Pitti lächelt. Manfred Siebald
sich wieder auf den nassen Sattel.
»Also, mir reicht es langsam«, sagte Joschi. »Meine Nase läuft schon schneller, als mir der Regen den Rücken runterläuft. Richtungsmäßig bin ich im Augenblick völlig konfus und seh uns schon total durchnässt stundenlang unter irgendeinem Baum stehen.« Er zog sich seinen kanariengelben Poncho über und setzte sich in Bewegung. Die beiden anderenfolgten ihm, weil sie selbst keinen anderen Plan hatten.
Es war wie ein Wunder: Nach einem halben Kilometer im mittlerweile peitschenden Regen tauchte am linken Rand des Weges eine offene Grillhütte auf – eigentlich mehr ein Unterstand mit zwei Sitzbänken an den Längsseiten. Als sie näherkamen, sahen sie in der Mitte eine ummauerte Feuerstelle, die so aussah, als sei sie in letzter Zeit noch benutzt worden. Ohne ein Wort zu verlieren, bog Joschi vom Weg ab, schob sein Rad unter das Dach und lehnte es an einen Pfosten. Sonja und Markus folgten ihm und legten die Räder auf den Boden, wo er noch trocken war.
Auch wenn es kaum möglich schien: Der Regen wurde noch stärker. Zwar schien das Gewitter nicht näher gekommen zu sein, aber der Donner war immer noch deutlich zu hören, und die Sicht durch das Blätterdach auf die tiefschwarzen Wolken verhieß nichts Gutes.
»Also, irgendwie müssen wir doch hier wegkommen. Ich brauche dringend einen heißen Tee«, sagte Sonja mit senkrechten Stirnfalten. »Ich spüre schon seit einiger Zeit ein Kratzen im Hals. Und auch wenn ich weiß, dass ihr jetzt sauer sein werdet: Lasst uns doch mal die Theorie beiseiteschieben und ganz praktisch schauen, wie wir von hier weg und ins Hotel kommen. Hier ist die Wanderkarte, die ich heute Morgen dann doch vorsorglich eingesteckt habe – nur für den Fall, dass wir uns verirren.« Es war ihr deutlich peinlich, das zuzugeben. Sie kramte in ihrem Rucksack und holte eine Plastikhülle heraus.
Joschi und Markus sahen einen Augenblick lang zu, wie Sonja die Karte entfaltete. Dann sagten beide fast gleichzeitig: »Sag bloß, du hast dich nicht an unsere Verabredung gehalten.«
»›Der Weg ist das Ziel‹ klingt ja schön und gut«, sagte sie. »Aber wenn der Weg an einem Ort namens Halsweh endet, steige ich aus. Ich schaue jetzt mal, wo unser Chalet Monrepos ist. Wartet – hier hab ich es. Die Frage ist nur: Wie kommen wir dahin? Oder erst mal: Wo ist Norden – damit ich die Karte überhaupt richtig halte? Ich hab mal gehört, dass einem die Flechten an den Bäumen das anzeigen können.«
»Ja und Nein«, sagte Joschi. Er hatte in einem Seminar gelernt, dass sich allein wachsende Bäume meist zu der windabgewandten Seite neigen. Und dass Flechten und Moose vor allem an der windzugewandten von frei stehenden Bäumen zu finden sind. »Ich suche die ganze Zeit schon nach Flechten an den Bäumen, aber anscheinend stehen die hier zu dicht, um das Wetter an sich ranzulassen.«
Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und fuhr fort: »Also, ich finde das natürlich nicht O.K., dass du dich nicht an unser Motto gehalten hast, Sonja. Aber ich kann jetzt schlecht den Beleidigten spielen. Ich hab ja selbst heute Früh meinen Kompass mitgenommen – also rein sicherheitshalber.« Mit schuldbewusster Miene holte Joschi einen kleinen schwarzen Beutel aus seiner Jackentasche. Der silberne Kompass darin war noch trocken geblieben.
»Gute Idee«, sagte Sonja. »Mit Karte und Kompass kriegen wir das Problem in den Griff.« Sie schien kein ganz so schlechtes Gewissen mehr zu haben, als sie ihre aufgeklappte Karte mit dem Kompass nach Norden ausrichtete. Aber dann runzelte sie wieder die Stirn.
