Pitti lächelt. Manfred Siebald

Pitti lächelt - Manfred Siebald


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hatte sich über die Zustimmung gefreut. »Gut, dann machen wir das doch einfach mal. Für meine Begriffe lässt sich das nicht schöner ausdrücken als in dem Satz: ›Der Weg ist das Ziel.‹«

      »Den Spruch kenn ich«, hatte Joschi gesagt. »Der ist, glaube ich, von Kungfuzius. Fernöstliche Weisheit.« Er war stolz, dass er nicht nur etwas von Geowissenschaften verstand.

      Markus hatte laut gelacht. »Knapp daneben. Kung Fu ist eine asiatische Kampfsportart. Nein – der chinesische Philosoph, den du meinst, hieß Konfuzius. Sonja, wie findest du das Motto?«

      »Wunderbar. Das spricht mir so aus dem Herzen. Der Weg ist das Ziel. Wir sollten das heute einfach mal beherzigen. Wir nehmen uns keinen Ort vor, an dem wir ankommen wollen, und verzichten auf alle Orientierungshilfen. Karten sind für Feiglinge und Navis sind für Warmduscher. Es wird nicht gemogelt. Versprochen?«

      Damit hatte der Leitspruch des Tages festgestanden. Als sie die Rucksäcke mit ihren Wasserflaschen und Lunchpaketen vollgestopft hatten, musste aber natürlich irgendwie entschieden werden, in welche grobe Richtung die ziellose Reise gehen sollte: rechts oder links? Geradeaus? Sie hatten sich für das gute alte Streichholzziehen entschieden und sich dann nach rechts auf den Weg gemacht. Als von der schmalen Straße, an der das Hotel lag, ein Feldweg links in die Wiesen abbog, hatte Markus gerufen: »Ich schlage vor, dass wir den hier nehmen«, und von da an hatten sie sich mit den Richtungsansagen abgewechselt. Es war jedes Mal ein kleiner spannender Moment gewesen, wenn wieder eine Entscheidung anstand, aber die folgenden kurzen Diskussionen hatten ihnen bis jetzt einen Riesenspaß gemacht.

      Markus mit seinem schwarzroten Fahrradhelm und seinem Tour-de-France-Trikot war gewöhnlich vorausgefahren, dann kamen Sonja, die einen neongrünen, und schließlich Joschi, der einen schlichten weißen Helm aufhatte. Wie das Summen eines Bienenschwarms auf dem Weg in den heimischen Stock klang das Fahrgeräusch der Reifen auf dem Asphalt. Aber sie wollten ja gar nicht wissen, wohin diese Route sie führte. Im Augenblick war tatsächlich der Weg das Ziel. Und wenn der irgendwo an einem Weidezaun endete, kehrten sie einfach um und probierten einen anderen. Auf diese Weise hatten sie inzwischen viele Kilometer zurückgelegt und eine Gegend erreicht, in der keiner der drei sich auskannte und in der sie noch nicht einmal markante Berggipfel zur Orientierung benutzen konnten. »Das ist der bisher mit Abstand schönste Tag in unserem Urlaub«, rief Markus den anderen zu und strahlte.

      Nach der kurzen Pause unter den ersten Bäumen verstaute Sonja gerade den Beutel mit den Müsliriegeln wieder in ihrem Rucksack, als sie merkte, wie es zwischen den Baumwipfeln etwas dunkler wurde. Vor den blauen Himmel hatte sich eine hellgraue Wolke geschoben, der nach einiger Zeit eine weitere, dunkelgraue, folgte – eine regelrechte Wolkensäule, die sich aus den Wüstengeschichten der Bibel hierher verirrt zu haben schien, ihnen aber keinerlei Orientierung bot. Die Wettervorhersage hatte ja eigentlich für den ganzen Tag schönes Wetter versprochen – mit nur gelegentlichen Eintrübungen. Aber jetzt schien sich etwas zusammenzubrauen. Die schmale Straße, die sie hergebracht hatte, führte tiefer in den Wald, und Sonja schaute besorgt immer wieder nach oben. Nein – das war hoffentlich kein Donner, den sie jetzt in der Ferne hörte. Bestimmt startete da nur ein Düsenjäger von dem Fliegerhorst, an dem sie vorhin vorbeigefahren waren.

      Auch Joschi hatte das grollende Geräusch gehört und beschleunigte unwillkürlich sein Tempo. Bis jetzt war die Fahrt im Großen und Ganzen gemächlich und ohne Hindernisse verlaufen – bis auf den platten Hinterreifen, den Markus nach einer Stunde zu reparieren hatte (das lose Ende eines Stacheldrahts, von einer Weideumzäunung auf den Weg geraten, war schuld daran gewesen). Aber das Gute war ja, dass sie unter keinerlei Zeitdruck standen und nicht irgendwann an einem ganz bestimmten Ort sein mussten.

