Witterung – Lauf so schnell du kannst. Heike Ulrich

Witterung – Lauf so schnell du kannst - Heike Ulrich


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paralysiert –, unfähig, einen Gedanken zu fassen, geschweige denn zu verarbeiten, was sie gerade überall um sich herum im Gebüsch und auf dem Waldboden verstreut sahen – die abgebissenen Gliedmaßen ihrer Peiniger. Auf einem größeren Stein, der über und über mit Moos bedeckt war, lag, wie drapiert, ein abgetrennter Arm – das Gewehr immer noch in der verkrümmten Hand.

      Igor wandte seinen Blick ab. Was für eine Kreatur konnte so etwas anrichten? Sie musste überirdische Kräfte haben und nicht von dieser Welt sein, wenn selbst Gewehrkugeln ihr nichts anhaben konnten. Er tastete vorsichtig nach dem Tagebüchlein seiner Mutter, als könnte es ihn beschützen. Ein Geräusch ließ die Kinder erschrocken zusammenfahren. Der gigantische Schatten, der sich auf dem hundert Meter entfernten Felsplateau deutlich abzeichnete, sah wie eine Versteinerung aus, die sich langsam im aufsteigenden Dunst des Waldes aufzulösen schien. Zofias Atem stockte – der Kopf dieser Kreatur glich plötzlich dem eines Menschen, nur einen winzigen Moment. Dann hatte der Dunst die Erscheinung, oder was immer es war, endgültig verschluckt. Wie war das möglich? Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber schlüssig zu werden. Hinter ihnen knackten plötzlich Äste, und die Kinder drehten sich alarmiert um.

      Zeitsprung – Gegenwart

      2

      Das Fiepen in seinen Ohren hatte den Pegel des gerade noch Erträglichen erreicht. Man hatte ihm gesagt, dass er Achtsamkeit üben sollte.

      Heribert Falk nahm eine gemütlichere Sitzposition auf seiner Bank ein und schloss die Augen. Zu dumm, dass man bei all dem Übel auch noch eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihm diagnostiziert hatte. Das war für ihn ein Schock gewesen – schließlich war er keine Memme!

      Als das Dauerfiepen ihn nicht mehr hatte schlafen lassen, war ihm die Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen von seinem HNO-Arzt empfohlen worden. Ein paarmal hatten sie ihn dort in einer Unterdruckkammer behandelt, und tatsächlich war der quälende Dauerton in seinem Kopf derzeit nicht mehr so präsent.

      Er müsse begreifen, nicht der Tinnitus sei das Problem, sondern seine Haltung zu dem Problem, hatte ihm seine Therapeutin erklärt. Die konnte gut reden, aber vielleicht war ja was dran.

      Heribert öffnete die Augen wieder und warf die Zeitung in den Papierkorb, der neben der Bank stand. Er hatte genug von kranken Arschlöchern!

      Einen Moment ließ er seinen Blick über den Schloss-teich gleiten. Eine Schar Enten zog ihre Kreise, während sie gründelten. Wie friedlich es hier war! Die Sonne kam gerade heraus und ließ die kleinen Wellen, die die Enten hinterließen, aufblitzen. Es war April, und überall spross zartes Grün.

      Aber auch jetzt spürte er dieses unangenehme innere Vibrieren. Er streckte seine Arme aus – auch die Hände zitterten. Das alles bloß wegen dieses Artikels in der Zeitung, den er gerade gelesen hatte. Und wie so oft stellte er sich auch jetzt die Frage: Wie konnte jemand zu solch einer Tat fähig sein? Es ging einfach nicht in seinen Kopf: Ein Achtjähriger und dessen Mutter waren am Frankfurter Hauptbahnhof von einem Migranten, der selbst Familienvater war, vor einen einfahrenden Zug geschubst worden – einfach so. Die Mutter hatte noch rechtzeitig aus dem Gleisbett entkommen können, während ihr Sohn vom Zug überrollt und tödlich verletzt worden war. Nur eine Woche zuvor hatte ebenfalls jemand, in einer anderen Stadt, eine junge Frau vor einen Zug geschubst. Auch für sie kam jede Hilfe zu spät, sie hinterließ Ehemann und ein Kind. Die Welt wurde immer verrückter – und brutaler. Wie sollte die Mutter des Achtjährigen weiterleben? Sie hatte doch alles mit ansehen müssen und war vermutlich bis zu ihrem Lebensende traumatisiert. Schon jetzt konnte er sich vorstellen, wie man derlei Tötungsdelikte wieder relativieren und psychische Probleme der Täter bemühen würde, während die Opfer kaum eine Stimme bekamen und schnell vergessen waren. Und was war mit den vielen anderen Zeugen, die diese grausamen Taten hatten mit ansehen müssen – vermutlich auch ein Leben lang seelengezeichnet! Seelengezeichnet, ja, genau das traf es. Wo hatte er diesen Begriff gehört? Ah ja, der Pfarrer hatte ihn bei der Beerdigung eines Kollegen benutzt, vor ein paar Jahren.

      Seine Gedanken ließen sich nicht stoppen. All die Tötungsdelikte, die er als Fallanalytiker untersucht hatte, gaben sich wieder ihr Stelldichein. Er rief sich zur Ordnung und stoppte die Bilder.

