Nach Verfolgung und Vernichtung. Henning Tümmers

Nach Verfolgung und Vernichtung - Henning Tümmers


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Geschichte positioniert und welche Schlussfolgerungen sie aus der Vergangenheit zieht. An dieser Stelle muss auf den konstruktiven Charakter der hier verhandelten Größen hingewiesen werden, denn »Geschichte« und »Identität« existieren nicht einfach, sondern werden »gemacht«. Folglich bezeichnet der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba erstere als »ständig neu formbare Materie, die immer neue Deutungen ermöglicht«. Geschichte diene zur Durchsetzung bestimmter »Identitätsentwürfe«, wobei er diesen Aushandlungsprozess als »Identitätspolitik« bezeichnet (s. Kaschuba 2001). Neben der Fixierung eines solchen politischen Grundkonsenses stellen sich betroffenen Gesellschaften nach dem Ende der Gewaltherrschaft aber auch ganz konkrete Fragen. Sie wollen wissen, wie es überhaupt zu diesem Unrecht kommen konnte, aber auch, wie man sich in Zukunft das Zusammenleben vorzustellen hat: Auf welche Weise soll man mit den begangenen Verbrechen und den Opfern umgehen? Dabei kann es zunächst zu scharfen Grenzziehungen zwischen Tätern und Opfern kommen, die eine Versöhnung verkomplizieren. Somit werden die politischen Akteure einerseits versuchen, den Verfolgten Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zuteilwerden zu lassen, andererseits werden sie darauf bedacht sein, die Verfestigung einer Opferidentität zu verhindern.

      image Gerechtigkeit herbeiführen: Leid anzuerkennen, die Täter zu bestrafen und Opfer zu entschädigen – diese Maßnahmen können Hoffnung auf Gerechtigkeit schüren, die wiederum eine Voraussetzung für Versöhnung darstellt. Der sich transformierende Staat erklärt mit solchen Interventionen, dass er sich grundlegend von dem Vorgängersystem unterscheidet. Die offizielle Anerkennung des erlittenen Leids als symbolische Leistung vermag diesbezüglich nicht nur, den Betroffenen Genugtuung zu verschaffen. Sie macht die Opfer überhaupt erst sichtbar und ermöglicht ihnen den Weg aus ihrem Opferstatus, an dessen Ende handelnde Subjekte stehen, die vor Gericht als Zeugen auftreten oder Entschädigungsansprüche artikulieren. Dadurch werden die Opfer nicht nur in das neue Gesellschaftssystem integriert. Strafverfahren können des Weiteren dazu dienen, mit der Erfahrung von Entwürdigung, Entrechtung und Verfolgung besser umzugehen. Zugleich gilt es, auch den Verantwortlichen für das Unrecht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Eindruck einer Siegerjustiz ist zu vermeiden.

      image Die »Wahrheit« aufdecken und dokumentieren: Dieser Aspekt beinhaltet eine individuelle und eine kollektive Dimension. Für die Angehörigen von Gewaltopfern ist es zunächst wichtig, Informationen über deren Schicksal zu erhalten. Hingegen ist es von allgemeinerer Bedeutung, die »Wahrheit« über Gräueltaten eines Regimes aufzudecken und sie publik zu machen. Damit soll verhindert werden, dass Anhänger des Gewaltregimes diese nachträglich verklären. Zugleich stellt sich dieser Prozess der Wahrheitsfindung als ein Konstruktionsprozess dar, in dem Opfer und Täter ein bestimmtes Narrativ aushandeln, das es ihnen erlaubt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Sinn zu versehen und rivalisierende Gruppen zu versöhnen. »Die Wahrheit über die Vergangenheit als autoritatives Narrativ wird im Sinne eines Heilungsprozesses interpretiert«, erklärt der Historiker Alexander Hasgall (2018, 42), »welcher die gesellschaftliche Versöhnung fördert. […] Diese anerkannte Wahrheit ist somit auch die Basis eines neuen Fundierungsnarrativs der Nation – einer gemeinsamen Erzählung, welche deren Identität und grundlegende Werte beschreibt.«

      image Gewalt verhindern: Mithilfe wissenschaftlicher Analysen des niedergerungenen Gewaltstaats, seiner Strukturen, Befehlsketten und der Motive der Täter, so die Hoffnung, lasse sich zukünftige Gewalt vorhersagen beziehungsweise unterbinden.

      image Politisch-moralische Grenzen ziehen: Das Wissen über Unrechtsmaßnahmen kann genutzt werden, um politische und moralische Grenzen für die Gegenwart und Zukunft zu markieren. Beispielsweise rekurrieren Teilnehmer an medizinethischen Sterbehilfediskussionen seit Jahrzehnten auf die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion, um einer Entgrenzung moralischer Werte und ärztlichen Handelns in Gegenwart und Zukunft entgegenzutreten. Ein markantes Beispiel für die immer wieder beschworenen »Lehren«, die man aus der Vergangenheit zu ziehen versucht, ist die Einrichtung von Ethikkommissionen an Medizinischen Fakultäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Aufgabe es ist, die Forschung am Menschen – das heißt in diesem Fall: die Rechte und den Schutz des Patienten – streng zu überwachen.

