ARKADIA. Bernhard Kempen
»Ich bin eine Frau!«, ruft Rocky entrüstet. »Und noch viel mehr!«
»Genau das ist der Punkt, der mich stören würde«, entgegne ich.
»Apropos stören …«, sagt Thela mit nachdenklicher Miene. »Entschuldige meine Neugier, aber müssten dir nicht deine Eier im Weg sein, wenn du dich … wie soll ich sagen? … in der Missionarsstellung bumsen lässt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Spaß macht, wenn man dabei diese Dinger zwischen den Beinen hat. Zumal die Hoden ja äußerst schmerzempfindlich sind.«
»Auch dieses Problem konnte ich auf geradezu elegante Weise lösen«, sagt Rocky und steigt vom Schreibtisch, um es ihr anschaulich zu demonstrieren. »Schau mal, wenn ich meinen Finger in die Möse schiebe, sorgt die sexuelle Erregung dafür, dass sich der Hodensack zusammenzieht, wodurch die empfindlichen Stücke aus der Gefahrenzone gebracht werden. Aber im Prinzip hast du recht, in dieser Stellung sollte mich ein männlicher Liebhaber nicht allzu stürmisch nehmen.«
Können Sie vielleicht ein wenig nachfühlen, dass mir diese … dieses Geschöpf immer unsympathischer wird? Auch Thelas Begeisterung für Rockys Lieblingsspielzeug scheint sich in Grenzen zu halten.
»Trotzdem verstehe ich dich nicht«, sagt Thela kopfschüttelnd. »Wozu das Ganze? Mir reicht es völlig aus, wenn ich einen ganz normalen Orgasmus habe.«
»Weil du noch nie gleichzeitig mit einem Mann und einer Frau Sex hattest«, erklärt Rocky verzückt. »Weil du dir nicht vorstellen kannst, wie es ist, zwei Orgasmen gleichzeitig zu haben!«
»Angeber!«, ruft Carl lachend.
»Und Angeberin!«, setzt Thela hinzu.
»Kannst du dir vorstellen, dass es im Leben außer Sex noch ein paar andere Dinge gibt, die Spaß machen können?«, frage ich angewidert.
»Natürlich ist Sex nicht alles«, antwortet Rocky. »Aber was ist verkehrt daran, möglichst viel Vergnügen daran zu haben?«
»Ich finde deine Fixierung etwas … monströs«, sage ich vorsichtig.
Rocky zuckt nur mit einer Schulter. »Ich gebe zu, dass ich in gewisser Weise ein Monstrum bin«, sagt sie. »Aber das Leben sucht ständig nach neuen Möglichkeiten. Ohne Veränderungen gäbe es keine Entwicklung, hätte es nie eine Evolution gegeben. Ich bin ein Experiment. Ich habe nur das in mir vereint, was bislang auf zwei Hälften der Menschheit verteilt war. Ich weiß nicht, ob es eine Perspektive für die menschliche Zukunft ist, aber mir gefällt es, wie ich bin! Und wir können noch viel mehr tun. Auf der Erde hat man mit der Gentechnik bereits große Fortschritte in der Bekämpfung von Krankheiten erzielt, die jahrhundertelang als unheilbar galten – die man nicht einmal als Krankheiten erkannt hat, sondern für menschliches Schicksal hielt. Wir stehen zwar noch ganz am Anfang, aber wir haben damit begonnen, die menschliche Evolution selbst in die Hand zu nehmen. Wir machen uns von den Launen der Natur unabhängig. Wir sind nicht mehr auf zufällige Mutationen angewiesen, die sich erst im Laufe vieler Generationen auswirken. Endlich haben wir die Möglichkeit, über uns selbst hinauszuwachsen!«
3
Das muss ich erst einmal verdauen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass mir dieser Brocken noch lange Zeit schwer im Magen liegen wird. Jedenfalls fühle ich mich erst etwas besser, nachdem ich mich für eine Weile in mein Apartment zurückgezogen habe.
Als ich gerade den Rest meiner Sachen ausgepackt und in den Schränken verstaut habe, ruft July über das Multifunktionsterminal an. Da ich noch keine konkreten Pläne für den Abend habe, wie man sich denken kann, verabreden wir uns in der Terrassenbar, einem beliebten Treffpunkt der Arkadier, den July mir bereits während unseres Spaziergangs gezeigt hat. Bevor ich mich auf den Weg mache, werfe ich mich in Schale, in einen leichten, ultralässigen Freizeitanzug von Belew, auf der Erde wirklich der letzte modische Schrei. Was das Outfit der übrigen Barbesucher betrifft, erübrigt sich wohl jeder Kommentar. Ich fühle mich im wahrsten Sinne des Wortes und in jeder Hinsicht overdressed.