»Um auf der Karte den Weg zu unserem Ziel zu finden, müssten wir natürlich erst wissen, wo wir uns grade befinden. Unser jetziger Standort ist ja leider nicht eingetragen. Wir könnten hier sein, oder hier, oder hier. Hat denn rein zufällig« – hier schaute sie fragend ihre beiden Mitradler an – »jemand von uns dann doch vergessen, sein Smartphone mit der GPS-Funktion im Hotel zu lassen?«
An dieser Stelle bekam Markus einen roten Kopf. »Ich glaube, ich schaue jetzt doch mal auf meine Karten-App«, sagte er und griff in seine linke hintere Hosentasche.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Joschi war aufgebracht. »Wir hatten uns verabredet, alle Navigationshilfen im Hotel zu lassen – du warst doch der, der das am lautesten gefordert hat. Und dabei fällst du uns die ganze Zeit heimlich in den Rücken und schleppst dein Telefon mit dir rum. Ich bin total enttäuscht von dir.«
»Ja – ich entschuldige mich ja auch«, stotterte Markus. »Aber irgendwie sind wir doch quitt; wir haben uns alle drei nicht an die Verabredung gehalten. Und wenn wir das nicht getan hätten, säßen wir doch noch bis morgen ohne Peilung im Regen.«
Mit den drei Hilfsmitteln klappten die Ortung und die Routenplanung sehr schnell. Die Koordinaten der Grillhütte lieferte Markus, Joschi konnte sagen, wo Norden war, und Sonja fand auf ihrer Karte einen Weg zum Hotel. Allen stockte etwas der Atem, als sie die Entfernung sahen, die sie noch radeln mussten, aber auf der anderen Seite waren sie auch stolz, auf dem Hinweg eine so weite Strecke zurückgelegt zu haben – wobei sie ja zusätzlich noch zahllose Sackgassen und Umwege geschafft hatten. Sie empfanden es fast als Bestätigung ihrer Schummelei, dass der Regen gerade etwas schwächer wurde, als sie sich wieder auf die Räder setzten.
Es dauerte eine Weile, bis sie den Waldrand erreichten und von dort aus auf einer breiteren asphaltierten Straße der bald wieder sichtbaren Sonne entgegenfuhren. Die hatte sich durch die letzten Wolken hindurchgekämpft und legte einen goldenen Schimmer auf die Viehweiden, die noch vor Nässe glänzten. Weit hinter ihnen war ab und zu noch das Grummeln des nach Osten abgezogenen Gewitters zu hören, und vor ihnen dampfte der Asphalt. Eine von drei Kühen hinter dem Zaun auf der linken Seite drehte ihren Kopf nur kurz nach oben, als wieder ein Düsenjäger im Landeanflug auf den Fliegerhorst vorbeidröhnte.
Die Trikots und Hosen waren im warmen Fahrtwind bald wieder trocken, und der Blutkreislauf in den schweren Beinen kam langsam in Schwung. Auch der Kopf fühlte sich leichter an. Lag es an der Erleichterung, endlich Sicherheit über den Weg zu haben? Ohne dass es im Augenblick spürbar gewesen war, hatten die zahllosen Richtungsentscheidungen sie müde gemacht: Rechts oder links? Geradeaus? Jetzt beflügelte sie die Vorfreude auf das Ausruhen nach der Anstrengung.
Nach gut drei Stunden – es war längst dunkel geworden – sahen sie die Lichter des Hotels vor sich, und als sie die Räder neben dem Eingang abgestellt hatten, beglückwünschten sie sich gegenseitig. Die anschließenden heißen Duschen genossen sie deutlich länger als gewöhnlich, und ein Genuss war auch das ausgedehnte Abendessen. Das isotonische Bier an der Hotelbar hinterher schmeckte so gut wie lange nicht mehr.
»Toll, was wir heute geschafft haben!«, sagte Sonja nach dem ersten Glas und atmete tief durch. »Bloß das Kratzen im Hals und die verstopfte Nase und die Kopfschmerzen, die ich langsam spüre, hätte ich mir gern erspart. Das alles haben uns die vielen Umwege und Sackgassen eingebracht, durch die wir zur falschen Zeit am falschen Ort im Gewitter gelandet sind. Vielleicht ist es doch nicht so dumm, sich vorher ein Ziel zu überlegen. Oder?«
»Jetzt sag bloß, es hat dir überhaupt keinen Spaß gemacht.« Markus hob die Augenbrauen. »Allein die Bewegung hat uns gutgetan. Bewegung ist doch immer ratsam. Beugt dem Herzinfarkt vor und hilft einem, das Gewicht im Zaum zu halten.« Fast trotzig beharrte er auf seinem liebsten Glaubenssatz: »Ich schlage vor, wir machen das morgen noch mal: Der Weg ist das Ziel.«
»Im Leben nicht«, sagte Joschi. Er hatte bisher geschwiegen. Zwar hatte er in seinem Poncho den Regen ganz gut überstanden, aber seine euphorische Stimmung vom Morgen hatte sich trotzdem dauerhaft verabschiedet. Er hatte das Unternehmen von einer Abbiegung zur anderen zunehmend als eine Art wissenschaftliches Experiment betrachtet und war vom Ergebnis alles andere als überzeugt. »›Der Weg ist das Ziel.‹ So schön das auch klingt und so sehr es einem auch ein gutes Gefühl gibt – wir haben doch gesehen, was dabei herauskommen kann. Im Kopf funktioniert diese Theorie vielleicht. Im Leben nicht.«
Das Klopfen
Es war kein regelmäßiges Klopfen – wie man es in ganz stillen Nächten in sich selbst hört, wenn das Ohr auf dem Arm liegt und die Pulsschläge den Träumen den Takt vorgeben. Zum einen waren die Abstände zwischen den einzelnen Klopfgeräuschen mal schneller, mal langsamer. Zum