Nach Verfolgung und Vernichtung. Henning Tümmers
Qualität der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, genauer: die Perspektive auf das Dritte Reich, im Zeitraum von mehr als sieben Dekaden auffallend verändert hat.
Darum geht es in diesem Buch. Es analysiert den Umgang der Menschen in Ost- und Westdeutschland mit ihrer NS-Vergangenheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, indem es die Entwicklung der entsprechenden Diskussionen in Gesellschaft und Politik bis in die Gegenwart hinein nachzeichnet. Dieser Umgang war (und ist) ebenso kompliziert wie komplex, denn er betraf die Strafverfolgung einzelner Verbrechen, die Wiedergutmachung von NS-Unrecht, Formen des Gedenkens, Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen, zeithistorische Forschungen, kulturelle Verarbeitungen und Prozesse der Identitätsfindung – zunächst im geteilten, seit 1989/90 dann im vereinten Deutschland.
Gegenwärtige Vergangenheit
Die Multidimensionalität dieser Auseinandersetzungen erklärt jedoch nur zum Teil die bemerkenswerte – von Vertretern und Vertreterinnen wiederkehrender »Schlussstrich-Debatten« oft beklagte – Präsenz des Dritten Reiches in Gesellschaft und Politik nach 1945. Die wohl bekannteste »Schlussstrich-Debatte« ereignete sich im letzten Jahrzehnt der »alten« Bundesrepublik: Am 6. Juni 1986 legte der Berliner Historiker und Faschismusexperte Ernst Nolte mit einem Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Grundstein für den »Historikerstreit«. Unter dem Titel Vergangenheit, die nicht vergehen will kritisierte er:
»Das Zeitalter des Ersten Napoleon etwa wird in historischen Arbeiten immer wieder vergegenwärtigt und ebenso die Augusteische Klassik. Aber diese Vergangenheiten haben offenbar das Bedrängende verloren, das sie für die Zeitgenossen hatten. Eben deshalb können sie den Historikern überlassen werden. Die nationalsozialistische Vergangenheit dagegen unterliegt – wie kürzlich noch Hermann Lübbe hervorgehoben hat – anscheinend diesem Hinschwinden, diesem Entkräftigungsvorgang nicht, sondern sie scheint immer noch lebendiger und kraftvoller zu werden, aber nicht als Vorbild, sondern als Schreckbild, als eine Vergangenheit, die sich geradezu als Gegenwart etabliert oder die wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt ist.«
Wenngleich Noltes Ausführungen, in deren weiteren Verlauf er den Judenmord als Angstreflex der Nationalsozialisten auf den »›Klassenmord‹ der Bolschewiki« konstruierte, zahlreiche Kritiker auf den Plan riefen, hatte er jedoch zumindest mit seiner damaligen Beobachtung Recht, wonach sich das Dritte Reich jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt der »Historisierung«, das heißt der professionellen Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, entzog.
Wie ist das zu begründen? Warum sind das Dritte Reich und seine Verbrechen in der Öffentlichkeit noch immer präsent? Die simpelste Antwort lautet, dass auch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts der Nationalsozialismus noch immer ein Thema ist, weil bestimmte Akteure auf ihn verweisen. Dies geschieht unter anderem im Rahmen des Schulunterrichts. Neben der Beschäftigung mit Hitler und den Verbrechen der Deutschen aus Gründen der politischen Bildung finden sich aber auch (macht-)strategisch motivierte Verweise auf die NS-Zeit. Bereits Nolte dürfte gewusst haben, dass seine Ausführungen über den Nationalsozialismus unmittelbar Aufmerksamkeit erzeugen und von den Medien aufgegriffen werden. Noch heute gilt: Wer öffentlich eine Brücke zur NS-Vergangenheit schlägt und diese für Vergleiche nutzt, kann sich sicher sein, dass sein Statement nicht unbemerkt bleibt. Der Bezug auf das Dritte Reich dient dazu, ein empfundenes Problem für andere in dramatischer Form sichtbar zu machen und einen entsprechenden Diskurs zu etablieren. Des Weiteren wird der Rekurs auf das Dritte Reich aber auch zur Selbstdarstellung instrumentalisiert: Wer dieses Kapitel deutscher Geschichte anspricht und verurteilt, präsentiert sich selbst als moralisch integer.
