Der Arzt vom Tegernsee Staffel 4 – Arztroman. Laura Martens
Andrea. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, lächelte sie.
Katharina Wittenberg, die sich im Wohnzimmer einen Videofilm angesehen hatte, kam ins Treppenhaus. »Guten Abend«, sagte sie freundlich und warf Eric einen fragenden Blick zu.
»Ich habe einen Gast mitgebracht.« Dr. Baumann stellte seine Haushälterin und Andrea, die sich inzwischen aufgerichtet hatte, einander vor. »Wärst du so gut, uns noch einen heißen Tee zu machen?« fragte er und wandte sich an die junge Frau: »Sie möchten sicher etwas trinken? Vielleicht haben Sie auch Hunger?«
»Nein, hungrig bin ich nicht, doch etwas Heißes würde mir bestimmt guttun«, gab sie zu. »Macht es Ihnen auch keine Umstände, Frau Wittenberg?«
»Darum müssen Sie sich nicht sorgen«, erklärte Katharina herzlich. »Allerdings sollten Sie erst einmal ein heißes Bad nehmen. Sie sehen aus, als hätten Sie es nötig.« Impulsiv legte sie den Arm um die Schultern der jungen Frau. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach oben. Wenn Sie möchten, können Sie Ihren Tee im Bett trinken.« Sie drehte sich Eric zu. »Oder möchtest du erst noch mit Frau Stanzl sprechen?«
»Schlafen Sie sich erst einmal aus, Frau Stanzl«, schlug Dr. Baumann vor. »Wir können morgen über alles reden.« Er lächelte ihr zu. »Einverstanden?«
Andrea nickte dankbar.
»Fein, und machen Sie sich keine Sorgen. Es wird sich schon alles finden.«
Katharina führte die junge Frau nach oben, während der Arzt mit Franzl in die Küche ging. Da er annahm, daß seine Haushälterin noch eine Weile beschäftigt sein würde, setzte er selbst das Teewasser auf.
Franzl legte sich demonstrativ vor die Speisekammer. Als sein Herrchen diese Geste nicht gleich beachtete, seufzte er laut auf.
»Du bist unverbesserlich.« Der Arzt wandte sich um. »Aber nur einen einzigen Hundekuchen.« Er sah ihn streng an. »Mehr gibt es nicht.«
Franzl sprang auf. Er durfte sein Herrchen nicht daran hindern, die Speisekammertür zu öffnen. Erwartungsvoll wackelte er mit der Rute.
Eric warf ihm einen Hundekuchen zu. »Nichts Katharina verraten«, sagte er. »Also mach, daß du unter den Tisch kommst und sie dich nicht beim Kauen erwischt.«
»Schon geschehen«, erklärte seine Haushälterin grimmig und trat in die Küche. »Soviel zu Männern und ihren Prinzipien.« Sie blickte auf Franzl, der gerade unter dem Tisch verschwand. »Das nützt dir auch nichts mehr. Du kannst ruhig vorkommen.«
Franzl steckte den Kopf unter dem Tisch hervor. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den Hundekuchen zu fressen. Ein Stückchen davon ragte aus der Schnauze heraus. Treuherzig blickte er zu der Haushälterin auf, dann zog er den Kopf zurück, und gleich darauf hörte man ihn schmatzend kauen.
»Tischmanieren hat er keine«, bemerkte Eric schmunzelnd. »Was macht unser Schützling?«
»Liegt in der Badewanne«, erwiderte Katharina. »Ich wollte Frau Stanzl nicht ausfragen. Was ist denn passiert?« Sie bemerkte, daß das Teewasser kochte, und füllte es in die bereitstehenden Becher.
Eric erzählte es ihr. »Frau Stanzl sollte sich endlich von diesem Mann trennen. Soweit ich sie verstanden habe, hofft sie darauf, daß er sie morgen wieder aufnehmen wird.«
»Ich glaube, ihre größte Angst ist es, völlig allein auf der Welt zu stehen«, sagte Katharina. »Sie macht auf mich den Eindruck einer Frau, die glaubt, nur mit einem Mann von anderen anerkannt zu werden. Lieber eine denkbar schlechte Beziehung als gar keine.«
»Ja, da kannst du recht haben.« Dr. Baumann griff nach seinem Teebecher. »Nun, ich werde morgen versuchen, sie davon zu überzeugen, daß sie ihr Leben selbst in die Hände nehmen muß. Würde es dir etwas ausmachen, wenn sie für einige Zeit bei uns wohnt?«
»Nein, natürlich nicht, Eric«, versicherte Katharina Wittenberg und griff nach dem Tablett, auf das sie den Tee für Andrea gestellt hatte. »Wenn es eine Möglichkeit gibt, dieser armen Frau zu helfen, sollten wir es tun.«
»Ich wußte, daß ich mich auf dich verlassen kann«, meinte der Arzt und küßte sie auf die Wange, dann ging er mit seinem Teebecher ins Arbeitszimmer hinüber, um dort in Ruhe über alles nachzudenken.
