Hexenzirkel 3: Das Lied des auferstandenen Gottes. R.A. Salvatore

Hexenzirkel 3: Das Lied des auferstandenen Gottes - R.A. Salvatore


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      Zu was?

      Aoleyn spürte, wie Energie in den Gottkristall strömte, wie er die zerstörten Seelen einsammelte und immer stärker wurde.

      Die Hexen um sie herum tanzten und erwiesen diesem Ungeheuer, diesem ruhmreichen, goldenen Gott singend ihre Ehrerbietung.

      Und das Wesen betrachtete den Gottkristall – nein, sie! – und lächelte. In diesem Moment wusste Aoleyn, dass es sie sah, obwohl sie unsichtbar hätte sein sollen.

      Sie floh. Aoleyn floh, um ihres Lebens willen, um ihrer Seele willen, um ihrer Ewigkeit willen.

      Sie floh zurück in den Körper, der in der Höhle tief unterhalb der Lichtung neben dem Teich lag. Sie floh zu Fuß durch den Tunnel zum Abgrund, weckte die Kraft des Mondsteins und flog so schnell sie konnte hinauf, bis sie aus Craos’a’diad herausschoss. Es kümmerte sie nicht, ob jemand etwas davon mitbekam, aber sie hatte Glück, denn zu dieser dunklen Stunde hielten sich weder Xoconai noch andere Lebewesen dort oben auf.

      So schnell sie konnte flog sie den Berg hinab und am Westrand der großen Schlucht entlang. Ihr Ziel war der Ort, an dem sie ihre Begleiter zurückgelassen hatte.

      Aoleyn kannte nur das Leben auf dem Fireach Speuer, doch nun wusste sie, dass sie fliehen musste.

      Und zwar so weit, wie sie konnte.

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       Der Feind meines Feindes

      »Bleibt zusammen«, mahnte Tamilee, was sich aber eher an sie selbst richtete als an ihre beiden lebenslangen Freunde, die Brüder Asef und Asba. Sie waren als Nachbarn in dem kleinen Fischerdorf Carrachan-Bucht aufgewachsen, hatten ihr Leben zusammen verbracht, hatten gejagt, gefischt, gespielt, ihre Grenzen ausgelotet, ihre Hoffnungen und Ängste miteinander geteilt.

      Tamilee liebte die beiden wie Brüder – nein, sogar noch mehr. Sie stellte sich oft vor, wie es wohl wäre, mit einem der beiden eine Familie zu gründen. Sie wusste, dass sie in den Armen von beiden ihr Glück finden würde. Sie ähnelten sich so sehr. Sie sahen sich mit ihren verlängerten Schädeln, die nur einen Buckel hatten, den braunen Haaren, den im gleichen Stil geschnittenen Bärten und den stechend blauen Augen – im ganzen Dorf besaß niemand abgesehen von Tamilee ähnlich blaue Augen – sogar zum Verwechseln ähnlich. Asef war schlanker und schneller, aber Asba gehörte zu den stärksten Männern im Dorf.

      Und nun, da ein Großteil der Dorfbewohner abgeschlachtet und das Dorf selbst zerstört worden war …

      »Sie sind überall«, erwiderte Asba leise und Asef nickte zustimmend.

      Die drei gehörten einer Gruppe von über zwanzig Flüchtlingen an, die sich am dünn bewaldeten Westrand des Bergkraters entlangbewegte – des Kraters, der einmal ein See gewesen war, über den sie und alle anderen gesegelt waren, um der gewaltigen Invasion der Ungeheuer mit den seltsamen Gesichtern zu entkommen. Seit sie an Land gegangen waren, hatten sie keinen einzigen der Eroberer zu Gesicht bekommen, aber sie wussten, dass sie da waren. Sie alle wussten es.

      Die Ungeheuer waren überall.

      »Wir hätten auf dem See bleiben sollen«, flüsterte Asef und trat zwischen die beiden anderen. »Es war dumm, nach Westen abzubiegen.«

      »Nur die schnellen Boote haben es geschafft«, rief ihm Tamilee ins Gedächtnis. »Wir waren überladen und langsam.«

      Asef wollte etwas darauf erwidern, schloss den Mund jedoch rasch wieder und nickte. Was hätte er auch sonst tun sollen? Welche Argumente hätte er vorbringen können? Ihr Boot war für ein Dutzend Personen gedacht, aber es waren doppelt so viele an Bord gewesen. Deswegen hatte es tief im Wasser gelegen und war nur mühsam vorangekommen. Sie hatten das Massaker, das sich hinter ihnen abspielte, mit angesehen: die Explosionen am gegenüberliegenden Ufer und das Auftauchen des großen Seeungeheuers. Sie hätten die Boote, die auf das Nordufer von Loch Beag zusteuerten, nur einholen können, wenn sie die Hälfte der Leute über Bord geworfen hätten. Doch die wären dann entweder ertrunken oder gefressen worden.

