Postdigital: Medienkritik im 21. Jahrhundert. Peter Schmitt

Postdigital: Medienkritik im 21. Jahrhundert - Peter Schmitt


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Individuum als Einzelwesen, das sich als einmalige Kombination von Merkmalen begreifen, das auf eine komplexe und widersprüchliche Genese seiner selbst zurückblicken darf, gerät mit den flächendeckend genutzten Apparaten in einen Strom technologischer Gleichschaltung. Hier findet es sich ohne Körper und ohne Geruch wieder. Würde man die Körperfunktionen der digitalen Menschen in ihrer Proportionalität darstellen wollen, so käme eine Zeichnung heraus, auf der ein winziger Körper mit verkümmerten Gliedmaßen, mit gewaltigen Augen und Ohren abgebildet wäre. Augen und Ohren, auf einen virtuellen Kosmos gerichtet, in dem drei Gebote zu befolgen sind: 1. Produziere und konsumiere so viele Bilder, wie du kannst! 2. Höre ohne Unterlass online gestreamte Musik! 3. Mache dich bildhaft den anderen gleich! Und tatsächlich: Aus sicherer Entfernung mutet das Internet wie ein großes, wahnwitziges Projekt der audiovisuellen Gleichschaltung an. Ein Blick in ein beliebiges Profil eines beliebigen Anbieters genügt, um sich der streng algorithmisierten Monokultur zu vergewissern: Jeder verwendet das identische Programm auf identische Art und Weise.

      Die bloße Tatsache des angewendeten Programms macht den Einzelnen ad hoc weniger individuell. Denn mit den zur Verfügung gestellten bunten Bausätzen gehen automatisch dieselben Nutzungsweisen einher, die im besten Fall gefühlsbetont und spontan (also ohne lästige gedankliche Reflexionsleistung) vonstattengehen. Schon früher zielten die Inhalte und Formate des Fernsehens und des Radios nur selten auf gedankliche Reflexion ab (»Individuum wird es erst als Denkendes«)6, sondern direkt auf die Gefühlswelt. Die fast hypnotische Wirkung der sauberen Benutzeroberflächen, die angenehme Glätte des Touchscreens, die gefälligen Töne beim Klicken der Symbole, die Programme selbst, gespickt mit traumartig animierten Videosequenzen. Nicht die ratio, die kritische Distanz zum Gerät ist der Adressat der Inhalte, sondern die Emotionen, das Unbewusste. Gerade die distanzminimierenden Elemente, der »intuitive Gebrauch«, gelten als besonderes Zeichen von Qualität. Auch hier sind die Menschen scheinbar alle gleich. Jeder wendet gleich intuitiv die Geräte an. Nicht nur die Inhalte – also der über Spotify gestreamte romantische Popsong oder das geschmeidig animierte Game via Steam – laden die Anwender emotional auf, sondern auch die Apparatur selbst. Sie fühlt sich gut an, sieht gut aus. Sie liegt gut in der Hand, sauber und glatt. Sie funktioniert immer einwandfrei. Der Mensch hingegen erscheint vor dem digitalen Alleskönner wie ein tölpelhafter Saurier, wie ein veraltetes und makelbehaftetes Wesen aus einer anderen Zeit. Auf mehreren Ebenen wird dieses archaische Geschöpf in seiner kreatürlichen Befangenheit emotionalisiert. Zum einen bei der intuitiven Nutzung selbst, zum anderen über die hoch emotionalisierten Inhalte, die zu jeder Tages- und Nachtzeit konsumiert werden, und schließlich unterschwellig beschämt vor der Makellosigkeit der Apparate. Er selbst ist bedauernswert einzigartig und widersprüchlich. Insofern kann es dem unperfekten Einzelnen nur recht sein, dass die ihm apriorisch innewohnenden Eigenarten im digitalen Furor verschwinden. Wie von Geisterhand nivellieren sich dort Unterschiede nicht nur im konkreten Miteinander via Instagram.

      Die Grundfunktion des Computers, die Verzifferung, steht für den Transfer von höchst diversen Inhalten in die 0-dimensionale, nackte Zahlenkolonne. Big Data steht insofern für das Sichauflösen von Grenzen, die einst zwischen einzelnen Sachgebieten klar zu ziehen waren. Geographie, Finanzen, Ästhetik, Kommunikation, Biologie – die GPS-Daten des Sommerurlaubs, die zuvor getätigten Online-Käufe, die nebenher gehörte Musik, die Kontodaten, der Chat mit der Nachbarin, der geschaute Porno, das Spielverhalten im Game, die unzähligen gescheiterten Selfie-Versuche, die Pränatalfotos, die gefilmte Geburt – alle Inhalte verschwimmen zu einem Datenkonvolut, das immer weiter anwächst und auf unabsehbare Zeit online steht. Der Mensch verliert hier an Individualität, ohne dass er es merkt. Die etymologische Perspektive auf lat. individuum – ›Unteilbares‹, ›Einzelding‹ – verweist in diesem Zusammenhang auf die geschlossene Einheit des einzeln Seienden. Sie wird über die hypostatische feinpixelige Visualität und komprimierte Akustik zerteilt. Zudem degeneriert die wertvolle Reifezeit hin zu realen Alleinstellungsmerkmalen zu fortschrittlicher Versiertheit bei der Maschinenbedienung. Das ausgehöhlte Konzept heutiger Individualität selbst wird zum Faktor sogenannter digitaler Identitätsarbeit. Nicht mehr vom Individuum ist dabei die Rede, sondern bezeichnenderweise vom Anwender. Wie sehr der Begriff Anwender indes auf ein höchst unindividuelles Reagieren verweist und wie wenig die digitale Individualisierung noch mit wirklich individuellem Agieren zu tun hat, muss bei der Annäherung an eine zeitgemäße kritische Medientheorie betont werden. Denn das vermeintlich freie und individuelle Hantieren mit vorgegebenen Profilbaukästen und Kommunikationsbausteinen entspricht gegenwärtig noch viel mehr der Tendenz der Kulturindustrie, »das Bewusstsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen«7. Individualität wird in dieser lückenlosen, ja hermetischen Umstellung des Bewusstseins des Einzelnen erst heute wirklich zu der Pseudoindividualität, von der Theodor W. Adorno vor gut sechzig Jahren sprach. Die bescheidet sich gegenwärtig mit oberflächlicher Verschiedenheit bei der Wahl des Fotos und der exaltierten Sprachnachricht auf WhatsApp. Hier wird immer deutlicher, dass die »Individuen gar keine mehr sind, sondern bloße Verkehrsknotenpunkte der Tendenzen des Allgemeinen«8.

