Postdigital: Medienkritik im 21. Jahrhundert. Peter Schmitt
der Apparate begleitet ein beständiges Gefühl der Erschöpfung. Es stellt sich permanent die Frage, ob das momentane Leben ausreicht, der Traumpartner nicht vielleicht doch nur ein paar Klicks weit entfernt ist, der Traumjob nicht doch mit einem guten Vernetzungsmanagement zu erreichen ist.
Die großen, lebensentscheidenden Möglichkeiten werden ergänzt durch die alltäglichen virtuellen »Gelegenheitsmöglichkeiten«. Musik, Bilder, Unterhaltung, Informationen – die Möglichkeiten sind nicht einfach nur da. Sie sind nicht nur Objekte dezidierten Auswählens. Sie belagern vielmehr den Einzelnen. Er kann sich vor ihnen nicht retten. Dennoch kommt er nicht endgültig an sie heran. Die unendlichen Möglichkeiten sind insofern nicht konkret, sondern abstrakt. Sie sind aber doch noch so weit konkret, als dass man sie sehen und hören kann, man kann sie vor sich haben, aber nicht hinter sich bringen. Die unendliche Auswahl auf YouTube und Netflix lässt sich nicht durcharbeiten. Das Leben fühlt sich an wie endlos zirkulierende Elektrizität in einem Schaltkreis. Und der Kampf gegen die unendlichen Unterhaltungs-, Kennenlern-, Bilderund Musikmöglichkeiten ist wie der Kampf gegen die Hydra. Aus jedem abgeschlagenen Kopf wachsen zwei neue nach. Der Gedanke an Adornos »Fun« als »Stahlbad« drängt sich in diesem Zusammenhang auf. Das Stahlbad des Fun verwies bereits in der frühen Fernsehära auf die totale Unfreiheit des Menschen im kulturindustriellen Korsett, das gegenwärtig mit dem Fomo-Phänomen eine neue Pervertierung erfährt. »Fun« bis zur Erschöpfung als panische und atemlose Fortsetzung des Arbeitsbetriebs in die Freizeit. Und die Arbeit heute ist die Arbeit mit der Unendlichkeit. Die Menschen stürzen täglich in einen Kosmos der unendlichen Möglichkeiten, die sie aber nicht erreichen können. Zurück bleibt die blanke Angst. Die Angst davor, hinter den Möglichkeiten zurück zu bleiben. Und da sie immer hinter ihnen zurückbleiben müssen, haben sie immer Angst. Die Verpassensangst muss auch umgekehrt werden. Die digitalisierten Anwender haben Angst davor, selbst verpasst zu werden. Sie sind selbst genau die Möglichkeiten, hinter denen die anderen zurückbleiben. Sie verbreiten als verpasste Möglichkeit Angst und haben Angst davor, diese Verpassensangst bei den anderen zu erzeugen. Sie sind deswegen immer bieder und vorsichtig und wollen ja nicht unkontrolliert Angst erzeugen, obwohl sie es beständig tun.
Fomo strahlt in mehrere Richtungen. Auch das Fomo der audiovisuellen Aufzeichnungen kann als psychotische Grundkonstitution des Lebens in der Totaldigitalisierung festgehalten werden. Kein Ereignis von bestimmter Qualität darf mehr ungefilmt, unfotografiert einfach passieren. Die Angst davor, das potentiell unvergessliche Ereignis mit der Kamera zu verpassen, ist immer da und der Finger am roten Punkt auch. Das verfrachtet die Anwender zwangsläufig in eine immerzu gereizt beobachtende und selbstbeobachtende Haltung. Sie sind krankhaft selbstreflexiv in rein visuellem Sinne. Was, wenn das der Moment war, den ich hätte filmen müssen? Was, wenn eben dieser Moment mich via Instagram zu dem gemacht hätte, der ich gerne sein wollte?
