Das schwarze Herz. Armin Öhri
vielleicht seltsam oder ungewöhnlich war? Und gab es nichts, was Ihnen sonderbar oder unlogisch erschien?«
Bentheim hatte keine Ahnung, worauf sein Freund aus war. Doch da er um dessen kombinatorisches Ingenium wusste, war es ihm auch diesmal nicht vergönnt, ihm das Wasser zu reichen. Sein Geist sah einfach nicht die Dinge, die der in ganz Preußen berühmte Kommissar Horlitz sah, und so gab er sich geschlagen und ließ das grausame Bild des ermordeten Hausherrn vor seinem inneren Auge Revue passieren.
»Was meinen Sie?«
Horlitz antwortete: »Nun, es gibt einige Punkte, die nicht ins Bild eines Raubmordes passen. Erstens: Wir wissen inzwischen, dass der Herzog um zehn Uhr ermordet wurde. Wieso trug die Leiche Handschuhe – im geheizten Haus? Zweitens: Das Gesicht des Toten war nicht mehr vorhanden; so präzise war der Schuss des Mörders gewesen. Weshalb aber macht sich jemand die Mühe, die Pistole derart nah anzusetzen, wenn es ein einfacher Schuss ins Herz auch getan hätte? Drittens: Als wir das Haus des Ermordeten zum ersten Mal betraten, wurde uns die Tür vom Domestiken geöffnet, dessen zitternde Bewegungen ich auf sein fortgeschrittenes Alter zurückführte. Vielleicht, so dachte ich, laborierte er auch an der Schüttellähmung. Aber als Albrecht und Sie draußen bei Weißensee beim Anwesen des Herzogs auf der Lauer lagen und schließlich den Einbrecher stellen wollten, der sich leider selbst einem höheren Richter übergab, trafen Sie beide wiederum auf den Diener. Nur diesmal, wenn ich Ihren Berichten Glauben schenken darf, hielt er Ihnen ein Jagdgewehr entgegen – mit der kundigen und sicheren Hand eines erfahrenen Jagdschützen. Oder irre ich mich?«
Für eine Sekunde blitzte vor Bentheims innerem Auge die nächtliche Situation auf, und er nickte zustimmend.
Mit einer energischen Kinnbewegung fuhr Horlitz fort: »Hat der greise Hausdiener also etwas zu verbergen, gleichwohl ich ihn anfangs für unschuldig hielt? Viertens: Ihrem Bericht zufolge habe der Lakai erschrocken reagiert, sowie er den Einbrecher in seinem Keller erblickte. Es sei lediglich ein hastiger Blick gewesen, doch er habe genügt, um ihm den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben. Kannte er also den Einbrecher? Sie sehen, Julius: Fragen über Fragen, deren rasche Beantwortung unser harrt.«
Bentheim lachte heiser.
»Sie spaßen, Gideon«, entgegnete er. »Wie ich Sie kenne, haben Sie die Rätsel bereits gelöst und werden mir nun voller Enthusiasmus Ihre Auflösung präsentieren. Ist dem nicht so?«
Der Kommissar war geschmeichelt. Leicht verlegen strich er seine Jacke mit einer grazilen Bewegung glatt und antwortete: »Ach, Sie beschämen mich. Aber, ja, ich weiß, wer der Mörder war.«
»Sprechen Sie!«, meinte der Tatortzeichner aufgeregt.
»Nun«, antwortete Horlitz mit langsamer Stimme, »der Mörder war kein Geringerer als der Herzog persönlich!«
»Selbstmord?«, entfuhr es Bentheim.
Der Kommissar schüttelte den Kopf.
»Nein, gewiss nicht. Hören Sie zu! Der Tote war gar nicht der ehrwürdige Herzog, sondern dessen Bediensteter.«
»Dann ist der Diener also der vermeintlich tote Herzog?«
»Exakt.«
»Aber wie …?«
Noch ehe er seine Frage ausformuliert hatte, unterbrach ihn Horlitz: »Ganz einfach: Weshalb trug der Tote Handschuhe? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil Lakaien nun einmal Handschuhe tragen. Und weshalb schoss man dem Toten das Gesicht weg? Natürlich nur, um ihn unkenntlich zu machen. Weshalb zitterte der vermeintliche Diener erst und dann wieder nicht? Weil alles nur gespielt war. Eine Farce, die uns glauben machen sollte, wir hätten es mit einem gebrechlichen Greis zu tun, den wir deshalb nie und nimmer zum Kreis der Verdächtigen gezählt hätten.«
Bentheim pfiff anerkennend, und der Kommissar erklärte: »Es geht hier nicht um einen einfachen Mord, Julius. Da steckt eindeutig mehr hinter der ganzen Angelegenheit. Leider Gottes haben wir jetzt umso mehr Fragen zu beantworten: Weshalb hat der Herzog seinen Domestiken ermordet? Und warum hat er daraufhin seine eigene Ermordung inszeniert? Wer wusste sonst noch um diese leidige Affäre? Denn jemand hat den Herzog ja beschattet. Wer war der unbekannte Einbrecher, der Kaliumcyanid seiner Verhaftung vorzog? Und schließlich: Wer sollte in der St.-Peter-und-Paul-Kirche am Wannsee auf den Attentäter warten?«
»Aber weshalb wurde der Herzog im Dorf nicht erkannt, als er seine Einkäufe machte?«
»Vielleicht hat man ihn erkannt, vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon? Dass wir diesbezüglich nicht im Bilde sind, ist unser alleiniges Verschulden. Wir haben dort schlicht und einfach nicht nachgefragt.«
»Ich denke, die Lösung auf all die anderen offenen Fragen werden wir vom Herzog persönlich erfahren, wenn wir ihn erst einmal verhaftet haben«, schlug Bentheim vor, dessen Unternehmungsgeist geweckt worden war.
Der Kommissar blickte ihn durchdringend an und sagte mit leiser Stimme: »Es ist schon alles in die Wege geleitet. Ich habe einen Haftbefehl erwirkt. Leider ist der Vogel ausgeflogen.«
Verdutzt sah der Tatortzeichner seinen Vorgesetzten an. Wie konnte der Diener alias Herzog von Gerolstein verschwinden, wenn Tag und Nacht Gendarmen auf ihn angesetzt waren?
»Ich weiß, was gerade durch Ihren Kopf geht«, sagte der Kommissar matt. »Aber meine Männer bescheinigten mir, dass der Herzog sein Anwesen zu keiner Zeit verlassen habe. Ich gab ihnen also die Weisung, den Mann zu verhaften. Doch was geschah? Sie stürmten das Haus und fanden es verlassen vor. Völlig menschenleer.«
»Ein Geheimgang?«, mutmaßte Julius.
»Womöglich.«
»Dann nichts wie hin«, meinte er forsch. »Untersuchen wir das Gebäude!«
Und so geschah es auch.
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