Hetzwerk. Peter Gerdes
Hülse nach dem Schuss sofort aus, quasi … na, automatisch eben. In jeder anderen Waffe bleibt die Hülse drin, bis neu repetiert wird.« Unwillkürlich ahmte der Hauptkommissar mit der linken Hand eine Repetierbewegung nach. »Falls es keine Automatik war: Wollte der Täter noch einmal schießen?«
»Nötig war das nicht«, sagte Kramer lakonisch und deutete auf die Blutpfütze. »Das Geschoss hat den Schädel durchschlagen, vorne rein, hinten raus. Müsste anschließend irgendwo steckengeblieben sein. Die Spurensicherung wird danach suchen, aber erst bei Tageslicht.«
Eine kleinere weiß gekleidete Gestalt tauschte auf; diesmal war es Ekinci. »Frau Fecht ist bei ihrer Mutter.« Der Oberkommissar hob das Smartphone hoch, das er in seiner latexgeschützten Hand hielt. »In Westerstede. Hatte sich auf mehrere Tage eingerichtet, aber jetzt kommt sie natürlich her.« Ekinci übergab das Handy dem nächststehenden Spurensicherer und ergänzte: »Gleich morgen früh.«
»Morgen früh?« Stahnke schüttelte ungläubig den Kopf. »Hör mal, ihr Mann ist erschossen worden! Und Westerstede ist keine 40 Kilometer entfernt. Über die Autobahn, wohlgemerkt.«
Ekinci zuckte mit den Schultern. »Sie machte einen sehr gefassten Eindruck«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht geht es ihrer Mutter nicht gut.«
»Das hören wir dann ja morgen.« Stahnke blickte sich um. »Was ist übrigens mit diesem Sohlenabdruck? Kann man damit etwas anfangen?«
Wie aufs Stichwort erschien der hochgewachsene Kriminaltechniker erneut. Er präsentierte einen Abguss, ebenfalls sorgfältig verpackt. »Gummistiefel«, verkündete er. »Handelsüblich. Dem Profil nach zu urteilen ziemlich neu. Muss aber nichts heißen. Bei Gartenarbeit auf weichem Boden nutzen sich Gummisohlen nicht so schnell ab.«
»Größe?«, fragte Stahnke.
»44«, antwortete der Spurensicherer. »Weitere Details später im Bericht.«
Er und seine Kolleginnen und Kollegen begannen zusammenzupacken. Die gleißend hellen Scheinwerfer erloschen einer nach dem anderen. Zwei Bestatter, die sich bis dahin im Hintergrund aufgehalten hatten, traten heran, legten den Leichnam in einen Transportsarg, hoben ihn an und trugen ihn zum Leichenwagen. Außer der Blutlache blieben nur ein aufgesprühter Umriss und eine Reihe von Spurentäfelchen zurück.
Ehe sich der Leichenwagen in Bewegung setzen konnte, mussten erst die Schaulustigen zurückgedrängt werden. Trotz der späten Stunde hatte sich eine erstaunlich große Gruppe angesammelt, überwiegend Nachbarn, aber nicht nur. Mehr als ein Dutzend Fotohandys war im Einsatz. Stahnke sah Rieken und van Dieken, die beiden Graubärte vom Streifendienst, die Menge im Zaum halten. Ihre Münder standen dabei keinen Augenblick still. Unverbesserliche Klatschbasen, die beiden, fand der Hauptkommissar. Rieken und van Dieken jedoch würden ihr Verhalten bestimmt als Deeskalation bezeichnen. Mit dem üblichen abfälligen Grinsen; in der Tiefe ihrer schwarzen Seelen waren die zwei nämlich eher für ein handfestes Vorgehen zu haben.
Stahnke drehte sich weg. »Ich will mir mal diese Terrassentür ansehen«, sagte er. »Können wir außen herum?«
Das Grundstück war großzügig geschnitten; Wege zum hinten gelegenen Garten gab es an beiden Seiten, links durch den Doppelcarport, rechts durch eine hohe Zauntür, die nicht verschlossen war. »Auf dieser Seite wurde auch der Fußabdruck gefunden«, berichtete Ekinci.
»Dann wäre dies der Fluchtweg?« Stahnke schaute sich um. »Zur Straße hin? Dann hätte der Täter ja gleich durch die Haustür laufen können. Direkt nach der Tat.«
»Dort befand sich allerdings noch der Zeuge, der uns wenig später verständigt hat«, sagte Kramer. »Der ist zwar nach eigener Aussage sofort weggerannt, aber als Täter wäre ich doch lieber nicht in dieselbe Richtung geflüchtet.«
Sie hatten die hintere Hausecke erreicht. Dort, in einem aufgelockerten und frisch geharkten Blumenbeet, war die Fundstelle des Abdrucks markiert.