      Zusammenfassend bleibt mit Blick auf die »Transitional Justice«-Forschung, die seit den 1990er-Jahren politische Wandlungsprozesse untersucht und in deren Kontext die Wiedergutmachung von nationalsozialistischem Unrecht eine besondere Bedeutung spielt, festzuhalten: Die anhaltende Präsenz des Nationalsozialismus als ein öffentliches Thema basiert auch auf der Tatsache, dass sich Gesellschaften weiterhin mit Formen politischer Gewalt konfrontiert sehen.

      Thema, Thesen, Fragestellung und Begriffe

      Versuche, den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland nach 1945 in einer kompakten Monografie wie dieser umfassend darzustellen, müssen zwangsläufig scheitern. Allein die Literatur für bestimmte Spezialthemen der Nachgeschichte des Nationalsozialismus ist mittlerweile stark angewachsen. Daher ist eine Schwerpunktsetzung nötig.

      Bereits die eingangs zitierten Worte Frank-Walter Steinmeiers demonstrieren, dass das Dritte Reich vor allem aus einem Grund nicht in Vergessenheit gerät, nämlich wegen seiner Verbrechen. Dabei ragt der Holocaust aus der Masse an »rassisch« und politisch motivierten Gewalttaten deutlich heraus. Die vorliegende Arbeit folgt der Auffassung des Historikers Peter Longerich, der den Mord an den Juden als »das eigentlich historisch Besondere und Einzigartige an der NS-Diktatur« beziehungsweise als das »zentrale Thema der Geschichte des ›Dritten Reiches‹« (Longerich 1998, 17) betrachtet. Gleichwohl will sie sich nicht auf die postnationalsozialistische Auseinandersetzung mit dem Mord an den europäischen Juden beschränken, der seit den 1970er-Jahren auch als »Holocaust« (von griechisch »holókaustus«, übersetzt »völlig verbrannt«) bezeichnet wird. Im Zentrum steht die politische und gesellschaftliche Beschäftigung mit unterschiedlichen NS-Massenverbrechen im Verlauf der Jahrzehnte. Hierfür wurden paradigmatische Themen ausgewählt.

      Die vorliegende, sich an eine interessierte Öffentlichkeit richtende Überblicksdarstellung thematisiert nicht nur den Umgang mit dem Dritten Reich in der Bundesrepublik. Aus guten Gründen wird die DDR in die Analyse mit einbezogen: Zum einen waren jene Gesellschaften, die seit 1949 getrennt voneinander lebten, zuvor im Dritten Reich gemeinsam sozialisiert und durch bestimmte Ideologeme geprägt worden. Ehemalige Nationalsozialisten fanden sich selbstverständlich auch in der DDR, wenngleich der »antifaschistische Arbeiter- und Bauernstaat« seit seinem ersten Atemzug erklärte, er stehe nicht in der Tradition des Deutschen Reichs, weshalb er auch mit den nationalsozialistischen Erblasten nichts zu schaffen habe. Demgegenüber verweisen rezente Studien auf frappierende Ähnlichkeiten im Umgang mit der NS-Vergangenheit in Ost und West. So konstatierte Katrin Hammerstein bezüglich des deutsch-deutschen Gedenkens an das Dritte Reich eine Entwicklung von einer »getrennten Erinnerung« zu einer »Gedächtnismélange« (2017, 488).

      Zum anderen beeinflusste die Beobachtung des jeweiligen »Systemgegners« die Beschäftigung mit der Vergangenheit im eigenen Land. Da sich die Staaten beiderseits der Mauer jeweils selbst als die »bessere Antwort« auf »Hitler-Deutschland« verstanden, konkurrierten sie um den effizienteren Bewältigungsansatz. Die Nachgeschichte des Dritten Reichs in Deutschland muss somit als eine Geschichte von »Verflechtung und Abgrenzung« (Kleßmann 1993) geschrieben werden. Dabei zeigt sich: Gerade in der Gegenüberstellung von Bundesrepublik und DDR offenbaren sich in aller Deutlichkeit die langen Phasen der vergangenheitspolitischen Passivität Ostdeutschlands; in Sachen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geschah nur wenig.

      Die zeithistorische Forschung hat sich vor allem seit den 1980er-Jahren dem Umgang mit dem Dritten Reich in Deutschland nach 1945 gewidmet, etwa den Nürnberger Prozessen oder den parlamentarischen Debatten über die NS-Vergangenheit im Bundestag (s. Weinke 2006; Dubiel 1999). Sie hat des Weiteren Studien zur deutsch-deutschen Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen vorgelegt (s. Herf 1998). Diese Arbeiten betrachten allerdings entweder nur einen


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