Der Erzähler Rudolf Steiner. Ulrich Kaiser
Für seine Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« eignet sich nun Steiner das theosophische Motto in der folgenden Form an: »Keine menschliche Einzelmeinung stehe über der Erforschung der Wahrheit.«66 Damit greift Steiner die Form des Mottos der Theosophischen Gesellschaft auf, aber er profanisiert es, indem er an die Stelle der Religion die Meinung setzt. Und er ersetzt auf der anderen Seite des Satzes die Wahrheit durch die Erforschung der Wahrheit. Nicht nur hat er so eine Dynamisierung vorgenommen, einen »Prozess« auf etwas hin (Erforschung) anstelle des bloßen »Ziels« (der Wahrheit) gesetzt, er hat diesem Prozess als »Erforschung« auch eine Gediegenheit verliehen, welche die bloße »Suche« nach Wahrheit zum Beispiel nicht hätte. Gleichzeitig, so scheint es, evoziert er ein Muster, das am Beginn der abendländischen Rationalität steht, nämlich die Unterscheidung zwischen der Doxa (δόξα) als bloßer »Meinung« und der Episteme (ἐπιστήμη) als Erkenntnis, Wissenschaft oder Erforschung.67 Damit nimmt er stillschweigend eine Verschiebung vor vom östlich orientierten weltreligiösen Kontext der Theosophischen Gesellschaft in den philosophischen Kontext der westlichen Tradition, die sich auf das antike Griechenland bezieht. Religion wird zu Forschung, absolute Wahrheit zur Erforschung der Wahrheit.
Auch hier gibt es wiederum die Gefahr der Verdinglichung von Wahrheit (oder dessen, der sie vertritt68) und der Unterschätzung des diskursiven Prinzips der vielen und als solchen anerkannten Meinungen. Faktisch hat Steiner mit seiner Editionspraxis in der Zeitschrift auf das diskursive Prinzip großen Wert gelegt, indem er heterogene Autoren zu Wort kommen ließ. Mit dem Stichwort der »Erforschung« setzt er einen bestimmten Akzent: Forschung (der Prozess) steht über der (festen) Meinung. Und die Autorität von Personen, wie berechtigt sie sein mag, steht nicht über dem Wahrheitsanspruch – im Sinn jenes anderen, verwandten Mottos: »Amicus Plato, sed magis amica veritas.«69 Die Autoritätszuschreibung von Personen bis hin zur Dogmatisierung ihrer Aussagen ist nämlich ein allgemeines Phänomen, auch in Philosophie und Wissenschaften.
Was nun die praktische Konstitution einer gesellschaftlichen Organisation angeht, ist man mit einem solchen antidogmatischen Motto gewissermaßen schlecht beraten. Denn eine gesellschaftliche Form verlangt ein Maß an Festigkeit und Identität, das durch bestimmte Bekenntnisse wie das eines Glaubens an Reinkarnation und Karma oder an die Existenz unsichtbarer Meister festgeschrieben werden könnte. Nun hat sich aber Steiner wie schon die frühen Theosophen solchen Festschreibungen verweigert. Gerade aber weil das Motto keine Festschreibung ist, sondern eine Handlungsanweisung, hängt es von der persönlichen Haltung jeder einzelnen Person ab, ob und inwieweit sie einen undogmatischen, offenen Habitus und eine entsprechende Erkenntnishaltung einnehmen kann und der Grad einer undogmatischen Haltung der Einzelnen wird ebenso von der entsprechenden Kultur in einer Gesellschaft gefördert oder gehemmt. Gleichwohl sind es immer bestimmte Inhalte, diese und nicht jene, die einer Beschäftigung, einem Studium, einer Forschung zugrunde liegen. Das geht nicht ohne Verbindlichkeit. Zugleich aber soll diese Verbindlichkeit, wie ich in der Folge und in diesen Studien insgesamt zeigen möchte, eine möglichst freie sein. Und frei heißt nicht beliebig oder willkürlich. Um ein Motto handelt es sich also, das die Lektüre eines jeden Satzes muss begleiten können.
Die Schwierigkeiten eines solchen Anspruchs auf Offenheit haben Helmut Zander zur Formel eines »Dogmas der Dogmenfreiheit« inspiriert.70 Der besprochenen Fundierungsordnung zwischen Dogmen im Sinne von (inhaltlichen) Lehraussagen und den Formen ihrer (methodischen) Überschreitung und der beschriebenen Aufgabe eines undogmatischen Umgangs damit wird er mit seinen Ausführungen indessen nicht gerecht. Auch konfundiert er in seinem retorsiven Argument die Bedeutungsebenen von Dogma im Sinne einer inhaltlichen Aussage inklusive des Geltungsanspruchs mit der eines Mottos im Sinne einer (regulativen, aber tendenziell offenen und immer prekären) Handlungsanweisung – der Aufforderung zu Beweglichkeit, zur Selbstständigkeit, zur Selbstverantwortung. Motto und Dogma sind nicht das selbe und die beiden Begriffe bewegen sich nicht auf derselben Ebene.
