Henrici. Hans-Jost Frey

Henrici - Hans-Jost Frey


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      Das H

      Heilig ärgerte sich darüber, dass er so hiess, nicht nur weil er aus der Kirche ausgetreten war und nichts von Heiligkeit hielt, sondern auch, weil man ihn in Frankreich immer Eilig nenne, was er, weil er dort immer in den Ferien weile, ebenso wenig wie heilig sei. Als bei einer seiner Reisen der Polizist, der ihn wegen übersetzter Geschwindigkeit angehalten hatte, seinen Namen ohne H aussprach, hatte er ihm empört „Ha! Ha! Ha!“ zugerufen, worauf er beinahe wegen Beamtenbeleidigung zusätzlich gebüsst worden wäre. Henrici, dem er sein Leid klagte, versuchte ihn damit zu trösten, dass es nicht wichtig sei, was der Name bedeute, da es doch allein darauf ankomme, dass damit er, Heilig, gemeint sei, worauf Heilig entgegnete, gerade dies widerstrebe ihm ja, mit Heiligkeit und Eile gemeint zu sein. „Immerhin“, meinte Henrici, „muss man dem Polizisten zugutehalten, dass er annehmen durfte, du habest es eilig, da du zu schnell fuhrst. Heilig hat es eilig ist eine Art Übersetzung von Nomen est Omen, und vielleicht ist dein Name daran schuld, dass du in Frankreich zu schnell fährst. Dies und deine Beziehung zur Polizei wird doch wohl verhindern, dass irgend jemand dich noch für einen Heiligen hält.“ Heilig blickte Henrici etwas misstrauisch an, weil er nicht sicher war, ob dieser sich vielleicht über ihn lustig machte, aber Henrici versicherte ihm, er spreche ganz ohne Hohn, und im Übrigen könne am Ende jeder zu seinem Namen, selbst wenn er ihn als Albtraum erlebe, der vielleicht auch nur ein Halbtraum sei, nur Amen sagen.

      Das Problem

      Als Henrici am Morgen beim Aufstehen daran dachte, dass er nun schon eine ganze Weile allein sei, weil alle seine Bekannten aus den verschiedensten Gründen verreist waren, fragte er sich, was ihm nun eigentlich fehle. Die naheliegende Erklärung, dass es einfach der Umgang mit seinen Freunden sei, wollte er so nicht gelten lassen, weil sie zu allgemein war und sofort die weitere Frage nach sich zog, warum ihm die Gesellschaft der anderen wichtig war. Beim Nachdenken darüber fiel ihm auf, dass die, denen er begegnete, meistens entweder mit einer Schwierigkeit beschäftigt waren oder aber die Schwierigkeit übersahen, die sich in ihrer Beschäftigung verbarg. Henrici fand dann jeweils, was ihm jetzt ein von Selbstgefälligkeit nicht ganz freies schlechtes Gewissen klarmachte, seine Rolle darin, die Probleme der einen zwar nicht zu lösen, aber zu entkräften und hinfällig erscheinen zu lassen, die anderen hingegen auf die Probleme aufmerksam zu machen, die ihnen entgangen waren. Es mussten also die Probleme der anderen sein, die ihm ihre Gesellschaft wertvoll machten. Als Henrici abends beim Zubettgehen merkte, dass er sich damit auf sein eigenes Problem aufmerksam gemacht hatte, das darin bestand, dass ihm die Probleme der anderen fehlten, ging ihm vor dem Einschlafen die Frage durch den Kopf, was er nun damit anfangen sollte.

      Das Rad

      Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung im Zug zu sitzen mochte für Nostalgiker, denen das Ziel egal ist, oder für einen, der las und es in jeder Lage vor sich, im Buch, hatte, keine ernste Sorge sein, aber wie sollte ein Unentschiedener, dem sich noch beim Reden die Dinge im Kopf drehten, damit zurechtkommen, dass vorn auf einmal hinten war, ohne dass man doch annehmen konnte, man bewege sich dorthin, woher man kam, dachte Henrici, der froh sein musste, in dem von Heimwärtsstrebenden zum Bersten vollen Wagon wenigstens einen Sitzplatz gefunden zu haben. Draussen war es Nacht und nichts zu sehen, und da keine sichtbaren Gegenstände die Fahrtrichtung zu ermitteln erlaubten, setzte sich in ihm die Vorstellung fest, der Zug fahre in der Gegenrichtung, bis ein plötzlich irrsternartig vorbeiflitzendes erleuchtetes Fenster seinem Körpergefühl allen Halt entzog und für einen Augenblick die beiden gegenläufigen Bewegungen nicht etwa, sich aufhebend, zum Stillstand kamen, sondern gleichzeitig, jede die andere überlistend, mit gleicher Stärke erfahren, die einspurige Strecke in Anspruch nahmen, die der Zug, von einem doch wohl seinen Beruf ernstnehmenden Lokomotivführer gelenkt, befuhr. Henrici, innerlich stolpernd, hielt sich am Polster fest, um die Spirale, in die er schwindelnd geraten war, zu stabilisieren. Sein Blick fiel auf die Frau gegenüber, die einen Artikel las, von dessen Titel nur das Wort Radar zu erkennen war, während auf der ihm zugekehrten Frontseite der Zeitung die Schlagzeilen Wie es im Knast stank und Opfer rettet Täter nicht zu vermeiden waren. Es fielen ihm Filme von der alten, flimmernden Art ein, die nur noch selten liefen, und in denen man sehen konnte, wie Räder anfingen, sich rückwärts zu drehen, obwohl der Wagen, an dem sie angebracht waren, ohne auseinanderzubrechen weiterfuhr.