*
Katharina Wittenberg huschte auf Zehenspitzen durch den Korridor. Sie wollte verhindern, daß Andrea Stanzl vorzeitig aufwachte. Eric hatte mit ihr ausgemacht, daß sie die junge Frau so lange wie möglich schlafen lassen wollten. Mit Andrea reden konnte er auch noch nach dem Mittagessen. Jetzt war es erst einmal wichtig, daß sie etwas Ruhe fand.
Dr. Baumann kam gerade mit Franzl von einem Morgenspaziergang, als Katharina den Kaffee auf den Küchentisch stellte. »Das nennt man timing«, meinte er und trat ans Spülbecken, um sich die Hände zu waschen, während Franzl sofort seine Schnauze im Futternapf vergrub.
Im Arbeitszimmer des Arztes klingelte das Telefon. »Ich bin gleich zurück«, sagte er, griff nach einem Handtuch und verließ die Küche.
»Hoffentlich kann dein Herrchen in Ruhe frühstücken, bevor er aus dem Haus muß«, meinte Katharina Wittenberg zu Franzl. »Es ist immer dasselbe. Kaum will sich Eric zu Tisch setzen, schon wird er gestört.«
»Wuw«, machte Franzl und wirkte so traurig, als hätte er jedes ihrer Worte verstanden.
»Schön, daß du darüber genauso denkst wie ich.« Die Haushälterin tätschelte seinen Rücken, was ihn sofort veranlaßte, noch einmal zu seinem Futternapf zu laufen und demonstrativ hineinzustarren.
In diesem Moment kam Dr. Baumann zurück. »Keine Angst, Katharina, mein Frühstück ist nicht gefährdet«, sagte er. »Es ist Frau Bohn gewesen. Sie wollte uns nur sagen, daß es bei ihr heute abend später wird. Ihre Tochter Michaela fliegt am späten Nachmittag nach Madeira, und sie möchte sie auf den Flughafen nach München begleiten.«
»Ein Wunder, daß sich Michaela nicht dagegen gewehrt hat«, bemerkte Katharina bissig. Sie hielt nicht viel von Erika Bohns Kindern. Die beiden jüngsten, ihre fünfundzwanzigjährige Tochter Michaela und deren Bruder Thomas, lebten noch bei ihr, gaben kein Kostgeld ab und ließen sich von ihr von vorn bis hinten bedienen. Dafür sahen sie genau wie ihre älteren Geschwister Wolfgang und Bianca auf die Mutter herab, weil diese ihren Lebensunterhalt mit Putzen verdiente.
»Vermutlich hat unsere gute
Erika regelrecht darum gebettelt, sie zum Flughafen begleiten zu dürfen«, erwiderte Eric und setzte sich an den Tisch. »Auf meinem Schreibtisch lag ein Zettel.« Leise seufzte er auf. »Wenn du meinst, Frau Stanzl würde im Gästezimmer schlafen, so irrst du dich gewaltig. Sie ist zu ihrem sogenannten Freund zurückgekehrt.« Er schob Katharina den Zettel entgegen.
»Wie kann sie nur so dumm sein?« fragte die Haushälterin fassungslos, nachdem sie Andreas Nachricht gelesen hatte. Die junge Frau hatte in aller Frühe Herbert Freytag angerufen und ihn gefragt, ob sie zurückkehren dürfte. Er hatte es ihr großzügig erlaubt.
Bitte verzeihen Sie, Herr Doktor, aber so schlecht ist der Herbert im Grunde genommen nicht. Herzlichen Dank für alles, was Sie und Frau Wittenberg für mich getan haben.
Ihre Andrea Stanzl
»Sie muß den ganzen Weg gelaufen sein«, vermutete der Arzt. »Geld hatte sie jedenfalls nicht. Dieser Mann hatte sie ja ohne einen Pfennig auf die Straße gejagt.« Stirnrunzelnd schaute er auf Franzl hinunter. »Warum hast du sie gehen lassen?« fragte er. »Du bist mir ein schöner Wachhund.«
Franzl hob erwartungsvoll den Kopf. Seine Rute bewegte sich wie ein Propeller.
»Sieht aus, als wollte er auch noch eine Belohnung«, meinte
Eric lachend und strich über den Kopf des Hundes.
»Auf ihre Art ist Frau Stanzl genauso dumm wie Frau Bohn.« Katharina schenkte Kaffee ein. »Nun, du hast wenigstens versucht, ihr zu helfen. Das ist mehr, als viele andere getan hätten.«
Und trotzdem zu wenig, dachte der Arzt und fragte sich,