Allgemeine Epileptologie. Группа авторов
17-21
33617 Bielefeld
Vorwort
Christian G. Bien
Dieses Epilepsie-Praxisbuch stammt aus Bethel. Bethel, eine diakonische Stiftung, wurde 1867 durch die Innere Mission der Evangelischen Kirche als »Heil- und Pfleganstalt für Epileptische« vor den Toren Bielefelds gegründet. Längst sind die von Bodelschwinghschen Stiftungen ein prägender Teil dieser Stadt geworden, und »Bethel« bezeichnet sowohl die Stiftung als auch die Ortschaft, quasi einen Stadtteil Bielefelds. Die Stiftung hat sich inzwischen über die Stadtgrenzen hinaus ausgedehnt und ist in acht Bundesländern für Menschen tätig, die auf Hilfe, Unterstützung oder Assistenz angewiesen sind. Die Betreuung epilepsiekranker Menschen war der Gründungsgedanke Bethels, und sie ist bis heute ein Schwerpunkt seiner Arbeit. Anfangs folgte man einem theologisch-rehabilitativem Ansatz, später traten die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Medizin hinzu. Die Errichtung des Epilepsie-Krankenhauses »Mara« in den Jahren 1931/32 trug dieser Entwicklung Rechnung. Heute sprechen wir vom Epilepsie-Zentrum Bethel, das die klinische Epileptologie, aber auch die Rehabilitation, Ausbildung und Seelsorge für epilepsiekranke Menschen umfasst. Viele sehen das Krankenhaus Mara, die Klinik für Epileptologie, als ein Gravitationszentrum der Epilepsiearbeit in Bethel. Hier betreuen verschiedene Berufsgruppen auf Augenhöhe und mit ihren spezifischen Kompetenzen die Patienten. Mara bietet die klinische Epileptologie in ihrer ganzen Breite aus einer Hand: die konservative Epileptologie, die prächirurgische Diagnostik und Epilepsiechirurgie (seit 1991), die Kinderepileptologie (seit 1978 als eigener Bereich), die Behandlung junger Erwachsener (seit 1985), die Psychotherapie für Anfallskranke (seit 1990), die Behandlung mehrfach behinderter Menschen mit Epilepsie sowie die medizinische und berufliche Rehabilitation (seit 1997). Das Krankenhaus Mara ist seit 2020 Universitätsklinik für Epileptologie im Universitätsklinikum Ostwestfalen-Lippe der Universität Bielefeld. In Mara sind ein einzigartiges Erfahrungswissen und ein besonderes Gespür für Epilepsien entstanden. »Epilepsie verstehen« ist kein bloßer Werbeslogan, sondern echter Anspruch: Er drückt unser Bestreben aus, die Bedeutung der Epilepsie für den einzelnen Patienten zu erfassen und zugleich die Ursachen und Bedingungen ihrer Entstehung zu begreifen. In diesem Buch wollen wir den Versuch machen, unsere Erfahrungen und unsere Kenntnisse auf dem Gebiet der »Allgemeinen Epileptologie« weiterzugeben. Gemeint ist der nichtchirurgische Teil der Erwachsenen-Epileptologie. Das Buch ist von Angehörigen verschiedener Berufsgruppen verfasst, die aktuell oder bis vor kurzem in Mara in Medizin, Psychologie oder Sozialdienst tätig waren. Es will eine Lücke zwischen Lehrbüchern und Leitlinien schließen. Lehrbücher bieten gesicherte Fakten, aber keine Handlungsempfehlung. Leitlinien liefern durch Daten abgesicherte Handlungsempfehlungen, sind aber lückenhaft, da es nicht für alle klinischen Situationen Studiendaten gibt. Auch gelten Leitlinien oft nicht für besondere Patientengruppen (z. B. alte oder behinderte Menschen, obwohl in beiden Gruppen Epilepsien besonders häufig vorkommen). Manche Themen entziehen sich weithin üblichen wissenschaftlichen Studienansätzen und sind doch im Alltag relevant (z. B. die Nutzung der Medikamentenspiegel). Viele nützliche Standards entstehen – wie in anderen Fachgebieten der Medizin auch – durch Erfahrung und häufige Übung, ohne dass sie in »PubMed«, einem Lehrbuch oder einer Leitliniensammlung zu finden wären. Anderes wiederum erschließt sich erst bei einer breiten Kenntnis der Literatur aus mehreren Jahrzehnten (z. B. beim Thema »erster Anfall«). Solche Einsichten und Handlungsempfehlungen aus unserer täglichen Arbeit wollen wir in diesem ersten »Bethel-Praxisbuch« vorlegen.
