Pitti lächelt. Manfred Siebald
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Manfred Siebald
Pitti
lächelt
und andere Geschichten
6., erweiterte Auflage 2021
© 2008 Brunnen Verlag Gießen
Lektorat: Petra Hahn-Lütjen
Umschlagfoto: Adobe Stock
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: DTP Brunnen
ISBN Buch 978-3-7655-1982-6
ISBN E-Book 978-3-7655-7600-3
Inhalt
Einmal Bacchusplatz und zurück
Im Leben nicht
Die Straße machte eine sanfte Rechtskurve und führte auf den Wald zu, dessen erste vereinzelte Bäume lange Schatten über die Fahrbahn warfen. Die drei Radfahrer traten unwillkürlich fester in die Pedale, denn an diesem heißen Nachmittag versprach das Laubdach eine gewisse Erfrischung nach der langen Strecke durch die Sonne.
Hügelig war die Gegend im Alpenvorland, mit weitläufigen Weidewiesen voller schwarzweißer Rinder, die völlig antriebslos vor sich hin standen und nur ab und zu den Kopf nach den Zweibeinern auf ihren Zweirädern drehten. Die waren streckenweise in flottem Tempo unterwegs – bis wieder eine der zahllosen Steigungen kam, die ihnen den Atem nahm und die Pulszahl in die Höhe trieb. Jetzt waren sie weit genug zwischen die schattenspendenden Bäume gefahren, um sich eine Pause zu gönnen.
Angefangen hatten sie ihre Fahrt am frühen Morgen in einem kleinen Hotel mit dem klangvollen Namen »Chalet Monrepos« am Rande der Hügelkette. Da hatten Sonja, Markus und Joschi beim Frühstück gesessen – »Sportsmen’s Breakfast« nannte die Speisekarte eine Variante, die aus einem großen proteinreichen Müsli, einem Ei und einem Fruchtcocktail bestand. Dieses Frühstück hatten sie gleich zu Beginn ihrer gemeinsamen Fahrradwoche gewählt, weil die unter dem ehrgeizigen Motto stand: »Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Sattel.« Dafür brauchten sie natürlich Energie. Nach den ersten beiden Tagen mit vielen Höhenmetern und beachtlichen Durchschnittsgeschwindigkeiten – digital gemessen – hatten sie es eigentlich heute etwas gemütlicher angehen lassen wollen. Aber wohin sollten sie heute fahren?
»Ich finde, wir sollten uns mal vornehmen, völlig ohne Zeitdruck und ohne Pflichten draufloszufahren«, hatte Markus vorgeschlagen. »Das muss doch herrlich sein, sich ganz dem Augenblick und der Bewegung hinzugeben. Ohne Fremdbestimmung durch Navigationsgeräte und ohne Gängelei durch Zielvorgaben und Straßenkarten.« Seine Augen hatten geleuchtet.
Die beiden anderen hatten sich denken können, warum. Alle drei kannten einander von der Schule her und wussten so ziemlich alles voneinander. Markus hatte eigentlich Rechtsanwalt werden wollen – sein angeborener Gerechtigkeitssinn und seine Formulierungsgabe hatten das nahegelegt – und hatte sein Jurastudium vielversprechend mit guten Noten begonnen. Irgendwann waren die Noten schlechter geworden, und er hatte einige seiner Klausuren auch zum wiederholten Mal nicht geschafft. Als dann zwei seiner besten Freunde aus demselben Grund ihr Studium beendeten, hatte auch er kurz entschlossen seine Zelte an der Universität abgebrochen und seinen Lebensunterhalt zuerst als Sortierer und dann als Kassierer in verschiedenen Einzelhandelsgeschäften verdient. Sein jetziger Job als Berater in einem Fahrradladen hatte mit seinen Karriereträumen nichts mehr zu tun. Er wollte gerade so viel Geld verdienen wie nötig und dachte kaum noch über die Ungerechtigkeit in der Welt nach, die ihn früher umgetrieben hatte.
»Ja, irgendwie ist das ganze Leben eine einzige Fremdbestimmung.« Spontan hatte Sonja ihm zugestimmt. »Kaum ist man auf der Welt, wird man schon in Richtung Kindertagesstätte geschubst. Dann in Richtung Schule. Und dort legen sie einen ziemlich bald auf ein Berufsziel fest. Immer bekommt man Worte wie ›Zielorientierung‹ und ›Zielstrebigkeit‹ um die Ohren gehauen.«
Sonja war Prokuristin in einem großen Betrieb der Verpackungsindustrie. Tag für Tag und Woche für Woche starrte sie in Auftragsbücher und Exportlisten und verglich die Summen mit den vom Aufsichtsrat vorgegebenen Quartalszielen. Der Druck, den sie dabei verspürte, wuchs von Tag zu Tag, bis sie am Ende von drei ängstlich beobachteten Monaten kaum noch schlafen konnte. Sie hätte ihren Job und ihr ganzes Leben sehr viel erträglicher gefunden, wenn es diese verwünschten Ertragsmarken nicht gegeben hätte. Und im Lauf der Zeit sträubten sich ihre inneren Nackenhaare sofort, wenn die Rede auf Ziele kam. Deshalb war sie heute Morgen bei dem Gedanken an eine Radtour ohne Destination Feuer und Flamme gewesen.
Auch Joschi war fasziniert von dem Gedanken der Ziellosigkeit, und unbewusst hatte das sicher auch bei ihm mit dem Lebenslauf zu tun. Dass er ebenfalls die Nase voll hatte von Zielvorgaben, verstanden die beiden anderen nur zu gut. Wie die meisten Jungen hatte er während seiner frühen Teenagerjahre davon geträumt, Profifußballer zu werden. In seiner Schülermannschaft hatte er als der schnellste Flügelflitzer gegolten und war von den gegnerischen Mannschaften wegen seines atemberaubenden Antritts gefürchtet worden. Der Trainer hatte ihn entsprechend gelobt und war doch mit seiner Einstellung nicht richtig zufrieden gewesen. »Du hast zwar ein tolles Tempo drauf, aber bei Pässen spielst du meistens quer. Dir fehlt irgendwie der Zug zum Tor.« Diese Kommentare hatten ihn im Laufe der Zeit so genervt, dass er immer öfter das Training hatte ausfallen lassen und deswegen schließlich nicht mehr aufgestellt worden war. Und seit jener Zeit haderte Joschi mit allem, was nach »Zug zum Tor« roch. Nach einigen Jahren der Ausbildung zum Verwaltungsangestellten und einer für ihn unbefriedigenden Bürotätigkeit im Finanzamt hatte er sich an der Universität für das Fach Geowissenschaften eingeschrieben. Wenn ihn jemand nach seinem Beruf fragte, nannte er sich »Student im fortgeschrittenen Lebensalter.«
Deshalb hatte er heute Morgen auch Markus aus vollem Herzen unterstützt: »Wann hat man überhaupt mal das Gefühl, persönlich frei zu sein? Doch nur, wenn man von Augenblick