Hetzwerk. Peter Gerdes

Hetzwerk - Peter Gerdes


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war, lehnte Lüppo Buss sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte zufrieden die Hände hinter seinem Kopf. Das hatte er schon immer einmal sagen wollen.

      4.

      »Und jetzt machen Sie Ihre eigene Partei auf?«, fragte Stahnke und versuchte, nicht allzu ungläubig zu klingen. »Einfach so? Nur weil Carsten Fecht Sie beleidigt hat?«

      Jelto Harms lächelte mild. »Keineswegs einfach so«, korrigierte er den Hauptkommissar sanft. »Da kam schon eine Menge zusammen, ehe ich so weit war. Immerhin bin ich überzeugter Sozialdemokrat, da fiel es mir schon mal nicht leicht, aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands auszutreten. Geschweige denn eine neue Partei zu gründen! Es war ja nicht dieser Fecht alleine, der mich letztlich aus der SPD getrieben hat, das war ein regelrechtes Netzwerk! Es war auch nicht nur ein einzelner Vorfall, das erstreckte sich über Jahre. Und es waren mehr als nur Beleidigungen. Fecht und seine Corona haben mich massiv verleumdet! Das ging schon an die Substanz. Und letztlich auch an meine Existenz.«

      Grundschulrektor Harms hatte Stahnke in sein Büro in der Schule gebeten, als der ihn früh morgens zu Hause angerufen hatte: »Ich bin schon auf dem Sprung, muss noch aufarbeiten, das geht am besten an Feiertagen.« Das altehrwürdige, menschenleere Schulgebäude roch penetrant nach Bohnerwachs, draußen auf den Fluren war es betäubend still. Stahnke saß aufrecht auf seinem altersschwachen Stuhl, eingezwängt zwischen Armlehnen, die für einen so massiven Körper wie den seinen nicht gedacht waren, und fühlte sich unbehaglich. Weder war er so ausgesucht elegant gekleidet wie der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches noch so sorgfältig rasiert. Gewöhnlich drückte er sich auch nicht so kultiviert aus. Und dass er ähnlich verständnisvoll sein könnte, hatte ihm auch noch niemand unterstellt. Harms, zehn Zentimeter kleiner als er und bestimmt 30 Kilo leichter, beschämte ihn allein durch das Vorbild, das er abgab. War es das, was ein Pädagoge tun sollte? Oder empfanden Kinder das weniger einschüchternd als ein desillusionierter Staatsdiener jenseits der Lebensmitte?

      »Sie hören doch noch gut, oder?«, kommentierte Jelto Harms Stahnkes ausbleibende Erwiderung. »Wir Pädagogen haben ja vielfach Probleme mit dem Gehör. Hat sich was mit Kinderlärm ist Zukunftsmusik! Von zu viel Musik kann man auch taub werden, nicht wahr?«

      Der Hauptkommissar rieb sich die Ohren. »Danke der Nachfrage. Diese Unterstellungen, die Sie ansprachen – da handelte es sich um …«

      »Pädophilie«, ergänzte Harms lächelnd. »Indirekt verbunden mit dem Vorwurf des Missbrauchs. Sie wissen ja, Pädophilie an sich ist nicht justiziabel. Niemand kann schließlich etwas für seine sexuellen Präferenzen, nicht wahr? Erst wenn der Pädophile seinem Drang nachgibt, macht er sich strafbar. Aber diese Differenzierung findet in der öffentlichen Diskussion leider kaum statt.«

      In der Tat, dachte Stahnke. Pädophiler gleich Kinderschänder, das galt als gesicherte Wahrheit. Dass es viele pädophile Menschen gab, die ihrer Neigung widerstanden, die jede Versuchung mieden und ihr ganzes Leben auf Verzicht ausrichteten, wurde ignoriert. Womöglich hätte man denen sonst noch Anerkennung zollen müssen!

      »Nur zur Klarstellung.« Stahnke schluckte. »Sie sind also nicht pädophil?«

      »Nein«, erwiderte Harms freundlich. »Wäre ja sonst auch etwas unklug von mir, in solch einer Position tätig zu sein, nicht wahr?« Er griff nach einem Bilderrahmen, der auf seinem Schreibtisch stand, und rückte ihn so, dass der Hauptkommissar das Foto sehen konnte. »Ich bin schwul. Das hier ist mein Mann.«

      Der Mann auf dem Foto war deutlich älter und breiter als Jelto Harms. Er war korrekt gekleidet und sah ziemlich bieder aus. Geschieht mir recht, dachte Stahnke, der nicht wusste, wie er reagieren sollte. Was hatte ich denn erwartet? Olivia Jones?

      »Angenehm«, stotterte er.

      Jelto Harms lächelte stolz.

