten einen unstillbaren Bedarf an »Kanonenfutter«.

      Bei dieser Untersuchung griff der Assistenzarzt mit der ganzen Hand jedem von vorne unsanft an die Hoden, um eventuelle Hodenbrüche zu ertasten. Bei positivem Befund wurde die Angelegenheit durch eine kurzfristig durchgeführte Operation behoben, um den Kameraden fronttauglich zu machen. Bei dieser Untersuchung war es egal, ob der betreffende Arzt warme oder gar kalte Hände hatte. Es war einfach ein unangenehmes Gefühl, und die neuen unbedarften Kameraden gaben vor Schreck so manche unangemessene komische Töne von sich, was von den anderen mit schallendem Gelächter quittiert und von den Ärzten mit zotigen Sprüchen im Landserjargon kommentiert wurde.

      Anschließend erfolgte das Kommando »ganze Abteilung kehrt und bücken« – die Krönung der peinlichen Prozedur. Der Assistenzarzt schaute dann jedem von uns von hinten zwischen die Beine, um Hämorrhoiden zu entdecken, die er bei so jungen Menschen natürlich fast nie fand. Aber was er bei einem neben mir in der Reihe stehenden Knaben fand, ließ ihn lauthals auflachen:

      »Hier haben wir einen, den stecken wir gleich zur Kavallerie. Hier ist ja alles grün. Bringt der Kerl doch schon zur Musterung das eigene Pferdefutter mit.«

      Es erschallte erneut ein wieherndes Gelächter. Der aus dem Westerwald stammende Junge wurde puterrot, und mir tat er irgendwie leid. Er musste wohl ein menschliches Bedürfnis verspürt und nach erfolgreicher Verrichtung den Hintern mit Grasbüscheln abgewischt haben.

      Die Musterungsprozedur war für mich bereits zur Mittagszeit abgeschlossen. Kurz entschlossen nutzte ich die Gelegenheit, um durch die Stadt zu schlendern, und nahm mir dabei die Zeit, in meinem alten Friseurgeschäft bei der Familie Stillings in der Rheinstraße vorbeizuschauen. Die Freude über meinen Besuch war groß, besonders als sie erfuhren, dass ich in Koblenz stationiert war und in diesen bewegten Zeiten wohlauf war. Frau Stillings wünschte mir Glück und bestellte noch schöne Grüße an meine Mutter.

      Obwohl es in Koblenz schon mehrmals Fliegeralarm gegeben hatte, war die Stadt doch bis dato vor Bombenschäden verschont geblieben. Ich erlebte sie also in ihrem originalen, wunderschönen Flair mit dem Schloss, der Festhalle, dem Theater und all den prächtigen Plätzen, Straßen und Häusern im Barock- und Jugendstil. Einzig die Auslagen der Geschäfte waren nicht mehr so üppig dekoriert wie noch vor ein oder zwei Jahren. Es gab auch nicht mehr die große Anzahl an Besuchern, und man bemerkte die kriegsbedingten Einschränkungen an allen Ecken.

      Nur sechs Tage nach der Musterung brachte unser Briefträger meinen Gestellungsbefehl zur Infanterieausbildung. Anschließend war ich zur Verwendung beim Infanterieregiment Nr. 437 vorgesehen. Dieses Regiment war Teil der 132. Infanteriedivision und befand sich zu jener Zeit mit der Heeresgruppe Süd an der Ostfront auf dem Vormarsch zur Krim und der Stadt Sewastopol. Dazu hatte ich mich zum angegebenen Zeitpunkt, dem 14. April 1942, in der Gneisenau-Kaserne in Koblenz-Horchheim zu melden.

      Es ging also wieder zu Fuß und mit dem üblichen Gepäck zu unserem Bahnhof und mit dem Frühzug zum Hauptbahnhof nach Koblenz. Von dort brachte mich die Straßenbahn entlang der oberen Löhrstraße bis zum Kaiser-Wilhelm-Ring, (heute der Friedrich-Ebert-Ring) vorbei an prächtigen Bauten, unter anderem der Festhalle (heute Rheinmosel-Halle), weiter zur Pfaffendorfer Brücke über den Rhein zur rechten Rheinseite und durch Pfaffendorf bis Horchheim. An der Endstation »Alte Heerstraße« angekommen, stieg man aus und musste den langen Berg hinaufgehen bis zu den 1937/38 neu gebauten, großen, modernen Augusta- und Gneisenau-Kasernen und der nicht weit entfernten Deines-Bruchmüller-Kaserne in Niederlahnstein. Meine Kaserne trug den Namen des Generalfeldmarschalls Neidhardt von Gneisenau, der 1805 die Stadt Kolberg in Westpommern an der Ostsee gegen Napoleon und seine Verbündeten verteidigt und später als Reformer der preußischen Armee entscheidend zum Erfolg der Befreiungskriege beigetragen hatte. An der Kasernenwache angekommen, wurde ich mit zahlreichen anderen Rekruten vom UvD (Unteroffizier vom Dienst) in Empfang genommen. Jeder erhielt einen Marschzettel für die Einschleusung.

