Deutsche Geschichte (Band 1-3). Ricarda Huch
des Ordens in Preußen gebildet hatte und seine Autonomie beschränken konnte, war damit ausgeschaltet. Wieviel Wert der Orden aber auch auf Unabhängigkeit legte, tatsächlich war er im hohen Maße abhängig vom deutschen Volk und Reich; denn aus eigener Kraft konnten die Ordensritter an die Eroberung eines großen, von einem tapferen Volke bewohnten Gebietes nicht denken. Erst als Fürsten und Ritter aus allen Teilen Deutschlands herbeiströmten, wurden im Laufe von Jahrzehnten Pomesamien und die nördlichen Teile von Warneien und Natangen gewonnen. Der Friede von Christburg im Jahre 1249 verbürgte den Preußen dieses Gebietes nach Annahme des Christentums persönliche Freiheit und sogar Gleichberechtigung mit den Deutschen nach ihrem Geburtsstande; doch hatten sie dem Orden Kriegsdienst zu leisten. Ob diese wohltätigen Bedingungen von Seiten des Ordens innegehalten wurden, läßt sich nicht feststellen; nachdem sie von Seiten der Preußen durch Aufstände aufgehoben waren, wurden sie es nicht mehr. Es ist natürlich, daß hauptsächlich der Nordwesten und der Osten des Reiches, Meißen, Brandenburg, Böhmen, Schlesien, Lübeck, Magdeburg, Braunschweig, sich an der Eroberung und Besiedlung des neuen Gebietes beteiligten. Im Jahre 1252 wurde die Memelburg begründet und in ihrem Schutze einige Jahre später die Stadt, wobei Lübeck besonders mittätig war. Zur Erinnerung an die bewaffnete Hilfe, die König Ottokar von Böhmen dem Orden leistete, entstand im Jahre 1255 am Ufer des Pregel die Burg Königsberg. Die Eroberung des Samlandes war wichtig, weil an seiner westlichen Küste ein Juwel, gelb wie Gold, leicht wie Flaum, gefunden wurde, das schon im Altertum Handelsleute in diese Wildnis lockte, der Bernstein, den das Meer ans Ufer spülte, der aber auch durch Abbau gewonnen wurde. Zum Schutze dieses Betriebes errichtete der Orden am Frischen Haff die Burg Lochstedt, von der sich zwei Flügel erhalten haben. Die Verlassenheit der Ruine ist nicht so schaurig, wie die Wüsteneinsamkeit dieser Stätte gewesen sein muß, als die Ordensritter hier zuerst ein hölzernes Haus bauten. Nicht weit davon ist nach der Überlieferung der Ort, wo einst, am Ende des zehnten Jahrhunderts, der heilige Adalbert, als er den Heiden das Wort Gottes predigen wollte, erschlagen wurde; man baute dort zu seinem Gedächtnis eine hölzerne Kirche. Jetzt war die Feindseligkeit der Einwohner, durch Rachsucht gestachelt, vielleicht noch unversöhnlicher; nirgends war ein Ort und nie kam eine Stunde, wo man nicht des Überfalls gewärtig sein mußte. Und war der menschliche Gegner zurückgedrängt, so blieb das maßlose, grauenvolle feindliche Land. Rings keine Spur traulichen Daseins, kein Punkt geselliger Anknüpfung, nichts als das eintönige Donnern der Brandung, das Kreischen der Möwen, das Knarren und Sausen der Kiefern. Es bedurfte der strengen Ordensregel, der Gewöhnung an Gehorsam und Entbehrung, des Ansehens verehrungswürdiger Führer, damit die Brüder nicht nur zu Taten, sondern auch zu grauem Leiden und Entbehren bereit waren. Indessen ist es so, daß Opfer stets gern gebracht werden, solange sie im Namen eines hohen Ideals und zur Erreichung einer großen Aufgabe gefordert werden; zur Eroberung fehlte es den Menschen nie an Kraft, erst im Besitz beginnt sie zu erlahmen. Bewunderungswürdig schnell begann der leere Raum sich zu füllen, erwuchsen durch die zuströmenden Bürger und Bauern Städte und Dörfer. Im Laufe von zwei Jahrhunderten sind beinah hundert Städte und über tausend Dörfer im Gebiet des Deutschen Ordens entstanden. Der Wohlstand, der sich hier unter guten Bedingungen entwickelte, konnte nur eins nicht ersetzen: das geheimnisvolle Wurzelgeflecht der Geschichte. Dies war nicht Heimatland, sondern Fremdlingsland, Abenteuerland, Amerika des Reichs; noch so manches unvorherzusehende Abenteuer konnte ihm bevorstehen. Zunächst aber wuchs es fort und breitete sich aus. Mit Polen blieben dank des gemeinsamen Gegensatzes gegen die Preußen die Beziehungen freundschaftlich. Trotz der Anhänglichkeit an König Ottokar von Böhmen, den der Orden gegen Rudolf von Habsburg unterstützte, brachten es die Hochmeister als gute Diplomaten fertig, nach dem Sturze Ottokars die Verbindung mit dem Kaiser zu erhalten. Rudolf erneuerte im Jahre 1277 das Privileg, das Friedrich II. dem Orden erteilt hatte.