1 Erster unprovozierter epileptischer Anfall1
Christian G. Bien und Ulrich Specht
Fallbeispiel 1.1
Ein 57-jähriger Vertriebsleiter erlitt einen erstmaligen unprovozierten tonisch-klonischen Anfall von ca. drei Minuten Dauer ohne beobachteten oder erinnerten fokalen Beginn. Es dauerte 20 Minuten, bevor der Patient kognitiv wiederhergestellt war. Während das postiktuale EEG frei von epilepsietypischer Aktivität war, zeigten die cerebrale Computertomografie (cCT) und die Magnetresonanztomografie (MRT) eine rechts frontal kortikale Läsion, die kein Kontrastmittel aufnahm. Die neuroradiologische Diagnose lautete »Rindenastrozytom« (
Die erstbehandelnde Klinik dosierte zur Senkung des durch den Tumor erhöhten Anfallsrisikos Levetiracetam 1.000 mg/d ein. Eine Resektion des Tumors (um eine Histologie zur besseren Prognoseabschätzung zu erhalten, um das Tumorvolumen zu verkleinern und das Anfallsrezidivrisiko zu senken, also neurochirurgisch-epileptologische »Mischindikation«) lehnte der Patient ab. Wegen der besonderen beruflichen Problematik – zentraler Anteil seiner beruflichen Tätigkeit war das Autofahren – nahm der Patient das Angebot einer epilepsiespezifischen Rehabilitation in Bethel an. Hier wurde wegen der langen postiktualen Umdämmerung Gefährdungskategorie D nach den berufsgenossenschaftlichen Beurteilungsleitlinien festgestellt. Das Reha-Team stellte fest, dass angesichts des erhöhten Rezidivrisikos durch den Tumor für mindestens ein Jahr nach dem Anfall keine Fahreignung bestand und schlug verschiedene Alternativen zum Autofahren vor (Fahrassistenz, Innendienst, Bahnfahren, vorgezogener Ruhestand, und andersartige berufliche Nebentätigkeit). Er wurde wegen der fehlenden Fahreignung arbeitsunfähig entlassen.
Der Patient trat in den Vorruhestand und übernahm eine Dozententätigkeit. Er kam einmal jährlich in die epileptologische Sprechstunde. Unter fortgesetzter Levetiracetamtherapie mit durch Blutspiegelkontrollen belegter guter Adhärenz kam es vier Jahre später zu einem zweiten tonisch-klonischen Anfall. Das EEG blieb bei mehreren Wiederholungen unauffällig. Der Tumor wuchs nicht weiter. Die jüngste Verlaufsuntersuchung fand sieben Jahre nach dem ersten Anfall statt. Der Patient war beschwerdefrei und mit seiner sozialen und medizinischen Situation zufrieden.
Abb. 1.1: (A) axiale Computertomogramm; der Tumor im rechten Frontallappen ist mit einem Pfeil markiert; (B) koronare Magnetresonanztomografie (MRT), Sequenz: Fluid-attenuated inversion recovery (FLAIR); (C) axiale T1-gewichtete MRT mit Kontrastmittel (der Tumor nimmt kein Kontrastmittel auf); (D) axiale FLAIR-MRT
1.1 Diagnostisches Vorgehen nach dem ersten Anfall
Nach einem ersten Anfall sind nach Bast et al. (2017) die in Abbildung 1.2 dargestellten Fragen zu beantworten. Die in Tabelle 1.1 genannten Untersuchungen beantworten diese.
Abb. 1.2: Fragen, die nach einem erstmaligen Anfall zu beantworten sind (Specht und Bien 2018, © Georg Thieme Verlag KG)
Tab. 1.1: Checkliste Basisdiagnostik erster Anfall
ThemaFragen, Untersuchungen
Oft kann bereits nach der Anfallsbeschreibung und körperlichen Untersuchung ein epileptischer Anfall diagnostiziert werden. Eine Hirnbildgebung (akut cCT, im Intervall MRT) und (ggf. mehrere) EEG sind ergänzend immer erforderlich. Die kraniale Bildgebung dient einerseits zur Erkennung behandlungsbedürftiger Ursachen eines akut-symptomatischen Anfalls (z. B. Sinusvenenthrombose), wozu in der Regel eine CT ausreicht. Andererseits trägt die Bildgebung zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Rezidivanfalls mit seinen weitreichenden sozialen Konsequenzen bei (Krumholz et al. 2007; Krumholz et al. 2015). Hierfür ist die sensitivere MRT besser geeignet. Sie wird von der DGN-Leitlinie in ≤ 4 mm dicken Schichten in Standardangulierung (soweit nicht anders angegeben) mit den folgenden Sequenzen empfohlen (Bast et al. 2017):
•