      Es erfolgte ein schnelles, unkompliziertes Ritual ähnlich dem Prozedere, das ich im vergangenen Jahr schon im RAD-Lager kennengelernt hatte, allerdings in verschärfter Form: Kompaniegebäude und Stubenzuweisung, Empfang aller Uniformteile und Ausrüstungsgegenstände bis hin zur Bettwäsche und so weiter. Alles erfolgte unter lauten und klaren Kommandos der Ausbilder im Laufschritt ohne Pausen. Im Gegensatz zum RAD-Barackenlager war der gesamte Gebäudekomplex der Gneisenau-Kaserne neu, groß, weitläufig und äußerst modern.

      Küche, Speisesaal, Stuben und Sanitäranlagen, bestehend aus WC und Duschen, waren neuwertig und großzügig bemessen. Die Verpflegungsportionen aus der Mannschaftsküche waren ausreichend und schmackhaft. Trotz des Drills und der rauen Tonart empfand ich den Aufenthalt in der Kaserne angenehmer als im RAD-Lager. Irgendwie fühlten wir uns schon wie Altgediente im Gegensatz zu den Neuen, die unmittelbar von Schule und Lehre zum Militär eingezogen worden waren und außer in der Hitlerjugend keinerlei ideologische Indoktrinierung und paramilitärische Ausbildung erfahren hatten. Darunter gehörten insbesondere auch aktive Landwirte, die nicht zum RAD eingezogen wurden, und Abiturienten, die teilweise schon ein wenig älter waren.

      Die ersten Tage und Wochen waren für diese Kameraden besonders hart und ungewohnt. Die Grundausbildung war kein »Zuckerschlecken«, doch nach einer gewissen Zeit gewöhnte man sich an die vielen Neuerungen, Strapazen und Unannehmlichkeiten. Bis auf ganz wenige Ausnahmen waren alle nach kurzer Zeit dem straffen Drill gewachsen.

      In den ersten beiden Tagen wurden 250 Mann eingezogen. Als ich in meiner Zwölf-Mann-Stube im ersten Stock eintraf, traute ich meinen Augen kaum. Da stand doch mit dem Rücken zu mir und schon fleißig beim Bettenmachen mein Freund, der Metzgergeselle Paul Seidenfuß aus Koblenz, vor mir.

      »Mensch Paul, du alter Pferdemetzger! Das gibt es doch nicht. Sag mir, dass mich keine Halluzinationen reiten. Wie kommst du denn ausgerechnet zur gleichen Zeit in die gleiche Kaserne und auf dieselbe Stube wie ich?«

      »Das kann kein Zufall sein und ist gewiss ein gutes Omen«, entgegnete mir Paul und lachte dabei vor Freude, während wir uns herzlich umarmten.

      »Jetzt, wo wir nach so kurzer Zeit schon wieder zusammen sind, kann uns in diesem Krieg absolut nichts mehr passieren.«

      Nur wenige Augenblicke später trat ein weiterer Kamerad in unsere Stube und hatte dabei wohl unsere Begrüßungszeremonie von vorhin mitbekommen.

      »Ich heiße auch Paul, Paul Severin, und komme aus Andernach.« Der nun dritte Kamerad im Bunde war fast noch einen Kopf größer als ich, Abiturient und fand als kompletter Neuling die ersten Tage bei der Wehrmacht weitaus belastender als wir beide. Auch mit diesem netten Gesellen wurden wir schnell Freund. Wir hatten alles in allem Glück mit unserer Einberufung, denn wir konnten den allgemeinen Militärdienst in unserer Heimatstadt Koblenz ableisten.

      Dabei verfolgten wir aufmerksam die tagtäglichen Propagandanachrichten und Frontberichte. Danach war die deutsche Wehrmacht seit der Frühjahrsoffensive im Osten in unaufhaltsamem Vormarsch gegen Stalins Rote Armee. Eine russische Armee nach der anderen kapitulierte. Riesige Gebiete in der Ukraine wurden erobert. So verrichteten wir unseren Dienst in der Hoffnung, dass der Krieg bald gewonnen wäre und wir nicht mehr an die Front müssten.

      Früh morgens um 5:00 Uhr weckte uns der UvD mit fürchterlichem Brüllen, das durch die langen Gänge unseres Kompaniegebäudes hallte. Dann kam das übliche Morgenritual, das wir bereits kannten: Frühsport, waschen, Stuben und Revier reinigen, frühstücken und um 7:00 Uhr antreten. Danach erfolgten Unterricht über alle Aspekte des Militärwesens, Exerzieren auf dem Kasernenhof, Sanitätsausbildung, Instruktionen zur Gasmaske, Schießausbildung mit dem Karabiner 98k, der Pistole 08 und dem neuen MG 42. Wir waren schließlich bei der deutschen Infanterie, der »Königin der Waffen«, wie es im Landserjargon hieß. Ich allerdings vermochte den Vergleich mit einer Königin nicht nachzuvollziehen, sondern hatte eher den Eindruck, dass wir die ärmsten Schweine der Wehrmacht seien – und ehrlich gesagt, wir waren es bereits jetzt und wurden es an der Front erst richtig.

      Die Tage waren oft sehr lang, und wir fielen abends todmüde ins Bett. Wir versuchten, in den wenigen zur Verfügung stehenden Stunden so viel Schlaf wie nur möglich zu erhalten.

      Durch


Скачать книгу