Gesellschaften wie die Anthroposophische indessen sind mit solchen Ansprüchen prinzipiell Gesellschaften an der Grenze zwischen Scheitern und Gelingen. Für Steiner jedenfalls bleibt die »Dogmatik« ein notwendiger Gegenbegriff, den er als Widerhalt braucht, von dem er sich aber unentwegt abstoßen muss.71 Und Dogmen im Sinn von Lehraussagen verstehen sich in seinem Kontext als Voraussetzungen, Mittel, Vehikel, aber nicht repetitiv zu zitierende Inhalte vermeintlich eigenständiger Erkenntnis.72
Ästhetische Differenz, hermeneutische Distanz, dialogische Konstellation
Die bisherigen Darstellungen zusammenfassend und zugleich weiterführend, skizziere ich drei Lektüreregeln zu Aspekten der Darstellungsform, der Geltung und des Kontextes von Steiners (Lehr-)Aussagen, die sich in der Konsequenz weniger im Sinne von bloßer Ambiguitätstoleranz als einer explizit geforderten methodischen Auseinandersetzung ergeben. Es handelt sich gewissermaßen um Leseanweisungen, Lektüreregeln, die ich in Steiners Werk vorfinde und die den ambivalenten Status des Dogmas berücksichtigen, ja, von ihm gefordert werden, vielleicht kann man auch sagen: ihn erlösen.
Ästhetische Differenz: Darunter verstehe ich das Absehen vom semantischen Gehalt einer Aussage und die Aufmerksamkeit auf ihre Art oder Form. Da es besonders in Steiners Werk sehr unterschiedliche Arten oder Formen von Aussagen gibt, spreche ich sehr allgemein von einer Differenz, also einem »Absehen von« und einem heuristischen »Hinsehen auf«. Es ist ein Achten auf den Unterschied, bei dem zunächst offenbleibt, was die Art der Aussage jeweils ausmacht. Die Regel bedeutet in ihrem Kern einen Vorrang des Wie vor dem Was, wobei das Was nicht bedeutungslos wird. Dafür gibt es im anthroposophischen Kontext verschiedene Vorarbeiten, 73 in konkreten Arbeitszusammenhängen wird Goethes Satz »Das Was bedenke, mehr bedenke Wie?«74 als Motto oder Orientierung gerne zitiert. Grundlegende Studien stehen aber aus.
Im konkreten Kontext einer historisch-kritischen Vorgehensweise, die ich in diesen Studien auch im Blick habe, findet die Regel ihre Anwendung beispielsweise darin, dass ich darauf achte, was Steiner aus einer bestimmten belegbaren literarischen Quelle (also etwa Scott-Elliots Schrift »The Story of Atlantis«) »gemacht« hat, also wie er sie aufgreift, verarbeitet, verwandelt, »kohärent verformt«.75 Ich komme auf das Beispiel in der letzten dieser Studien zurück. In der Differenz ist im Unterschied zur Quelle das Eigenständige zu finden, nicht in einer naiv prätendierten Kontextlosigkeit oder überzeitlichen »Schau« oder »Hellsichtigkeit«. Dies gilt, sofern es sich um historisch-quellenkritische Arbeiten im Kontext von Geschichte handelt. – Für die Philosophie gilt ähnliches, aber in anderer Art, nämlich als Erfahrung im Denkprozess, auf die folgendermaßen hingewiesen werden kann: »Worauf es vor allem ankommt, ist die daran [an der Bewegung des Begriffs, U.K.] gemachte Erfahrung, dass etwas im Bewusstsein vorkommt, welches dadurch, wie es auftritt, über das Bewusstsein hinausweist.«76 – Inwieweit historisch-quellenkritische Forschung und immanent-begriffliche Philosophie miteinander vermittelbar sind, ist eine eigene Frage, die bislang nicht systematisch bearbeitet wurde, durch Steiners Verständnis esoterischer historischer Forschung aber aufgeworfen wird.77
Wohlgemerkt handelt es sich um eine Leseanleitung, also eine methodische Maxime, keine ontologische Aussage. Über den genauen Zusammenhang zwischen Darstellung und Gehalt etwa im Sinn des Satzes form follows function den man auch verstehen könnte als form shows meaning ist damit noch nichts gesagt. Das Wahre und das Schöne sind zwei unterschiedliche Kategorien und es muss einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben, wie Gehalt und Darstellungsart in Steiners Werk und grundsätzlich ineinander vermittelt sind.
Hermeneutische Distanz: In einer bekannten Formulierung aus Steiners »Philosophie der Freiheit« ist die Rede davon, man müsse sich der Idee (in unserem Kontext, nicht identisch damit: den Dogmen) »erlebend gegenüberstellen«, sonst gerate man unter ihre »Knechtschaft« (GA 4, 271, Ausgabe 19182).78 Es ist also nicht die Rede von einem erlebenden ›Eintauchen‹ oder einem Verlust der Distanz, sondern einer dezidierten Distanzierung, die gleichwohl den erlebenden Bezug, die Verbindung nicht aufgibt.79 Die Distanzierung schafft Abstand, macht insofern sichtbar und setzt zugleich im Sinne der stoischen oder phänomenologischen »Epoché« (= Enthaltung der Zustimmung oder Ablehnung) die Geltung einer Aussage außer Kraft. Der erlebende Bezug wiederum