Der Tod läuft mit. Peter Gerdes
der Worte, die keine Bedeutung zu haben schienen.
Die nächste Richtungsänderung warf ihn wieder zurück in die Realität des Leidens. Ein Streckenposten mit orangefarbener Weste, vollkommen bewegungs- und teilnahmslos dastehend, markierte durch seine schiere Existenz einen 90-Grad-Knick der Strecke in den Wald hinein. Harter Asphalt wurde von weichem Waldboden abgelöst, die stechende Sonne von kühlendem Schatten, all das aber war nichts gegen die Tatsache, dass er sich des Laufens schlagartig wieder bewusst wurde. Seinem Hintermann schien es ebenso zu gehen; Marian hörte ihn husten und stöhnen.
Mehr als ein Gehölz konnte das hier eigentlich nicht sein, aber es sah wahrhaftig nach Wald aus, und es roch auch nach Wald, was Marian vor allem deswegen angenehm fand, weil er schon seit geraumer Zeit einen Geruch wie von Klobeckensteinen in der Nase hatte. Verwitterte Baumreste ruhten rechts und links des Weges auf braunen Nadelteppichen, einer an eine Riesenschildkröte erinnernd, ein anderer an ein stachelbewehrtes Fabeltier. Schön, dachte er. Eins zwo, eins zwo.
Schon wurde das Wäldchen wieder lichter, und zwischen schlanken, kahlen Nadelbaumstämmen konnte er einen Wall aus Erde und zusammengeschobenen Baumstümpfen erkennen, überragt von Hausdächern. Also doch nur ein Gehölz. Aber immerhin.
Vor ihm tauchten vereinzelt Zuschauer auf, und ihm wurde bewusst, dass er minutenlang vollkommen allein gelaufen sein musste. Na ja, relativ allein; die Kurven des gewundenen Waldwegs verbargen die vor ihm Laufenden, und wer hinter ihm war und wie nah, wusste er nicht, denn sein Atem übertönte jedes Laufgeräusch, und sich umzudrehen traute er sich nicht.
Plötzlich erklang eine Trommel, ein Paar Kongas vielmehr, von kundigen Händen geschlagen in einem stimulierenden Rhythmus. Die Strecke schnitt jetzt die Siedlung, und ein paar Leute hatten nicht nur für Musik gesorgt, sondern tatsächlich auch einen Erfrischungsstand aufgebaut. Trotz seiner brennenden Augen überkam Marian ein Glücksgefühl, getragen von tiefer Dankbarkeit.
Im selben Augenblick nahm er eine Bewegung links neben sich wahr. Der Mann, der ihn da überspurtete, mochte gut doppelt so alt sein wie er, 60 Jahre oder mehr, mit fast weißen, gewellten Haaren über einem borstigen Nacken und altersfleckiger, an Oberarmen und Schultern erschlaffter Haut. Aber er war schlank und groß, hatte lange, sehnige Arme und Beine, und er war ganz offensichtlich fit. So fit, dass er Marian beim Überholen ein freundliches, aufmunterndes Lächeln widmen konnte, dazu einen dieser Blicke, die bei aller Freundlichkeit vor allem Überlegenheit transportierten und ein wenig Hohn. Marian sah in ein markantes Gesicht, dessen dominanter Ausdruck von senkrechten Falten noch betont wurde. Das Gesicht eines gewohnheitsmäßig Erfolgreichen. Ein Chefgesicht. Ein wohlbekanntes Gesicht, das Marian alle paar Tage aus seiner eigenen Zeitung entgegenzulächeln pflegte. Wie lautete doch gleich der dazugehörige Name? Ein merkwürdiger Name, hinten schlicht und vorne albern. Er war da, irgendwo dort hinter seinen Augen, holpernd im Rhythmus seiner Laufschritte, und es hätte nur einer kleinen Anstrengung bedurft, ihn sich vor Augen zu führen. Aber wozu? Er hatte keine Energie zu verschenken.
Der Überholer ignorierte den Tapeziertisch mit den Wasserbechern, lief weiter mit vorbildlich gestreckter Wirbelsäule und geraden Schultern. Fast wäre Marian ihm gefolgt, plötzlich beflügelt vom Trotz, der ihm schon über manche Klippe geholfen, ihn aber auch in manche Klemme getrieben hatte. Dann jedoch siegten Durst und Vernunft, und er bremste ab.
»Möchtest du so eine Figur haben?«, fragte eine Stimme auf der anderen Straßenseite. Marian, der seinen Becher in einem Zug halb geleert hatte, schaute misstrauisch hinüber, während er sich den Rest des Wassers über den glühenden Nacken schüttete. Aber die beiden grün uniformierten, knorrigen Männer, die dort standen, meinten nicht ihn; sie starrten dem großgewachsenen Überholer nach, dessen extrem schlanken Körperbau sie nicht für erstrebenswert zu halten schienen. Tatsächlich wirkte der Mann von hinten übermäßig leptosom, fast dürr, seine Beine unnatürlich lang und knotig, die Oberarme mager. Die Schönheit liegt eben doch im Auge des Betrachters, dachte Marian, und wo nichts ist, da ist nichts. Dankbar grinsend ergriff er einen nassen Schwamm, der ihm hingehalten wurde, nahm die Brille ab und wischte sich über Stirn und Augen. Dann ließ er den Schwamm fallen und lief weiter.