In einem Gewölbe der steinernen Burg Lochstedt befinden sich noch Überreste einstiger Bemalung, darunter in einen Spitzbogen eingegliedert ein Bild des heiligen Michael: mädchenschlank, mädchenzart, mit schmaler asketischer Wange, lächelnd, seines Sieges gewiß, wie eine biegsame Klinge flammt er zwischen den Drachenhäuptern, die ihn umzüngeln, Licht gegen Finsternis. So sahen die Ordensmeister nicht aus, von denen es Abbildungen gibt: das waren feste, gedrungene Gestalten mit langen Bärten, das Gesicht von Sorgen und Mühen gefurcht, und auch die jungen Ritter werden meistens sehr viel derber und plumper ausgesehen haben und gewesen sein. Dennoch mögen sie sich in ihren höchsten Augenblicken, wenn sie sich dem Kampf und dem Tode weihten, so gefühlt haben: mit so viel Feuer wollten sie so viel Reinheit vereinigen.
Geistiges Leben
Im Zeitalter Barbarossas entfaltete sich der ritterliche Stand zur Blüte. Es entstand eine weltliche Baukunst, das Kunstgewerbe verfertigte schöne Gegenstände zum Schmuck von Burgen und Schlössern und Personen, eine weltliche Literatur entstand, die das Leben des Ritters und seine Ziele, Kriegszüge, Eroberungen, Herrendienst und Frauenliebe widerspiegelte. Die Wissenschaft war immer noch im Besitz der Geistlichkeit und hatte theologischen Charakter; aber dem Anspruch gemäß, daß Italien das Sacerdotium, Deutschland das Imperium, Frankreich das Studium zukomme, stand Deutschland in der Wissenschaft hinter den romanischen Nachbarländern zurück. In Italien hatte weltliche Wissenschaft nie ganz aufgehört, im zwölften Jahrhundert wurden die Universitäten Bologna und Padova als Rechtsschulen berühmt. Älter und berühmter war die Universität von Paris, eine Hochburg der orthodoxen Theologie. Daneben regte sich in Paris zuerst ein von der Dogmatik unabhängiges Denken über die Voraussetzungen des Christentums, der auf den freien menschlichen Verstand gestützte Zweifel. Ein Geistlicher war es, Abälard, der es wagte, das erhabene Gebäude der katholischen Lehre auf seine Haltbarkeit zu untersuchen. Nicht wie ein ungläubiger Heide rannte er dagegen an, sondern als ein Kundiger, ein Eingeweihter, beleuchtete er es mit dem Licht des theologisch geschulten Verstandes, ließ seinen Widerspruch in alle Ritzen schlüpfen und kam zu dem Schluß, daß die über dem Fundament der göttlichen Offenbarung in Jahrhunderten ausgebaute Lehre ersetzt werden könne aus der Vernunft und dem Gewissen der Menschen. Lehrte Christus irgend etwas, was nicht die Weisen und Guten unter den Heiden auch gelehrt hatten? fragte er. Lehrte er etwas, was unserer Vernunft widerspricht? Könnte selbst Gott etwas tun oder verkünden, was nicht in Einklang mit der menschlichen Vernunft wäre? Und wenn etwas gelehrt würde, was der Vernunft widerspräche, könnte und dürfte das geglaubt werden? Wozu also, wenn die Religion als natürliche Kraft in der menschlichen Vernunft liegt, bedurfte es dann der Offenbarung? Abälard kam zu dem Schlusse, daß die durch das Erscheinen Christi geoffenbarte Religion den Zweck erfüllt habe, die Unvernünftigen und Ungebildeten zu belehren, die bereits erkannte Wahrheit über die ganze Erde zu verbreiten. Das Aufwerfen solcher Probleme in einer Zeit, wo alle gewöhnt waren, sich der Autorität zu unterwerfen, wirkte berauschend. Der dem Menschen angeborene Trieb zu erkennen, sich selbst Wege des Erkennens zu bahnen, der durch die Kirche gebunden war, spannte die Flügel und spielte in den Lüften. Sogar der Papst und die Kardinäle fühlten sich durch Abälards neue Wissenschaft angezogen, der sich hütete, die geoffenbarte Religion anzutasten, außer daß er sie etwa für überflüssig erklärte, oder gar sich an der Kirche zu vergreifen. Sowohl die Klarheit des gallischen Geistes wie der Formalismus des römischen waren für die Wissenschaft Abälards empfänglich. Den Kampf gegen ihn unternahm Bernhard von Clairvaux, der wußte, daß Glauben nicht auf dem Denken, sondern auf dem Willen beruht, und der vielleicht fühlte, daß Abälard, indem er an dem historischen Christus vorüberging, das lebendige und lebenschaffende Element des Christentums ausschaltete. Die Gefahr, die es für die Kirche bedeutete, wenn dem menschlichen Verstande gestattet sein sollte, über religiöse Wahrheit zu entscheiden, wenn neben der Wahrheit des Christentums eine Wahrheit anerkannt werden sollte, die aus anderer Quelle stammte, war zu augenscheinlich, als daß nicht die Kirche diesem Lehrer hätte Schweigen gebieten sollen.
Es gab wohl auch deutsche Studierende, die in Paris von Abälards aufrührerischen Gedanken ergriffen wurden; aber im allgemeinen erregte seine Lehre in Deutschland nur Widerspruch, soweit sie überhaupt beachtet wurde. Die Gelehrten hielten sich an das Dogma, ohne sich dadurch vergewaltigt zu fühlen, oder sie bewegten sich, wie Rupert von Deutz, in Gedankengängen, die weder scholastisch noch dogmatisch tiefer in das Wesen des Menschen oder in das Leben einzudringen suchten. Gott war