      Das Unkraut

      Henrici unterbrach seine Schreibtischarbeit, um im Garten das vernachlässigte Beet, das er im Frühjahr zu bepflanzen dachte, zu jäten. Er kauerte, die kleine Hacke in der rechten Hand, mit gekrümmtem Rücken wie ein grosses G über dem unerwünschten Grünzeug, das es, möglichst mit allen sich verästelnden oder pfahlartig in die Tiefe stechenden Wurzeln auszureissen galt, eine Arbeit, der etwas abzugewinnen ihm ebenso viel Mühe bereitete wie sie selbst, bis ihm einfiel, Unkraut sei doch eigentlich das Kraut, das keines ist und sozusagen gegen alles wirklich Krautige, es überwuchernd, wächst. Das liess ihn, warum auch immer, an seinen Schreibtisch denken. Konnte man nicht die vielen Arten von Unkraut als Laute oder Buchstaben auffassen, mit denen die Natur ihre Schwatzhaftigkeit auslebte und sich über die blumigen Figuren künstlich angelegter Gärten lustig machte? Aber das hiess auch, dass man den mit Unkraut beschriebenen Flecken Erde, den man jätete, las, indem man das Gewächsalphabet aus ihm entfernte und ihm Zeichen um Zeichen seines Textes entriss. Die Möglichkeit, Jäten als beseitigendes Lesen zu begreifen, beflügelte Henricis Eifer, und als er nach zwei Stunden seine steifen Glieder streckte und die Gestalt eines I zurückzugewinnen suchte, blickte er voller Befriedigung auf das leere Blatt, das er hergestellt hatte, und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

      Das Wirkliche

      Voss vermied es, Meinungen zu äussern, indem er andere nach der ihren fragte, die er dann in langen Auseinandersetzungen zersetzen konnte. Wenn jemand ihm eine Frage stellte, antwortete er stets mit einer Gegenfrage, um doch noch eine angreifbare Aussage zu provozieren. Nachdem Henrici während anderthalb Flaschen Bordeaux alle seine Antworten hatte zerfragen lassen, wollte er, ungeduldig geworden, von Voss erfahren, was er sich von seinem pausenlosen Fragen verspreche. „Halten Sie Fragen für fragwürdig?“ fragte darauf Voss. „Ja und nein“, sagte Henrici, „es kommt drauf an, was Sie mit fragwürdig wirklich meinen.“ Wie immer hütete sich Voss, etwas zu meinen, und murmelte, sich seinem Weinglas zuwendend, er frage sich, woher er wohl wüsste, was wirklich sei, wenn nicht andere ihm immer wieder zu verstehen gäben, was sie darunter verstünden. „Aber das Wirkliche ist doch nicht etwas, wonach man fragen kann, es ist das, was zustösst“, rief Henrici beinahe wütend. „Sehen Sie?“ fragte Voss.

      Der Apfel

      Eine literarische Zeitschrift veranstaltete eine Umfrage, die ermitteln sollte, was Stil ist. Eine ganze Reihe wichtiger Schriftsteller beteiligten sich mit Beiträgen, in denen sie mit der ihrer Bedeutung angemessenen Ausführlichkeit ihre eigene Schreibweise beschrieben und diese, ohne zu zögern, weil sie es nicht bemerkten, mit dem Stil im allgemeinen gleichsetzten. Die einzige Antwort, mit der Henrici etwas anfangen konnte, stammte von einem unbekannten und daher wohl unbedeutenden Autor: „Stil ist das, was vom Apfel bleibt, wenn man ihn isst.“ Das Besondere an dieser Definition war, dass sie sich sogleich und einfach überprüfen liess. Als Henrici, um dies zu tun, in die Küche ging, musste er feststellen, dass kein Apfel mehr auf der Fruchtschale lag. In der Not verzehrte er stattdessen eine Birne. Als er damit fertig war, hielt er nichts in der Hand als das verholzte Ende, an dem die Frucht aufgehängt gewesen war. Während er es etwas enttäuscht betrachtete, fiel ihm ein, dass es vielleicht doch auf den Apfel ankomme.

      Der Baum

      Beim Spazieren im Wald bemerkte Henrici einen Baum, der in den Himmel wuchs. Nach Hause zurückgekehrt, rief er die Forstverwaltung an und meldete seine Beobachtung. Der Mann am anderen Ende zeigte sich kaum beunruhigt und meinte, es komme darauf an, wo der Himmel anfange, und auch wenn man die Krone nicht mehr erkennen könne, sei das bei dem nebligen Wetter, das wir ständig haben, und bei der allgemein unsicheren Weltlage noch kein schlüssiger Hinweis. Und selbst wenn es so wäre, was konnte man dagegen tun? Henrici schlug vor, das Übel an der Wurzel zu packen und den Baum zu fällen. Das sei, gab man ihm zu verstehen, aus technischen


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