Abgesehen davon lassen sich auch wissenschaftliche Erkenntnisse anführen, um diese Frage zu beantworten. In Anlehnung an Zygmunt Baumans Werk Dialektik der Ordnung (1992) kann man argumentieren, dass das Dritte Reich nicht verblasst, weil unsere Gegenwart über fortgesetzte Gewaltakte mit dieser Vergangenheit signifikant verwoben scheint. Es ist insofern die so empfundene Ähnlichkeit zwischen neueren Grausamkeiten, die sich in der Welt von heute ereignen, und den früheren, die Diskussionen über den Nationalsozialismus befeuern. Der Soziologe Bauman konstatierte, der Holocaust sei das Ergebnis einer Reihe von Umständen und Erscheinungen der »Moderne« (der Zeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert). Dazu rechnete er ein bestimmtes Ordnungsdenken, wonach Gesellschaften durch gezielte bevölkerungspolitische Eingriffe zu »optimieren« seien, aber auch hochfunktionale Verwaltungssysteme. Mit Blick auf die Gegenwart bemerkte Bauman außerdem, dass eben jene »modernen« Strukturen nicht aufgehört haben, zu existieren. Das Aufflammen neuer Formen von Massengewalt sei demnach jederzeit möglich. Tatsächlich haben die Massaker in Ruanda und Srebrenica 1994 und 1995 die Weltöffentlichkeit gelehrt, dass das Zeitalter der Genozide keineswegs 1945 endete. Aber es sind auch andere Formen von aktuellem Unrecht und gesellschaftliche Probleme, die Assoziationen an die NS-Zeit wecken, zum Beispiel Antisemitismus, Demokratieverachtung, Rassismus und die Missachtung der Menschenwürde. All dies evoziert aufgrund seiner Qualität, seinen Dimensionen oder aber auch aufgrund der Art seiner medialen Vermittlung Bezüge zu den Verbrechen des Dritten Reiches.
Schließlich lässt sich die Gegenwart des Nationalsozialismus aber auch historisch herleiten, was bedeutet, gesellschaftliche oder politische Entwicklungen mit einzubeziehen. An dieser Stelle ist einerseits auf neue Akteursgruppen hinzuweisen, andererseits auf einen Wahrnehmungswandel bezüglich der NS-Verbrechen und ihrer bundesdeutschen Nachgeschichte: Während jahrzehntelang vor allem Überlebende den »Führerstaat« und seine Taten thematisierten, formierten sich nach dem Ende des Kalten Kriegs und des Kolonialismus Opfer anderer Gewaltmaßnahmen und beklagten ihr Leid. Sie hielten den Nationalsozialismus im Gespräch, indem sie entweder ihre Verfolgung in Beziehung zum Holocaust setzten oder auf die bundesdeutsche Wiedergutmachung hinwiesen: Seit den 1990er-Jahren ist verstärkt zu beobachten, dass weltweit von Unrecht Betroffene speziell die Entschädigungspolitik Westdeutschlands betonen, weil diese in ihren Augen einen angemessenen und erfolgreichen Umgang mit »historischem Unrecht« darstellt, einem Unrecht, dessen Folgen die Gegenwart prägen (s. Barkan 2002). Öffentlich pochen sie auf die Notwendigkeit, auch in ihrem Land »westdeutsche« Maßnahmen der »Vergangenheitsbewältigung« zu etablieren. Folglich ist der Ruf nach Gerechtigkeit, Versöhnung, Wahrheit und Maßnahmen der Wiedergutmachung, die den Übergang von einer Diktatur in eine Demokratie fördern sollen, seit dem Ende des 20. Jahrhunderts immer lauter geworden.
In dieser Zeit etablierte sich unter dem Terminus »Transitional Justice« ein interdisziplinärer Forschungszweig, der sich bis heute Prozessen und Praktiken widmet, die den Übergang von Unrechtsregimen zu demokratischen Gesellschaften prägten und prägen (s. Kritz 1995). Entsprechende Studien haben herausgestellt, wie wichtig die Auseinandersetzung mit begangenem Unrecht für Betroffene ist und dass diese verschiedene gesellschaftliche Aufgaben erfüllt. Ihr Ziel besteht vor allem darin, Vertrauen in eine neue Regierung zu schaffen und das Fundament für ein friedliches Zusammenleben zu festigen. Zu den zentralen Funktionen eines rückwärts gerichteten Blicks zählen (s. Werle/Vormbaum 2018):