Der Alphornpalast. Kurt Marti

Der Alphornpalast - Kurt Marti


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      Nirgends Hilfe, die Felder menschenleer.

      Schnell, schneller! hetzten die Richter, die Henker. Und schlugen auf ihn ein: Mach dein Testament, Bubi! Sollen wir Mami nachher einen Gruss bringen von dir? Gewiss wird sie ob deines Todes untröstlich sein.

      I wo, krähte einer, gern wird der Papi ihr ein anderes Bubi machen, ein besseres sogar.

      Im Wald wurde der jetzt käsbleiche Bub mit dem Strick, den ein Blondschopf lange schon wie ein Lasso hatte durch die Luft wirbeln lassen, an einen Buchenstamm gebunden. Unter Schmähungen, wilden Drohungen hob rund um das Opfer eine Art Kriegstanz an. So ist das Leben, so wills die Gerechtigkeit, schrie der Sheriff, von einem Bein aufs andere hüpfend, schwört ihr, über alles, was hier jetzt abläuft, zu schweigen wie das Grab? Die Hüpfer und Tänzer reckten Schwurfinger empor: Wie das Grab, wie Bubis Grab, ja, wir schwören, wir schwören bei unserem eigenen Blut, bei Super-Man, bei Rambo, dem heiligen Rächer, bei allem, was stark ist und gerecht!

      Der Bub, am Buchenstamm fixiert, der Strick schmerzte, wollte tapfer bleiben, doch Schluchzen überwältigte, schüttelte ihn.

      Wer hat dir denn erlaubt, so erbärmlich zu heulen, du Nussgipfel, du Schwächling? fuhr ihn der Sheriff an, noch immer tanzend, wer überhaupt erlaubt dir, so feige zu sein?

      Seine Feigheit schreit nach Strafe, brüllte die Meute, sie stinkt zum Himmel, sie beleidigt den grossen Manitou.

      Der Tanz ebbte ab, hörte auf.

      Schuldig oder nicht schuldig? fragte der Sheriff.

      Schuldig, schuldig, was denn sonst! krähte die Bande. Und plötzlich blitzte eine Messerklinge, wurde dem Bub an die Gurgel gesetzt. Der, schreckensstarr, brachte keinen Laut mehr hervor, pisste hilflos in die Hosen, an die blossen Beine.

      Pfui Teufel! schimpfte der Sheriff, als ers bemerkte. Pfui, pfui! auch die andern und traten mit ihren Schuhen nach den Schienbeinen des Opfers: Schweinigel, Hosenbrünzler! Hände, Finger zerrten, rissen ihm die feuchten Kurzhosen, den nassen Slip auf Füsse und Sandalen herab.

      Ha! Wenn Änneli dich jetzt sehen würde, höhnte einer, ist doch dein Schatz, oder nicht? Würde wohl Augen machen, wenns dich sähe, so ein Bubi, ein feiges, so ein Schnäbi, ein kleines!

      Schneiden wirs doch ab, wurde vorgeschlagen, dann ist fertig gebrünzelt! Und flugs war die Messerstahlklinge an der Wurzel des kleinen Pimmels.

      Nein nein! heulte der Bub entsetzt auf.

      Wiehernd weideten sich die Richter, die Henker an seiner Angst: Geschieht dir recht, du Bettnässer, du Schmutzfink!

      Dann aber entschied der Sheriff: Genug jetzt!

      Der Bub wurde losgebunden. Hoch im Bogen flogen seine Hosen, sein Slip, von Pfuirufen begleitet, ins übernächste Gebüsch.

      Dass du uns nie wieder unter die Augen kommst! drohte der Sheriff. Hast du verstanden: Nie wieder! Bleib beim Mami und lass dir Märlein erzählen. Hier draussen hast du nichts zu suchen, kapiert? Wenn du dich wieder zeigst, machen wir kurzen Prozess mit dir.

      Nur in Hemd und Sandalen rannte der Bub davon, stolperte über eine Wurzel, fiel hin, rappelte sich wieder auf, rannte in Panik dem Waldausgang zu.

      Höhnisch schrieen sie hinter ihm her: Lauf, Bubi, lauf!

      Rettung

      Er musste, da es von der Alpweide aus keinen anderen Einstieg in die Schlucht gibt, über den steilen Wald- und Gestrüpphang gekommen, zuletzt wohl vor allem heruntergerutscht sein, bis dass die Schuhsohlen die ersten Sprossen jener halb schon verfaulten Leiter erreicht hatten, die über ein Felsband direkt auf den Schluchtpfad, den immer feuchten, hinabführt. Was mag er gesucht haben hier unten, wo der Schwarzbach sich zwischen Felswänden hindurch- und über Gesteinsblöcke oder querliegende Baumstämme hinwegkämpft? Bizarre Steine vielleicht oder lichtscheue Pflanzen? Ausser schwarzem Holunder da und dort am Wegrand weist die Schlucht, in die niemals ein Lichtstrahl fällt, zwar reichlich Moos, jedoch kaum Pflanzenwuchs auf. Tiere gibts hier keine, nie ist ein Vogellaut zu hören. Was also mag der Alleingänger gesucht haben? War er einfach neugierig gewesen? Doch was solls? Er war gekommen und plötzlich hatte es ihn erwischt, ausgerechnet hier.