      Genau der richtige Moment für die Standardfrage, dachte der Hauptkommissar. »Herr Harms, wo waren Sie gestern Abend? So etwa zwischen 21 und 22 Uhr?«

      »Ich war zu Hause«, sagte Jelto Harms, eindeutig nicht überrascht. »Unterricht vorbereiten. Als Leiter einer Grundschule bekomme ich nur wenige Unterrichtsstunden erlassen, wissen Sie? Wogegen ich im Prinzip nichts habe, denn Lehrer wird man ja schließlich, weil man gerne mit Kindern arbeiten möchte, nicht wegen der Verwaltung. Aber beides zusammen füllt doch den Tag ziemlich aus, wenn man alles vernünftig machen will.«

      »War Ihr Mann auch daheim?«, fragte Stahnke, ohne zu stocken.

      Harms lächelte bedauernd. »Nein, leider nicht. Martin arbeitet als Verlagsvertreter, er ist viel unterwegs. Gestern Abend haben wir nicht einmal telefoniert, weil er noch ein längeres Geschäftsessen hatte. Er hätte mir bestimmt gerne ein Alibi gegeben, aber so …«

      Das hatten andere Ehepaare schon ganz anders hingedreht, dachte Stahnke. Da wurde gelogen, dass sich die Balken bogen. Jelto Harms tat das nicht, er war ehrlich. Oder wollte er nur den Anschein erwecken?

      »Können Sie mit einer Schusswaffe umgehen?«, fragte Stahnke.

      »Sicher«, antwortete der Rektor. »Ich war schließlich bei der Bundeswehr. 15 Monate bei den Panzergrenadieren. Da hatten wir das volle Programm: Pistole, Sturmgewehr, MP und Maschinengewehr. Ich habe sogar die silberne Schützenschnur.«

      Damit vergibt er sich nichts, dachte Stahnke. In der Onlineausgabe der Ostfriesen-Post stand, dass Fecht aus kurzer Distanz erschossen wurde. Da wäre auch eine goldene Schnur egal gewesen. Harms wusste das bestimmt. War seine sympathisch erscheinende Offenheit nichts als Berechnung?

      »Aber sagen Sie mir doch einmal«, fragte jetzt der Rektor, »wieso hätte ich meinen ehemaligen Genossen Fecht denn eigentlich erschießen sollen? Der Schaden, den er mit seinen Verleumdungen verursacht hat, war doch schon angerichtet! Verschlimmert durch diesen Hackerangriff, natürlich, aber die Schuld liegt eindeutig bei Carsten Fecht und seinem unappetitlichen Netzwerk. Ich frage noch einmal: Warum morden, wenn man damit nichts mehr ändern kann?«

      »Aus Rachsucht natürlich«, sagte Stahnke. »Viele Menschen werden zu Straftätern, weil sie sich für etwas rächen wollen, das sie erlitten haben. Verspüren Sie dieses Bedürfnis nicht?«

      »Ehrlich gesagt schon«, sagte Harms. »Ein wenig. Aber nicht genügend, um deswegen aktiv zu werden. Aufwand und Resultat stehen in keinem Verhältnis, verstehen Sie? Ich müsste ja Fechts gesamtes Netzwerk niedermetzeln.«

      Interessanter Gedanke, dachte Stahnke. Den wollen wir mal im Auge behalten.

      »Für den Moment kann ich Ihnen also nur mein Wort anbieten«, sagte Harms und breitete die Hände aus. »Ich hatte zwar eine gehörige Abneigung gegen meinen ehemaligen Parteigenossen Carsten Fecht, aber die reichte bei Weitem nicht aus, ihn umbringen zu wollen. Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, dass es von seiner Seite noch irgendetwas über mich zu enthüllen gäbe, das mich veranlassen könnte, ihn zu töten, um das zu verhindern. Ergo habe ich es auch nicht getan. Sondern mich gestern Abend auf meinen Beruf konzentriert. Damit ich morgen wieder etwas Vernünftiges unterrichten kann.« Er verschränkte seine Finger unter dem Kinn: »Und jetzt muss ich mir den Verwaltungskram vom Hals schaffen. Kann ich denn noch etwas für Sie tun?«

      »Erst einmal nicht, vielen Dank.« Stahnke erhob sich. »Ich komme zu gegebener Zeit wieder auf Sie zu.«

      Harms geleitete ihn zur Tür. »In drei Wochen ist übrigens die Gründungsversammlung meiner neuen Partei anberaumt«, sagte er. »Im Kulturspeicher. Wir werden uns Die Unpopulären nennen.«

      »Ungewöhnlich«, erwiderte Stahnke. »Heutzutage geben doch eher die Populisten den Ton an.«

      »Genau deswegen ja! Sehr gut erkannt.« Harms strahlte. »Wir wollen ein Gegengewicht setzen. Niemandem nach dem Munde reden, sondern das tun beziehungsweise fordern, was vernünftig ist, auch wenn es vielleicht unbequem sein könnte. Das fehlt doch der Politik heute, quer durch alle Parteien.«

      »Aha. Und was wäre das?«, fragte Stahnke, weniger aus Interesse denn aus Höflichkeit.

      »Beispielsweise ein Tempolimit auf Autobahnen«, sagte Harms. »Jeder weiß,


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