Der Tod läuft mit. Peter Gerdes

Der Tod läuft mit - Peter Gerdes


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beabsichtigt in die Pedale getreten und musste nun abstoppen, um nicht auf den Läufer direkt vor ihm aufzufahren. Ein älterer Herr, lang und dürr. Stahnke hatte ihn noch nie in Turnhose und ärmellosem Leibchen gesehen, aber er erkannte ihn sofort, allein schon an dieser schneeweißen Tolle, die auch beim Laufen makellos in Form blieb, als wäre sie mit Spray fixiert. Was sie vermutlich auch war.

      Wendelin Krüger. Stahnke kannte den Mann gut, was weiter kein Wunder war, schließlich prangte Krügers Bild seit Monaten alle paar Tage in der Zeitung. Geschäftsführer einer Tochterfirma der Opto-Werke, des größten Arbeitgebers weit und breit, Mitglied im IHK-Vorstand, Gastprofessor an der Fachhochschule in Emden, Wirtschaftskolumnist in diversen Blättern. Kürzlich erst hatte die Regionalzeitung einen großen Artikel über ihn gebracht: »Ein Mann arbeitet für Ostfrieslands Wohlstand«. Ganz allein offenbar und im Gegensatz zu allen anderen, das jedenfalls schien die Überschrift zu suggerieren. Stahnke hatte sich mächtig darüber geärgert, das wusste er noch gut.

      Aber er hatte den Mann auch schon vor dessen jüngstem Popularitätsschub gekannt. Wendelin Krüger, Im- und Export, vor allem Rohkaffee und Schalenfrüchte. Keine sehr glanzvolle Erscheinung damals. Umweltschützer und Gesundheitsfanatiker hatten noch vor kurzem einige seiner Lager verwüstet, angeblich, weil Krüger verdorbene und giftstoffhaltige Lebensmittel in den Handel brachte. Stahnke hatte damals gegen Unbekannt ermittelt, wegen Vandalismus, seine Kollegen vom Betrugsdezernat gegen Krüger selbst, wegen Verstoßes gegen irgendwelche lebensmittelrechtlichen Paragraphen. Beide Verfahren waren eingestellt worden. Stahnke hatte Krüger als zwielichtig eingestuft und sich vorgenommen, ihn im Auge zu behalten. So war er Zeuge eines erstaunlichen Aufstiegs geworden.

      Die Strecke knickte ab in den Wald und Stahnke musste sich etwas mehr aufs Fahren konzentrieren, denn der Boden war hier locker und voller Furchen und glatter Tannennadeln. Es roch unangenehm modrig; er hasste diesen pilzigen Waldgeruch, atmete verstärkt durch den Mund, um ihn so wenig wie möglich wahrnehmen zu müssen, wurde dann aber von der Vorstellung überfallen, wie winzige Sporen mit der Atemluft in Hals und Lunge eindrangen und sich ein grünlich-weißer Schimmelpelz in seinem Körper auszubreiten begann, grünlich-weiß wie der VW-Bulli von Rieken und van Dieken. Stahnke stöhnte auf, hustete krampfhaft und hielt dann die Lippen fest aufeinander gepresst.

      Zum Glück war das Gehölz nicht sehr groß. Schon wurde es lichter, Zuschauer tauchten am Wegesrand auf, Trommeln waren zu hören. Krügers bolzengerader Rücken direkt vor ihm schien sich noch mehr zu strecken, die langen Beine holten noch raumgreifender aus. Stahnke sah, wie Krüger sich anschickte, Marian zu überholen, während der gerade auf den Erfrischungsstand zuhielt wie ein schlingerndes Wüstenschiff auf eine Oase. Der Hauptkommissar bremste ab, unschlüssig, ob er nun hinter Marian bleiben oder die Gelegenheit zum Überholen nutzen sollte, um vor ihm am Ziel zu sein. Dann hielt er an, keine fünf Meter vom Getränketisch entfernt.

      Marian trank nicht, er soff, fand Stahnke. Unbeherrscht und unästhetisch, wie nur Menschen saufen konnten. Es war nicht fair, für so etwas denselben Ausdruck zu benutzen wie für die kontrollierte und wohl dosierte Wasseraufnahme von Tieren.

      Jetzt goss er sich den Rest aus seinem Becher sogar noch über den Nacken und presste sich einen nassen Schwamm ins Gesicht. Keine Haltung, der Mann. Lässt sich gehen. Statt seine Erschöpfung tapfer zu verbergen, drängt er sie geradezu exhibitionistisch seiner Mitwelt auf. Da könnte er sich wirklich ein Beispiel an Wendelin Krüger nehmen, der kam ohne solche Mätzchen aus. Na ja, nicht ganz; aus den Augenwinkeln konnte Stahnke sehen, dass auch Krüger nicht ohne nassen Schwamm davonkam. Offenbar war das so etwas wie ein Ritual, dem man sich als Läufer eben unterwerfen musste. Merkwürdiges Volk, diese Läufer, dachte Stahnke. Ich werde sie nie begreifen.

      Marian lief jetzt weiter und auch Stahnke nahm wieder Fahrt auf. Fast hätte er mit seinem Fahrrad einen Läufer gerammt, der aus dem Gebüsch am Rand der Strecke hervorgebrochen kam wie ein dunkellockiger Büffel, ein schwerer, aber ziemlich fit wirkender Bursche etwa in seinem Alter, der ihn gar nicht wahrzunehmen schien, sondern schnurstracks an Marian vorbei den vorderen Teilen des Läuferfeldes zustrebte. Wie das Leben so spielt, überlegte Stahnke, der den Mann sofort erkannt hatte: Die einen trinken, und die anderen müssen pinkeln. Fast wie bei den Daltons: Joe säuft Whisky, und Averell wird betrunken. Sweet Genevieve.

