Die neue Praxis Dr. Norden 1 – Arztserie. Carmen Lindenau
gehört und Danny verkündet, dass auch sie ihn als ihren neuen Hausarzt ausgewählt hatte. Sie kam jeden Morgen vor der Schule auf einen Sprung vorbei, blieb ein paar Minuten und nahm dann Ortrud mit, die es sich auf der Fensterbank in Dannys Esszimmer gemütlich machte, sobald Valentina morgens die Terrassentür öffnete. Danny war Ophelia dankbar, dass sie inzwischen den Weg durch die Haustür nahm und nicht mehr über seinen Balkon einstieg.
Ophelias Mutter und ihre Großmutter hatte er bisher noch nicht kennengelernt, was ihn aber nicht weiter störte.
Er legte keinen Wert auf eine enge Nachbarschaft. Hin und wieder ein freundlicher Gruß, ein paar unverbindliche Worte über die Hecke hinweg gewechselt erschienen ihm ausreichend. Erst recht bei diesen Nachbarinnen, die vermutlich schon die Bewohner der halben Straße im Vorbeigehen analysiert hatten.
*
Franziska hatte zwei Tage gewartet, bis sie sich dazu durchringen konnte, die Fahrerflucht anzuzeigen. Die Prellung, die sie sich zugezogen hatte, bereitete ihr zwar immer noch Schmerzen, aber die Salbe, die Doktor Norden ihr verschrieben hatte, linderte sie recht gut.
Sie hoffte, dass Lorenz Bergwald sie zum Polizeirevier begleiten würde, um sie als Augenzeuge des Unfalls zu unterstützen. Inzwischen hatte sie seine Visitenkarte schon einige Male in der Hand gehabt und wusste, dass ihm eine Praxis für Physiotherapie ganz in der Nähe gehörte. Als er ihr die Karte nach dem Unfall in die Hand drückte, hatte sie nur seinen Namen wahrgenommen, der fettgedruckt in der Mitte stand.
Es kostete sie allerdings ein bisschen Mut, ihren mitfühlenden Helfer anzurufen. Vermutlich rechnete er gar nicht mehr damit, dass sie sich melden würde. Sie kochte sich erst einmal einen Kaffee und setzte sich auf den Schaukelstuhl, der unter ihrem überdachten Balkon stand.
Um diese Uhrzeit lag der Spielplatz hinter dem Haus noch im Schatten einer mächtigen Kastanie, deren Laub an einigen Ästen bereits gelbe Verfärbungen zeigte, die Vorboten des Herbstes. Bis auf das Gezwitscher der Vögel war es noch ganz still. Erst am Nachmittag, wenn die Kinder aus dem Kindergarten oder der Schule kamen, ging es dort unten lebhaft zu.
Franziska schaute auf die beiden Apfelbäumchen, die in Kübeln auf ihrem Balkon wuchsen. Behutsam pflückte sie einen der duftenden roten Äpfel, roch eine Weile an ihm und aß ihn dann mit Genuss auf. Da sie zur Zeit fast den ganzen Tag zu Hause war, war sie dankbar für dieses kleine Paradies, wie sie ihren Balkon nannte. Um kurz nach zehn war sie endlich mutig genug und rief Lorenz auf seinem Handy an.
»Franziska Kern, guten Morgen, Herr Bergwald«, meldete sie sich, als er das Gespräch entgegennahm. »Sie hatten mir doch Ihre Hilfe angeboten.«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er freundlich und hörte sich ihr Anliegen an. »Ich bin um die Mittagszeit bei einem Patienten in der Nähe des Polizeireviers. Wir könnten uns um halb eins vor dem Revier treffen«, schlug er schließlich vor.
»Sehr gern, Herr Bergwald, bis nachher«, sagte sie, bedankte sich bei ihm und beendete das Gespräch. Er hat nicht eine Sekunde gezögert, mich zu begleiten, dachte sie. Das bedeutete, sein Angebot, ihr zu helfen, war ernst gemeint.
*
In der Praxis Norden gab es an diesem Morgen keine besonderen Vorfälle. Es war ein ganz normaler Vormittag. Sophia hatte gegen zehn kurz gelüftet, so wie sie es an jedem Morgen tat, eine klare frische Luft zog durch die Räume. Die Sonne fiel durch die beiden Fenster des Wartezimmers, und das Licht fand seinen Weg durch die gläserne Wand in den Empfangsbereich.
Die Patienten im Wartezimmer blätterten in Zeitschriften, lasen in einem Buch oder unterhielten sich miteinander, wobei sie sich leicht zueinander hinbeugten, um die anderen nicht zu stören. Irgendwo weiter hinten am Ende des Ganges fiel eine Tür leise ins Schloss. Lydia Seeger, die hinter dem weißen Tresen saß und auf den Bildschirm ihres Computers schaute, hatte an diesem Morgen jede Patientin und jeden Patienten gefragt, ob sie oder er den Unfall, in den Franziska Kern verwickelt war, beobachtet hatte, aber niemand konnte ihr etwas dazu sagen.