       Digital verwaltete Welt

      Und diese Äußerungen des Allgemeinen werden in jeder Serverfarm, jeder Cloud sauber gelistet, gespeichert und verwaltet. Mitte des letzten Jahrhunderts erkannten Adorno und sein Freund Max Horkheimer bereits eine eigenartige Verschwisterung der Kulturindustrie mit den Institutionen der Verwaltung. »Der Generalnenner der Kultur enthält virtuell bereits die Erfassung, Katalogisierung, Klassifizierung, welche die Kultur ins Reich der Administration hineinnimmt.«9 Die Übersichtlichkeit der Profile, die lückenlose statistische Erfassung aller eingegebenen Daten, die geordnete Chronik, die exakten Uhrzeiten zu den banalsten Äußerungen, die saubere Auflistung der Kontakte verweisen heute auf einen neuen Modus der totalen Verwaltung. Kritik an der umfassenden Bürokratisierung des Lebens in modernen Industrienationen war bis vor kurzem noch allgegenwärtig. Seit Kafkas Urszene des Ausgeliefertseins vor einer anonymen und übermächtigen Verwaltung haben sich unzählige Autoren und Regisseure an ihr abgearbeitet. Das hat bis heute auch seinen nachvollziehbaren Grund. Die sachliche Distanz und gleichzeitige unmittelbare Nähe der behördlichen Erfassung hatte schon immer etwas Kaltes, Entwürdigendes an sich. Das Individuum vor der namenlosen und gewaltigen Maschinerie, ohnmächtig vor dem endlosen Arbeitsbetrieb der Administration, in der es nur noch Nummer, nur noch Bestandteil des unpersönlichen Ganzen ist.

      Das Thematisieren der Absurdität bürokratischer Verfahren, deren immenser Einfluss auf das Leben der Vielen, hat merkwürdigerweise über die letzten Jahrzehnte immer weiter nachgelassen. Und dies, obwohl der Mensch heute mit seinen Geräten stets eine Käseglocke der Verwaltung mit sich herumträgt. In ihr wird unentwegt erfasst, katalogisiert, klassifiziert. Eine streng algorithmisierte Datenwolke umgibt jeden Anwender und aus ihr auszubrechen ist de facto nicht mehr möglich. Es gibt in der frühen Fernsehära bereits kein Ausweichen, keinen »Standort außerhalb des Getriebes«10. Die lückenlose Vernetzung der Kanäle der Kulturindustrie (bestehend aus dem heute harmlos anmutenden dreikanaligen Schwarz-Weiß-Fernsehen, dem analogen Radio und dem Printbereich) lässt damals schon alle möglichen Schlupfwinkel verschwinden. Das damalige Verschwinden der Schlupfwinkel mutet heute jedoch fast lächerlich an, vergegenwärtigt man sich die zu jeder Zeit mitgeführten Überwachungsgeräte mit Ultra-HD-Kamera und GPS. Die bis in die entlegensten Winkel der Welt sich real zutragende Vernetzung und sich gleichzeitig verwirklichende Gläsernheit der Anwender gibt dem Bild der verschwindenden Schlupfwinkel neue Konturen. Die »verwaltete Welt« – ursprünglich als reine Bürokratiekritik vorgetragen – hat sich über das Internet und den Computer restlos verwirklicht.

      Kein Kulturpessimismus der Vergangenheit kann es mit der heutigen Situation mehr aufnehmen. Evgeny Morozov zufolge fristet der Anwender sein Dasein zwischen »Sensoren, Filtern und Profilen«11. Für ihn gilt der Einzelne bereits als digital determiniert, und zwar in dem Maße, wie die Bestandteile seiner technischen Umwelt programmiert sind. Ihm kommt der Lebensmodus der Überwachung (über Sensoren) und der Datenspeicherung (in Form von Profilen) zu. In diesem Zusammenhang werden die prominent diskutierten Theorien postmoderner Soziologen fragwürdig. Ihnen gemäß kommt es gerade über die sich bietenden Möglichkeiten der Technik zu immer


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