      Also hatten sie genau wie viele andere Boote das Westufer des großen Sees angesteuert, waren dort an Land gegangen und hatten sich die ganze Nacht aus Angst vor Explosionen und brennenden Steinen, die durch die Luft flogen, versteckt. Ein Energiestrahl, der vom Fireach Speuer herabgeschossen war, hatte die magische Katastrophe ausgelöst. Er hatte einen Großteil des Gebirges, das den See im Osten eindämmte, vernichtet und eine Kluft geschaffen, die mehrere Hundert Meter hinabführte, in die Wüste der Schwarzen Steine – eine Wüste, die dank des durch diese Lücke im Gebirge ausgelaufenen Loch Beag zu einem gewaltigen See geworden war.

      So unvermittelt hatte sich ihre ganze Welt verändert.

      »Wir sollten nach Norden gehen, nicht nach Süden«, schlug Asba vor und das nicht zum ersten Mal. Die Leute aus ihrem Boot waren noch vor Sonnenaufgang aufgebrochen und nach einigem Hin und Her hatten die Ältesten unter ihnen entschieden, dass sie nach Süden gehen würden, zum Dorf Car Seileach, und auf dem Weg dorthin die Flüchtlinge mitnehmen würden, deren Boote in der Nähe gestrandet waren.

      »Wir müssen zu den anderen und den Bewohnern von Car Seileach stoßen, damit wir gemeinsam zurückschlagen können«, sagte Asef, aber Asba schüttelte unablässig den Kopf, während sein Bruder sprach.

      »Wir drei sollten nach Süden gehen«, sagte Tamilee und stimmte damit den Argumenten zu, die Asba bei der Versammlung am frühen Morgen vorgebracht hatte. »Nur wir drei, nicht alle. Allein kämen wir schneller voran.«

      »Wir wären vor allem leiser«, warf Asba ein.

      »Richtig. Und wir könnten sie einholen, bevor sie die Leute erreichen, die zum Nordufer gefahren sind«, fuhr Tamilee fort. Sie sah sich zu denen um, die neben, vor und hinter ihnen gingen. »Zu viele, zu laut, zu langsam.«

      »Und die Sidhe mit den bemalten Gesichtern sind ganz in der Nähe«, sagte Asef. »Ich kann sie spüren.«

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      Kalte, nackte Angst legte sich auf Connebraghs Schultern. Sie wusste, dass sie nicht in der kleinen Höhle unter einigen freiliegenden Baumwurzeln bleiben konnte, aber wohin sollte sie gehen? Sie konnte nicht zu ihrem Stamm, den Usgar auf dem Berg, zurückkehren, denn ihre Leute waren abgeschlachtet worden.

      Oder verdorben und versklavt worden, rief sie sich ins Gedächtnis, als sie an die anderen Frauen aus dem Hexenzirkel dachte, die wahrscheinlich immer noch um den Gottkristall herumtanzten und diesem schrecklichen Riesen-Sidhe mit trunkener Bewunderung huldigten.

      Sie betrachtete ihren einzigen wertvollen Gegenstand, den Speer, der dem gefallenen Ahn’Namay, einem der Anführer ihres verlorenen Stamms, gehört hatte. Sie hatte ihn der Leiche abgenommen, die von den mit beängstigender Genauigkeit und Kraft geworfenen Speeren der Eroberer durchsiebt worden war.

      Sie versetzte ihre Gedanken in die Kristallspeerspitze und suchte nach der Magie, nach dem Lied Usgars, das darin steckte. Sie hörte das Flüstern zweier Steine: jenes der grünen Sprenkel, die ihr Gewicht reduzierten und es ihr erlaubten, schnell über die unwegsamen Abhänge zu laufen, und das der winzigen, funkelnden Diamanten, die Licht und Dunkelheit hervorbringen konnten. Sie spürte auch den Wedstein – in jeden Usgarspeer war ein Stück dieses Heilsteins eingearbeitet, der auch den Schlüssel zu aller Magie darstellte –, aber der in diesem Speer war nicht sonderlich stark.

      Sie fand keine Spur von Angriffsmagie, weder Blitz noch Feuer, was wohl auch besser war, denn sie hatte keine Ahnung, wie man einen Speer im Kampf einsetzte. Im Gegensatz zu den Seebewohnern erlaubten die Usgar nur Männern, Krieger zu werden. Nur Männern. Connebragh verzog das Gesicht, als sie an die Szene auf dem heiligen Plateau dachte. Die Eroberer mit den bemalten Gesichtern hatten Speere auf ihr Volk niederregnen lassen, was schreckliche Konsequenzen gehabt hatte. Sie war keine Kriegerin, aber


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