Auch der lange, dürre Mann bekam seine Erfrischung. Im Vorbeilaufen drückte ihm ein Helfer einen nassen Schwamm in den Nacken. Marian bekam es gerade noch mit, während er sich seine Brille wieder aufsetzte. Der Erfolgsmensch schien nicht gerade erfreut zu sein. Marian sah, wie er den Kopf zur Seite wandte und etwas rief. Der freundliche Helfer drehte sich weg.
War wohl nicht die richtige Wassersorte, dachte Marian, der Herr bevorzugt offenbar »Evian«. Wahrscheinlich aber gefiel diesem Menschen grundsätzlich nichts, was er nicht selber bestellt und angeordnet hatte. Und wenn eine Kühlung nicht von ihm befohlen war, dann fiel es ihm eben überhaupt nicht ein, sie zu genießen.
Da lag der Schwamm im Gras am Rand der Laufstrecke, nicht weit von der Stelle, wo er zu Boden gefallen war. Ein orangefarbener Schwamm, dunkler als der gelbe, den Marian zuvor bekommen hatte, und auch etwas größer. Vom Streckenposten keine Spur. Dem war wohl die Lust vergangen; Marian konnte es ihm nicht verdenken. Ob er den Schwamm ins Gebüsch kicken sollte? Nein, lieber nicht. Gerade war er wieder im Rhythmus, da wollte er lieber nichts riskieren.
Merkwürdig nur, dass dieser Helfer trotz der Hitze eine langärmlige Jacke getragen hatte. Und merkwürdig blasse Hände hatte er gehabt. Aber das lag wohl daran, dass die Haut vom vielen Anfeuchten schon ganz aufgequollen war.
Das erinnerte Marian daran, dass die Spitzengruppe vermutlich schon lange im Ziel war. Und das Schlusslicht nicht mehr fern.
Sofort war der Durst wieder da. Ächzend stolperte er weiter.
4
Traurig, dachte Stahnke, einfach nur traurig. Wie kann der Mensch so tief sinken. Hängende Schultern, schlackernde Arme und die Fußsohlen knallen aufs Pflaster, dass er die Schläge bis hinauf in sein armes, gemartertes Hirn spüren muss. Wenn er überhaupt noch etwas spürt, so wie er nach Luft schnappt, mit vorgestülpten Lippen, krampfhaft und verzweifelt wie ein Fisch auf dem Karren kurz vor dem Markt. Grellrote Flecken im Gesicht und glasige Augen – der hat glatt durch mich hindurchgesehen. Da fragt man sich nicht: Wo läuft der denn hin? Da fragt man sich doch nur: Wovor läuft der wohl weg?
Stahnke schwang das rechte Bein über den Sattel seines gelben Fahrrades, erspähte eine Lücke im Läuferstrom, trat an und fädelte sich ein, Marians schwankenden Rücken immer im Blick. Kurz vor Holtland würde er ihn überholen und ihn dann, wie geplant, am Ziel erwarten. Bis dahin konnte er ebenso gut noch ein bisschen zuschauen, sich ein bisschen daran weiden, wie sich der Mann da vorne quälte.
Mit dem Fahrrad hatte er überhaupt keine Probleme, sich dem Tempo der Läufer anzupassen. Die grobstolligen Reifen schienen ganz von allein zu rollen, die Pedale ließen kaum Widerstand spüren, während seine Finger die Gänge durchprobierten. Spielerisch leicht klickten die Hebel, das Hoch- und Herunterschalten ging absolut narrensicher. Ein schönes Spielzeug, in der Tat.
Wie nannte man das, wie er sich jetzt fühlte? Glücklich etwa? Glücklich, weil er hier an diesem schönen, sonnigen Tag auf einem hochmodernen Fahrrad dahinrollte, während alle anderen sich zu Fuß abquälen mussten? Stahnke fand den Gedanken pervers. Etwas frische Luft, ein Mangel an Mühe, ein funkelndes Stück Besitz, ein Vorteil gegenüber den Mitmenschen – doch, schon möglich, dass es Leute gab, die sich ihr Glück so definierten. Nicht nur möglich, sondern todsichere Tatsache. Aber Stahnke verbot sich das. Seit der Trennung von Katharina hatte Glück außerdem für ihn aufgehört zu existieren.
Was für ein Unsinn! Heftig schüttelte er den Kopf, hielt aber gleich wieder inne, schließlich war er hier nicht allein. Diesen theatralischen Quatsch nahm er sich nicht einmal mehr selber ab, und für seinen dämlichen Hang zum Selbstmitleid konnte er sich selber hassen. Katharina hatte eine Entscheidung gefällt, und er hatte eine Weile darunter gelitten. Beides nicht unnormal, mit einigem Abstand betrachtet. Die außergewöhnliche Länge seines Leidens hatte vor allem mit verletztem Stolz zu tun gehabt. Mittlerweile aber diente dieser gut konservierte Schmerz doch nur noch dazu, Entscheidungen zu vermeiden und Untätigkeit zu begründen. In seinen ehrlichen Momenten gestand er sich das ein. Ein solcher hatte ihn offenbar gerade