»Hallo, Adrian!«, ruft July, die von ihrem Tisch in einer Ecke aufsteht und mir ein Stück entgegenkommt. »Falls du Angst hast, dich zu erkälten – so etwas kann dir auf Arkadia nicht passieren«, bemerkt sie mit einem anzüglichen Grinsen. Diesmal kann sie jedoch ihr Temperament beherrschen und legt mir zur Begrüßung lediglich die Hände an die Wangen.
»Im Gegenteil, die Isothermfasern dieses Anzugs sorgen ständig für eine optimale Hauttemperatur«, kontere ich. »Anscheinend hat sich diese segensreiche Erfindung noch nicht bis in diesen Winkel der Galaxis herumgesprochen.«
»Wir sind eben sehr konservativ in unserer Einstellung zur Mode.«
»Es nervt allmählich!«, erwidere ich ungehalten. »Warum müsst ihr ständig auf diesem Thema herumreiten? Es ist ganz allein meine Sache, wie ich herumlaufe!«
»Merkst du nicht, dass du überall Aufsehen erregst?«, fragt July zurück. »Wir sind es gewohnt, mit dem ganzen Körper zu kommunizieren. Für dich wäre es wahrscheinlich so, als würde dein Gesprächspartner eine Gesichtsmaske mit Augenschlitzen tragen – oder als würde ich dir den Rücken zukehren, während ich mit dir rede.«
Ich kann mir im letzten Augenblick eine böse Erwiderung verkneifen und rufe mir ins Gedächtnis, dass ich diese Reise unternommen habe, um die Bewohner dieses seltsamen Planeten näher kennenzulernen.
»Okay, ich habe verstanden«, sage ich beschwichtigend, »Aber du kannst nicht von mir erwarten, dass ich mich von euch einfach so zum Nudismus bekehren lasse. Ich möchte irgendwann wieder in die Zivilisation zurückkehren.«
»Gut, lassen wir das Thema fürs Erste ruhen«, lenkt July ein und führt mich zu ihrem Tisch, wo sie mich einem jungen Mann vorstellt.
»Das ist Fawn«, sagt sie, »einer meiner zahlreichen Neffen. Er hat noch nie einen richtigen Erdling aus der Nähe gesehen.«
Fawn lächelt mich freundlich an und streckt mir unbeholfen eine Hand entgegen.
»Hallo!«, begrüße ich ihn und schüttele ihm die Hand. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass July ihm vor unserer Begegnung eingetrichtert hat, allzu intensiven körperlichen Kontakt zu mir zu vermeiden. Braver Junge!
»Ich habe alle deine Artikel gelesen«, sagt Fawn. »Sie sind … äußerst aufschlussreich.«
»Wie darf ich das verstehen?«, frage ich neugierig.
Fawn runzelt die augenbrauenlose Stirn unter der kahlen Schädeldecke und kratzt sich gedankenverloren am haarlosen Sack, vor dem sein kurzer, aber recht dicker Schwanz baumelt. Als vorwiegend heterosexueller Mann komme ich nur selten dazu, mir Gedanken über die Sexualorgane meiner Geschlechtsgenossen zu machen, aber wie mir in diesem Augenblick bewusst wird, entwickelt man auf Arkadia sehr schnell einen Blick für die individuellen Unterschiede in Größe und Form.
»Nun«, beginnt er, »die Art, wie du schreibst, lässt eine Menge Rückschlüsse auf die verklemmte Sexualität der Erdmenschen zu.«
Plötzlich ist mir der junge Mann gar nicht mehr so sympathisch.
»Fawn studiert Soziologie an der Universität von Arkadia«, erklärt July, während wir Platz nehmen. »Er kann dir einige unserer fremdartigen Sitten vielleicht etwas besser erklären als ich.«
»Erwarte nicht zu viel von mir«, sagt Fawn. »Ich bin erst im zweiten Semester.«
»Genau deswegen habe ich dich mitgebracht«, sagt July und legt ihm einen Arm um die Schulter. »Du bist noch jung und unverdorben. Adrian will bestimmt keine akademischen Vorträge hören, sondern Erfahrungen aus erster Hand sammeln.«
»Vorhin hast du mir gesagt, ich soll die Finger von ihm lassen!«, erwidert Fawn mit einem verschmitzten Grinsen.
Ich habe das Gefühl, dass mir dieser Kerl immer unsympathischer wird.
Als