Da einige Patienten nur ein paar Häuser entfernt wohnten und sonst über alles Bescheid wussten, was in der Nachbarschaft passierte, ging sie inzwischen davon aus, dass Franziska wohl leider auf den Zufall hoffen musste. Sollte der Fahrer dieses Wagens in der Nähe wohnen, würde aber früher oder später jemand auf ihn aufmerksam werden.
»Frau Weinfeld, bitte!«, rief Sophia die nächste Patientin auf, nachdem sie aus dem Raum mit dem Ultraschallgerät kam, das sie für die Untersuchung vorbereitet hatte.
»Bin schon da.« Frau Weinfeld, Ende fünfzig, ein wenig übergewichtig, kam lächelnd aus dem Wartezimmer und folgte Sophia. Nachdem sie sich auf die Liege gelegt hatte, schaute sie ein bisschen verängstigt auf den Monitor des Ultraschallgerätes, so als fürchtete sie sich vor dem, was gleich darauf zu sehen sein würde.
»Nicht schon vorher aufregen, wir sehen erst einmal nach, was Ihre Schmerzen verursacht. Vermutlich ist alles nur halb so schlimm«, beruhigte Danny Frau Weinfeld, der kurz darauf den Raum betrat und sich auf den Stuhl neben die Liege setzte.
»Aber die Schmerzen waren gestern Abend schon recht heftig«, entgegnete seine Patientin.
»Gleich werden wir mehr wissen«, versicherte ihr Danny und schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln.
Wie sich herausstellte, waren Gallensteine die Ursache für Frau Weinfelds Schmerzen. Noch waren sie aber klein genug, um sie mit einem minimalen Eingriff loszuwerden.
»Ich überweise Sie in die Klinik. Die Ärzte dort werden die Steine mit Hilfe eines Endoskops entfernen«, erklärte Danny ihr, was als nächstes passieren würde.
»Wie lange muss ich im Krankenhaus bleiben?«
»Zwei bis drei Tage.«
»Dann werde ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Vielen Dank, Dr. Norden«, sagte Frau Weinfeld, während sie sich das Gel, das Danny für die Untersuchung mit dem Ultraschallkopf auf ihren Bauch aufgetragen hatte, mit Papiertüchern abwischte. »Übrigens, mir ist da noch etwas eingefallen, was diesen Unfall von Frau Kern betrifft«, sagte sie, als sie kurz darauf wieder angezogen von der Liege aufstand.
»Das wäre?«, fragte Danny.
»Es soll doch ein schwarzer Sportwagen gewesen sein. So ein Auto ist am Tag vor dem Unfall im Schritttempo durch diese Straße gefahren, so als würde der Fahrer nach einem bestimmten Haus suchen. Ich hatte gerade auf meinem Balkon die Blumen gegossen, als er hier vorbeikam«, gab Frau Weinfeld wieder, was sie beobachtet hatte.
»Konnten Sie das Nummernschild erkennen?«, fragte Danny.
»Nein, tut mir leid, vielleicht war es aber auch gar nicht der Wagen, der Frau Kern angefahren hat. Ich kenne mich mit diesen Automarken nicht gut aus«, gab sie zu.
»Trotzdem vielen Dank.«
»Sehr gern«, sagte Frau Weinfeld.
Danny begleitete sie noch zum Tresen und bat Lydia, ihr eine Überweisung in die Klinik auszustellen. Er erzählte ihr auch von Frau Weinfelds Beobachtung, und Lydia forderte sie freundlich auf, ihre Nachbarn zu fragen, ob noch jemand den Wagen gesehen hatte.
»Ich werde mich umhören«, versprach Frau Weinfeld, verabschiedete sich von Danny und Lydia und verließ die Praxis.
»Ich befürchte, je häufiger wir nach einem schwarzen Sportwagen fragen, umso mehr Leute werden sich irgendwann erinnern, so ein Auto gesehen zu haben, auch wenn es gar nicht wahr ist«, stellte Lydia mit einem tiefen Seufzer fest.
»Das ist das Problem mit Zeugenaussagen, sie sind selten objektiv. Aber der Tochter einer Polizistin muss ich das nicht erklären«, entgegnete er lächelnd.
»So ist es, Herr Doktor«, sagte Lydia und erwiderte sein Lächeln.
*
Franziska war in der Drogerie gewesen und hatte sich Ingwertee mit Kurkuma geholt, weil es hieß, dass diese Mischung die Bekämpfung von Entzündungen unterstützte, und das konnte, nach dem, was sie hinter sich hatte, nur von Vorteil für sie sein. Sie setzte sich auf den Rand des Brunnens