      Nach ein paar hundert Metern kamen sie auf eine Lichtung, von der vier Wege auf einmal abzweigten. Kein einziger Wegweiser war zu sehen – kein Hinweis auf Orte oder Entfernungen. Nur ein Marterl stand einsam vor dem Stamm einer uralten Eiche – ein kleiner, weiß verputzter Bildstock mit einem Kruzifix hinter einer Glasscheibe und einer Schrifttafel darunter. Als Joschi versuchte, den verblassten Spruch darauf vorzulesen, musste er sich tief hinunterbeugen:

      O Wanderer, wenn du bedenkst,

      wohin du hier die Schritte lenkst,

       schau auf das Kreuz. Da findest du

      den Weg zu Gottes Himmelsruh.

      »Wer stellt denn eigentlich so was in die Gegend?«, fragte Sonja. »›Da findest du den Weg zu Gottes Himmelsruh.‹ Steiler Satz. Aber im Augenblick bräuchte ich viel eher einen Tipp, welchen dieser vier Wege wir jetzt nehmen sollen.«

      »Diese Marterln stehen hier in der Gegend zu Hunderten«, sagte Joschi. »Die werden wohl meistens von Kirchen gebaut, aber auch von ganz privaten Menschen, die sich damit für irgendetwas bedanken wollen. Oder die eben anderen Leuten den Weg zum Himmel zu zeigen versuchen.«

      Wenn es nach der Sonneneinstrahlung gegangen wäre, hätten sich der linke oder der halblinke Weg angeboten. Auf ihnen tanzten noch ein paar vereinzelte Lichtflecken durch die Grasbüschel. Aber der Weg geradeaus empfahl sich durch die tiefen Spurrinnen, die von jahrelangem regem Traktorverkehr zeugten.

      »Also, ich mache mich ja vielleicht unbeliebt, aber irgendeine Karte würde jetzt nicht schaden«, sagte Sonja und schaute durch die Baumwipfel nach oben. »Nicht, um ein Ziel anzusteuern, sondern einfach, um rauszufinden, wo wir sind. Und ob wir nun gradeaus oder rechts oder links oder halblinks fahren sollen – Hauptsache, wir kommen hier weg. Wenn gleich das Gewitter losgeht, möchte ich nicht vom Blitz getroffen werden.«

      »Wo wir sind, weiß ich auch nicht«, gab Markus zu. »Aber ich würde sagen, wir fahren einfach nach rechts. Der Weg muss ja irgendwo hinführen. Am besten sollten wir nicht zu viel darüber nachdenken, wo es lang geht. ›Wohin du auch gehst, geh mit deinem ganzen Herzen.‹ Das hat auch der Konfuzius gesagt.«

      »Klingt genauso gut wie sein anderer Spruch. Aber ›volle Kraft voraus‹ garantiert ja noch lange nicht, dass man sich in die richtige Richtung bewegt.« Joschi schien nicht ganz überzeugt. Er gefiel sich als der Intellektuelle unter den Dreien, und als Geograf hatte er seine Zweifel an gutgemeinten und wohlklingenden Ratschlägen, die einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhielten.

      Es war schon ziemlich dunkel geworden, als sie ihre Räder auf den rechten Weg lenkten – was nicht so sehr an der Tageszeit lag als an den immer bedrohlicheren Wolken über ihnen. Ein unangenehmer Wind blies von links, der die Äste der Bäume unheilverheißend knarren ließ. »Sollten wir nicht langsam Richtung Hotel fahren?«, fragte Sonja. Ihre Stimme klang, als ob sie sich wegen dieses Gedankens ein bisschen schämte. Die beiden anderen schwiegen.

      Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Ein riesiger Baum lag quer vor ihnen – vielleicht einer von den ungezählten, die in den Orkanen der vergangenen Jahre abgebrochen oder entwurzelt worden waren. Rechts von ihm reckte ein zersplitterter Stamm ein paar hölzerne Spitzen hilfesuchend nach oben. Dahinter hörte der Weg auf.

      »Kommt – wir drehen um«, sagte Joschi. »Wie heißt es so schön? Wir sind wohl gerade auf dem Holzweg. Das ist nur eine Schneise, die man gehauen hat, damit man die gefällten Stämme abtransportieren kann. Davon wusste dein Konfusius wohl nichts, als er den Weg für wichtiger hielt als das Ziel.«

      »Du hast wohl heute Morgen nicht zugehört: Der Mann heißt ›Konfuzius‹.« Markus musste wieder lachen. Er hob sein Rad hoch, drehte es um, und bald standen sie wieder auf ihrer Lichtung und entschieden sich diesmal für den Weg geradeaus, obwohl der nicht asphaltiert war und auch ziemlich genau in die Richtung des anrückenden Gewitters führte.

      Inzwischen fielen die ersten fetten Regentropfen – hier und da wuchsen kleine Staubpilze auf dem Weg, fielen wieder in sich zusammen und machten Platz für wahre Wasserfluten, die die staubige Oberfläche im Handumdrehen in eine Schlammwüste verwandelten. Es war sehr schnell klar, dass dieses Gewitter nicht rasch vorübergehen würde. In kurzer Zeit würden die Trikots durchnässt sein, und das Wasser würde durch die Rippen der Fahrradhelme den Weg bis auf die Kopfhaut finden.

      »Wartet ihr mal einen Augenblick?«, rief Sonja. Der Schlamm hatte


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