      Als er kurz vor dem Einnachten gefunden wurde, rief der Sanitäter routinemässig und über ihn gebeugt: Hören Sie mich? Der rücklings auf dem Schluchtpfad Liegende nickte andeutungsweise. Wie heissen Sie? fragte der Sanitäter. Ratlos blickte ihn der Gerettete an, konnte sich nicht mehr erinnern.

      Ausgegangene Antworten

      Obgleich sich vor dem Antwortschalter eine lange Schlange von Leuten angesammelt hatte, klappte das Schalterfenster plötzlich zu, lange vor Dienstschluss, am frühen Nachmittag schon. Empört protestierten die noch Wartenden, am lautesten die an der Spitze der Schlange, die damit gerechnet hatten, demnächst bedient zu werden. Unbeherrscht stiessen sie Flüche aus, ballten die Fäuste im Zorn. Gleichmütig aber schob der Beamte eine Plakattafel hinters Schalterglas: DIE ANTWORTEN SIND AUSGEGANGEN. Während manche erregt weiter schimpften und sich mit leeren Drohungen Luft verschafften, erstarrten die meisten, wandten sich wortlos zum Ausgang. Eine Dame in elegant-grauem Tailleur begann zu schluchzen, verbarg ihr Gesicht in beiden Händen. Langsam leerte sich die Halle.

      I carceri

      Einen kennen, der nichts als Piranesis Kerkerstiche und deren Reproduktionen sammelt, dieser Leidenschaft bedenkenlos seine Ersparnisse opfernd, sich vielleicht sogar verschuldend. Die Originale, die Reproduktionen, male ich mir aus, deckten sämtliche Wände seiner kleinen Wohnung von unten bis oben ab: Gewölberhythmik, wohin der Blick fiele, majestätische Mauerpathetik mit Lichteinfällen durch Gitterfenster ganz hoch oben. Aus feuchten Finsternissen suchen erlöschende Augen vergeblich nach Zeichen des Erbarmens, nach Entgegenkommen, doch nichts kommt entgegen, keiner der Lichtstrahlen reicht hinunter bis in die Rattenwelt der Verdammten, alles entzieht sich, weist ab – Mauern wie schöne endgültige Ungeheuer, an deren Fuss winzig und preisgegeben zwei, drei Schattengestalten, kaum noch erkennbar, kauern oder liegen, wahrscheinlich haben sie längst den Verstand verloren. Klimmzüge, Emporklettern wäre aussichtslos. Wers dennoch, von Verzweiflung getrieben, versucht hat, kann nicht weit nach oben gekommen, muss bald schon ausgeglitten, abgestürzt sein, ist vielleicht mit gebrochenen Knochen liegen geblieben, niemand weiss es. Allein noch der Blick und die Vorstellungskräfte der für immer Versenkten, nach deren Schuld oder Unschuld niemand mehr fragt, bleiben beschäftigt, halten die auf feuchten Fliesen, auf verfaultem Stroh Dahindämmernden noch ein wenig am Leben, am Sterben. Mechanisch folgen ihre Augen immer wieder den Mauerflächen, Fugenverläufen, den Rundungen der Gewölbe und Emporen, dem Spiel der Sonnenstrahlen ganz hoch oben, bis sie ermattet, von Entbehrungen geschwächt, schliesslich nur noch Licht und Schatten wahrzunehmen vermögen, ehe sie ganz erlöschen. Was bleibt, ist die Macht monumentaler Architektur, sind triumphale Raumphantasien, eine Verliesswelt, die wahnsinnig gewordene Fürsten sich als Denkmal errichtet haben könnten, Spätlinge wohl, die, in ihre Banditen, Mörder, Brandstifter, Rebellen grausam verliebt, Lust und Befriedigung daran fanden, die langsam krepierenden Opfer mit Orgien von Raum zu demütigen und zugleich doch zu ehren. Verdammnis, bis in die Details kunst- und liebevoll ersonnen: melancholischer Pomp, poetischer Horror.

      Wie gesagt: den manischen Sammler dieser Verliessphantasien kennen und vielleicht auch Zeuge sein dürfen, wie sein Auge und sein Geist alsbald entzückt und süchtig dem Sog der gewaltig aufgetürmten Gemäuer, Bögen, Winkel verfallen, wobei der Betrachter sich – und ich mit ihm? – unmerklich in einen jener Verdammten verwandelte, die nichts mehr sind als Augenrausch und Agonie. Ihre Verlorenheit, denke ich, würde den Sammler und süchtigen Betrachter von neuem mit seiner eigenen versöhnen. Meine Gegenwart vergessend fiele er stumm auf die Knie: Adorant eines Gottes, der sich die Welt als mirakulösen Kerker erdacht haben könnte, in dem seine Geschöpfe und Opfer allmählich verenden, verwesen zum Te Deum grandioser Mauern und hochentrückten Lichts.


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