Eine weitere Dimension des Fomo entwickelt sich seit einiger Zeit im Bereich der digitalen Werbepsychologie. Online-Anbieter sind sich mittlerweile im Klaren darüber, dass speziell bei Online-Käufen selten mit dem bewussten, d. h. reflektierten und rational abwägenden Konsumenten zu rechnen ist. Der Adressat der Werbebotschaft ist das Unbewusste, das emotionale Bad, in dem der potentielle Kunde schwimmt. Und hier bekommt die Wendung der Angst davor, etwas zu verpassen, eine unerwartete, neue Kontextualisierung. Der Werbetreibende befürchtet nämlich, den emotional nicht angesprochenen Kunden, der sich vom Produkt abwendet und sich umorientiert, zu verlieren. Und zwar dorthin, wo mehr positive Emotion auf ihn wartet. Das »missing out« bezieht sich hier auf die verpasste Gelegenheit, den User emotional dort abzuholen, wo er gerade steht. Vorrangiges Ziel bei der (universitären) Erforschung von Kundenemotionen beim Online-Shopping sind Strategien zur Vermeidung von negativen Affekten. Zentral hier: die genaue Analyse des Zusammenhangs zwischen bestimmten Mauscursorbewegungen und Tastatureingaben mit dem endgültigen Kaufverhalten. Die Forschungsarbeit mündet laut exemplarischem Forschungsbericht der MIS Quarterly in die Zur-Verfügung-Stellung einer sogenannten unaufdringlichen, massenhaft anwendbaren Evaluationsanwendung für negative Emotionen beim Online-Kauf.23 Ohne dass der potentielle Kunde etwas davon merkt, errechnet das im Bericht vorgestellte Programm aus den Bewegungen des Mauscursors die emotionale Konstitution des Users, um im nächsten Schritt unaufdringlich – also ohne in das Geschehen merklich einzugreifen – die Website der Stimmung des Käufers anzupassen. Diese Anpassungen werden im Forschungsbericht mit Querverweisen zu Fachliteratur aufgezählt. Ist der potentielle Käufer gerade negativ berührt, so erscheinen neue Möglichkeiten, wie Textfelder, in denen man einer Befürchtung Luft machen kann, es ploppen Rechtfertigungen der Anbieter in einem gesonderten Fenster auf, es erscheinen – zur errechneten Emotion passend – neue Angebote in einer Seitenleiste. Die algorithmisierten Möglichkeiten sind schier unendlich: Hintergrundmusik wird auf die vom Programm antizipierte Emotion eingeblendet, die Helligkeit der Seite wird angepasst, die bevorzugten Schriftformen verwendet, etc. Die Emotionen der Anwender sind das neue Schlachtfeld der digitalen Kundenakquise und -bindung. Wer hier versagt, verliert die Käufer, erst emotional und dann physisch per Mausklick. Die treibende Kraft ist hier die Angst davor, die Emotion des Kunden zu verlieren.
Scham und Verdinglichung
Nicht nur die online stehende, optimierte Fotogalerie des Anderen kann einem heute ein Gefühl der Minderwertigkeit geben, sondern auch die eigene. Kein Anwender, der nicht seinem Online-Dating-Profilbild hinterherhechelte, kein Selbständiger, der nicht der zur Schau gestellten Schokoladenseite seines XING-Accounts im echten Leben zu entsprechen suchte. Gerade hier sind heute die Prädikate des Subjektiven und Objektiven ausgetauscht. Nicht mehr das reale – situationsbedingte – Wirken, sondern die beständige online stehende Perfektion gilt als Richtmaß der Selbstoptimierung. Letztere gilt für viele als objektive Quelle der Sinngebung und wird so zum neuen Ideenhimmel. Die »platonoide Serienexistenz« im Internet wird zur neuen Matrize. Um am Ende einer reklameartigen Version des eigenen Selbst zu entsprechen, wird perfektioniert. Dem Einzelnen wird so unter anderem die Energie für so etwas Verrücktes wie gesellschaftliche Veränderung geraubt. Es ist nicht mehr die Perfektion suggerierende Reklame im Fernsehen, sondern das internalisierte Prinzip der Reklame im digitalen Umgang miteinander. Letzterer wird bekanntlich so offen es geht gestaltet. General Eisenhowers Äußerung, mit der er vor der damaligen amerikanischen Fernsehnation gestand, nichts zu verbergen zu haben (»I have nothing to hide«), muss als klassisches Dokument eines Lebensmodus verstanden werden, der heute, mit dem Ende der Privatsphäre (nach Zuckerberg), seinen absoluten Höhepunkt erfährt.
Schamlosigkeit wird gegenwärtig nicht nur via FaceTime und WhatsApp als Tugend missverstanden. Die Behauptung, wer nichts zu verbergen habe, habe auch nichts zu befürchten, gilt gerade heute noch als beliebtes Argument gegen jegliche kritische Überlegung bezüglich der neuen Lebensform der Transparenz. Die heutige Exhibitionsbereitschaft unter dem sanften Terror der bunten digitalen Glitzerwelt muss als ebenso konstitutiv erkannt werden wie das Ende der Privatsphäre. Erik Erikson erkannte in ihr bereits die ungewollte Exponiertheit als zentrales Element. »Wer sich schämt, glaubt sich exponiert und beobachtet, ist unsicher und befangen. Man fühlt sich den Blicken der Welt höchst unvorbereitet ausgeliefert.«24 Im Zeitalter der Lebensführung im »Always-on«-Modus samt GPS-Tracking wirkt die Theorie von Erikson wie ein emotionales Leitmotiv der heutigen Gesellschaft. »Die reine Scham« – auch Jean-Paul Sartre machte in dem schmerzvollen Affekt eine Art emotionales Paradigma seiner Zeit aus – »ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wieder zu erkennen.«25 Bekanntlich waren die Anderen bei ihm die Hölle. Heute trägt jeder eine kleine Vergegenständlichungsmaschine mit sich herum, die ihn zur beständigen »offenen« Objektivierung seiner selbst und »der anderen« zwingt. Der smart vernetzte Mensch muss sich mit seinem Smartphone in der Hand schämen. Er kann nicht anders. Die totale Digitalisierung bedingt die totale Scham via totaler Verdinglichung. Ungewohnt konkret erklärt Adorno sein Verständnis von Verdinglichung anhand eines beiläufigen Gesprächs während seiner Zeit im kalifornischen Exil: »Was ich mit verdinglichtem Bewusstsein meine, kann ich, ohne umständliche philosophische Erwägung, am einfachsten mit einem amerikanischen Erlebnis illustrieren. Unter den vielfach wechselnden