      Eine Zeile aus einem John-Lennon-Song stand ihm plötzlich vor Augen: »Life is what happens to you, while you’re busy making other plans.« Gar nicht schlecht. Der Mann kannte sich aus mit dem Leben. Vielleicht wurde er ja deshalb ermordet. »Es wusste zu viel« – für einen wie Joe Dalton wäre das allemal ein ausreichendes Motiv gewesen, damals im Wilden Westen.

      Stahnke fuhr sich mit der Hand durch seine sonnenwarmen Stoppelhaare. Vielleicht hätte er doch so eine Schirmmütze aufsetzen sollen.

      5

      Und wenn ich jetzt sterbe? Wenn ich jetzt tot umfalle? Marian konnte sein rasend pochendes Herz bis in die Mundschleimhäute hinein spüren. Beim Laufen konnte man sterben, das wusste er. Hatte neulich erst wieder in einer Illustrierten gestanden. Immer wieder starben Menschen beim Sport, auch junge Menschen, meist im Wettkampf, meistens Männer. Weil sie sich keine Blöße geben mochten, keine Schwäche eingestehen konnten. Einfach weitermachten, bis die Pumpe genug hatte. Und peng.

      Sein Herz tat einen deutlichen Hüpfer. Hatte er nicht letzte Woche erst eine Erkältung gehabt? War das vielleicht ein Infekt gewesen, ein Virus? Konnte es beim Sport nach verschleppten Virusinfektionen nicht zu Herzmuskelentzündungen kommen? Waren nicht schon weit kräftigere Naturen als er an so etwas gestorben? Oh Gott, dachte Marian, ogottogott! Und lief weiter.

      Sein Nacken glühte, seine Brust ließ sich einfach nicht mehr weit genug dehnen, um genügend von dem Atem zu fassen, der rasselnd durch seine Kehle schabte, seine wundgescheuerten Achselhöhlen brannten, und seine Beine schienen in zähem Rübensaft zu stecken. Es reichte. Warum hielt er nicht einfach an? Was für ein herrlicher Gedanke: Die verkrampften, schmerzenden Arme aus ihrer Winkelhaltung lösen und langsam, ganz langsam senken, der Erdanziehung nachgeben, sie ausschütteln und dabei der Süße des nachlassenden Schmerzes in den entkrampfenden Muskeln nachspüren. Den Laufschritt verlangsamen, die Fußsohlen noch zwei-, dreimal auf den Asphalt klatschen lassen, dann ausscheren, vielleicht nach links, da war Gras, das sah weich aus, verlockend. Jetzt stehen bleiben, die Hände auf die Oberschenkel stützen und atmen, nur noch atmen, Luft schöpfen und immer weiter schöpfen, bis es reichte, bis er endlich wieder satt war an Sauerstoff, bis das wild trommelnde Herz in einen sanfteren Rhythmus gefunden hatte. Und dann langsam, langsam zu Boden sinken, ins weiche Gras, die Halme an Beinen und Händen spüren und den ausgehungerten Körperzellen bei der Fütterung lauschen. Ein Traum. Ein Traum? Lief er denn überhaupt noch? Ja, allerdings. Noch lief er. Aber musste er denn? Jederzeit konnte er Schluss machen, jetzt gleich, sofort, der Qual ein Ende machen. Arme, Beine, Lunge. Anhalten, hinsetzen, ausstrecken, einfach nur daliegen.

      Und die anderen vorbeilaufen sehen?

      Kilometer neun. Hier war schon Kilometer neun. Zehn Kilometer war die erste Etappe lang. Dann war er ja fast schon im Ziel. Nur noch einen Kilometer, das war doch so gut wie gar nichts. So kurz vor dem Ziel konnte man doch nicht aufgeben. Marian wiederholte diesen Gedanken, sprach ihn sich lautlos vor, um ihm die Gelegenheit zu geben, seine belebende Wirkung zu entfalten, zu Rhythmus zu werden, wartete ungeduldig darauf, dass ein neuer Energieschub durch Arme, Beine und Lunge prickelte.

      Aber das Einzige, was da prickelte, war sein Kopf. Offenbar der einzige Körperteil, dem es etwas ausmachte, womöglich nicht bis ins Ziel getragen zu werden. Typisch. Der Kopf braucht nur zu wollen, der Rest muss dafür arbeiten. Leitendes Anhängsel. Und das Herz macht dann den Abgang. Wie aufs Stichwort glaubte er, wieder Rhythmusschwankungen in seinem Brustkorb zu spüren.

      Einen Kilometer noch. Das waren 1.000 Meter. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich in der Sportstunde vor dem 1.000-Meter-Lauf gefürchtet hatte. Schrecklich. Siedend heiß fiel ihm ein, dass diese Etappe außerdem nicht genau zehn Kilometer lang war, sondern gut zehn Kilometer. Also mehr als zehn. 10 Komma nochwas. Dieses kleine Plus war ihm vor dem Start unwichtig vorgekommen. Wie viel genau? 10,8. Also fast elf. Also fast noch 2.000 Meter, oh Gott, nein.

      Aber er lief und lief


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