»Als ob der Täter erst in diese Richtung gerannt wäre, es sich dann aber anders überlegt hätte«, interpretierte Ekinci. »Er rennt also durch Halle und Wohnzimmer nach hinten, durch die offene Terrassentür raus, biegt nach rechts ab, tritt ins Beet, bemerkt dann, dass er in dieser Richtung wieder auf die Straße kommt, und wendet sich erneut nach hinten.« Der Oberkommissar unterstützte seinen Vortrag gestenreich; am Ende wies seine Hand zum gegenüberliegenden Garten, der nur durch eine kniehohe Hecke abgegrenzt war. Die offene Rückseite des dortigen Carports war deutlich zu erkennen. Dazwischen lag nichts als Rasen – vielmehr eine buckelige, stark strapazierte Wiese, übersät mit Spielzeug. Wenig Aussicht auf weitere verwertbare Spuren.
Stahnke blickte zu Kramer; der nickte stumm. Ihm fiel also auch nichts Besseres ein.
Die Terrassentür war ein schweres Ding. Sie wurde auf Rollen bewegt, die in Schienen liefen. Vorher jedoch musste sie erst einmal aus ihrer Verriegelung gehoben werden. Dazu musste man einen langen Hebel um 180 Grad drehen – drinnen natürlich. Das Ganze bestand aus Edelholz und Dreifachglas und war bestimmt nicht nur teuer gewesen, sondern auch clever konstruiert, fand der Hauptkommissar. Hier konnte man mit Holzkeil oder Schraubenzieher nichts erreichen. Und das hatte auch niemand versucht, sonst würde man Spuren davon sehen.
»Reingekommen ist der Täter hier nicht«, stellte er fest. »Sonst irgendwo Einbruchsspuren?«
Kramer schüttelte den Kopf: »Nirgends. Auch nicht im Obergeschoss.«
Das, dachte Stahnke, war wieder einmal typisch Kramer. Der rechnete auch mit Fassadenkletterern! Aber so wussten sie es wenigstens ganz genau.
»Schlussfolgerung?«, fragte er.
»Da niemand im Haus war, der den Täter reingelassen haben könnte, muss er einen Schlüssel gehabt haben«, sagte Kramer.
»Und woher?«, fragte Stahnke.
»Von Carsten Fecht, seiner Frau, der Putzfrau, einem vertrauten Nachbarn womöglich oder einem mobilen Hausmeisterdienst«, zählte Ekinci auf. »Da gibt es so einige Möglichkeiten.«
»Sehr schön.« Stahnke nickte ihm zu. »Du übernimmst das, und wir reden jetzt mal mit dem Tatzeugen. Das dort ist er doch, oder?«
Lars Noack hockte auf der vordersten Kante der zerklüfteten Ledersofalandschaft, die sich auf dem goldgelben Parkett erhob wie ein Korallenriff vor einem Südseestrand. Seine Windjacke hatte er eng um sich geschlungen, seine Füße exakt nebeneinandergestellt, die Knie zusammengedrückt. Dieser Mann, dachte Stahnke, wünschte sich eindeutig weit, weit weg von hier. Verständlich, hatte er vor diesem Haus doch einen Mord mit ansehen müssen. Trotzdem, wie sich dieser kleine dicke Mann da auf der Sofakante für alle sichtbar unwohl fühlte, war schon extrem.
»Herr Noack?« Stahnke reichte ihm die Hand; die von Noack war heiß und schweißnass. Fast hätte er ihm kondoliert.
»Bitte schildern Sie mir, was Sie erlebt haben«, bat der Hauptkommissar. Kramer kümmerte sich um die Tonaufnahme.
Noacks Augen weiteten sich, als laufe ein schrecklicher Film vor ihm ab. »Wir kamen von der Maibaumfeier an der Waage«, begann er. »Beide. Aber nicht zusammen. Wir sind nur in etwa gleichzeitig aufgebrochen und hatten beide auf der Nesse geparkt. Deswegen fuhr ich hinter ihm her.«
»Sie sind doch so gut wie Nachbarn«, sagte Stahnke. »Und Parteigenossen! Da hätten Sie auch gemeinsam zur Feier fahren können, oder? Dann hätte wenigstens einer von Ihnen Alkohol trinken können. Ich meine dürfen.« So unauffällig wie möglich schnupperte er in Noacks Richtung. Eindeutig Eukalyptusbonbons, aha.
Noack schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Ich hatte vorher noch Fraktionssitzung, also vom Stadtrat aus. Carsten Fecht kam direkt aus Hannover, hatte dann ein Pressegespräch mit der Ostfriesen-Post und hat sich anschließend im Hotel Ostfriesenhof mit einer Gruppe von Reedern getroffen. Wir hatten völlig unterschiedliche Terminpläne. Außerdem …« Er stockte, seine Augenlider flatterten. »So gut verstanden wir uns auch nicht.«
Das sagt der Tatzeuge, dachte Stahnke, interessant. Dabei hatte er durchaus anderes gehört. »Gehörten Sie nicht mit zu Fechts berühmt-berüchtigtem Chatkreis? Wo diese anzüglichen