      Die operative Fallanalyse war ein spannendes Thema für ihn – GEWESEN. Nach fast zehn Jahren als Ermittler in Tötungs- und Sexualdelikten bei der Kripo in Frankfurt hatte er es kaum glauben können, als man ihn tatsächlich nach zermürbenden Auswahlverfahren für die jahrelange Weiterbildung zum operativen Fallanalytiker zugelassen hatte. Empathie, soziale Kompetenz, die Fähigkeit, fall­analytisch zu denken, und – nicht zu vergessen, Instinkt, Kreativität und Teamfähigkeit – waren unabdingbare Voraussetzungen, die man in diesem Bereich brauchte. Und diese Fähigkeiten waren ihm nach psychologischen Tests attestiert worden. Er war der Jüngste seines Lehrgangs gewesen.

      Noch fasziniert von der dunklen menschlichen Seite, die einen Täter in die Lage versetzte, schrecklichste Taten zu begehen, hatte er begonnen, Tatort und Tathergang zu untersuchen, Fakten gesammelt und analysiert. Das Ziel: ein Täterprofil – welche Motivation trieb den Täter zu seinen Handlungen? Aus Schlussfolgerungen folgten Strategien, wie man des Täters habhaft werden konnte.

      Heribert grinste schief – alles nur Arbeitshypothesen. Vielleicht waren sie wichtig. Doch nicht selten hatte er sich auf seinen Instinkt, auf seine Erfahrungen verlassen und war damit erfolgreich gewesen. Nichts gegen die Fallanalyse – bloß ohne Instinkt und Vorstellungskraft war sie in seinen Augen nur die Hälfte wert, war lediglich eine weitere Option, ein weiteres Hilfsmittel bei Tatermittlungen.

      Wieder spulten sich filmische Endlosschleifen ab: Er sah die Hinterbliebenen der Mordopfer, wie sie zusammenbrachen – bei der Überbringung der schlechten Nachricht oder bei der Identifizierung ihrer Liebsten.

      Wie oft hatten ihm da die richtigen Worte gefehlt – aber verdammt, was sollte man auch jemandem sagen, der einen nahestehenden Menschen auf dermaßen grausame Weise verlor? Irgendwann hatte dann eine merkwürdige Dunkelheit seine Seele eingeholt. Er hatte sich wie unter einem grauen Tuch gefühlt, das immer schwerer geworden war und ihn fast erdrückt hatte. Es war lähmend gewesen, während sein Tinnitus immer lauter geworden war.

      Das Schlimme war, dass sich in einem harmlosen, freundlichen, ja sogar bemitleidenswerten Menschen eine Monstrosität verbergen konnte. Ein gewinnendes Lächeln sagte noch lange nichts über die Persönlichkeit aus, die sich dahinter verbarg. Er hatte es erlebt – hatte sie erlebt, Psychopathen, Narzissten, die täuschend echt Sozialkompetenzen vorspielten, ohne sie tatsächlich zu besitzen. Das alles machte die Angelegenheit ja auch so schwierig. Dieser Umstand hatte ihn zunehmend zermürbt und zum Schluss mutlos gemacht. Auch weil das personifizierte Böse manchmal mit unverhältnismäßig milden Strafen davonkam – in Ermangelung von Beweisen oder weil die einzelnen Behörden samt Spurensicherung schlampig zusammenarbeiteten. Auch dass Täter vorzeitig entlassen wurden oder aufgrund psychologischer oder fragwürdiger Gutachten freikamen – quasi auf die Gesellschaft losgelassen wurden –, war in seinen Augen falsch. So etwas war ein Experiment. Ein Experiment, das schiefgehen konnte. War dies der Fall, mussten es Unschuldige büßen. Das alles machte ihn wütend, wenn er daran dachte. Wozu die ganze Mühe überhaupt? Bis heute ertappte er sich dabei, wie er jede Person, die ihm begegnete, auf Charaktermerkmale scannte. Er konnte es nicht lassen.

      Kurz – er hatte genug! Und das Beschäftigen mit den Abgründen der menschlichen Seele faszinierte ihn schon lange nicht mehr. Er war inzwischen dünnhäutig und immer weniger belastbar – wie jemand, der ein Lieblingsgericht zu oft genossen und inzwischen beim bloßen Gedanken daran einen Brechreiz bekam.

      Plötzlich tauchte ein sportlicher, gut aussehender und sehr höflicher Mann vor seinem geistigen Auge auf – Abraxas Lemm! Dessen zahlreiche Opfer hatte man schrecklich entstellt aufgefunden. Es war sehr schwierig gewesen, ein Täterprofil zu erstellen.

      Lemm hatte seine Opfer willkürlich ausgesucht, sie dann aber genau ausspioniert und zu Tode gefoltert. Anschließend hatte er die abgeschnittenen Gliedmaßen neu arrangiert und die Ermordeten grotesk zur Schau gestellt – wie ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk des Grauens! Seine Tatorte waren sauber hinterlassen worden, sodass man zum Schluss vermutet hatte, dass es sich um einen


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