Der werfe den ersten Stein - Ein Schweden-Krimi. Thomas Kanger
acht angerufen, gesagt, er sei gerade in Höhe von Örebro und könne um neun da sein. Nur wenn sie es wolle natürlich. Sie wollte es und sagte es ohne Umschweife. Er konnte höchstens zwei Stunden bleiben. Länger konnte er nicht so tun, als hätte er sich verspätet. Sie war sofort in die Küche gegangen und hatte ein einfaches Essen vorbereitet aus den Zutaten, die sie vorrätig hatte. Er kam schneller als erwartet. Ein Kuss, eine leise Unterhaltung bei Tisch, jeder ein Glas Wein, nicht mehr, er musste ja noch fahren und sie musste am nächsten Morgen früh aufstehen. Eine halbe Stunde später lagen sie im Bett.
Das erste Mal seit fünf Wochen. Sie überlegte, warum sie immer auf alles einging, was er verlangte, ständig akzeptierte sie seine Bedingungen. Warum sollte sie für einen verheirateten Mann da sein, der sechzehn Jahre älter war als sie? Liebe, klar, so war es wohl. Aber sie wusste, dass es andere, undurchsichtigere Gründe gab. Gründe, die mit den eineinhalb Stunden zusammenhingen, in denen sie sich nach der kurzen Mahlzeit einander widmeten, und gegen deren innersten Antrieb sie sich wehrte.
Eines Tages, dachte sie, werde ich mich selber analysieren, ein Puzzle aus den Teilen meiner Seele legen, genau wie ich es mit den Angaben einer Ermittlung mache. Erst wenn ich verstehe, warum ich mich so verhalte, kann ich vernünftige Entscheidungen treffen. Aber nicht jetzt und auch vorläufig noch nicht.
Damit war ihre stumme Diskussion mit sich selbst für diesmal beendet. Sie seufzte, erhob sich und ging duschen. Sie hatte eine Stunde und zwanzig Minuten Zeit für das, was eine allein stehende Frau von zweiunddreißig Jahren jeden Morgen vor der Arbeit zu erledigen hat. Die Morgenkonferenz war für acht Uhr angesetzt, aber Elina fing lieber schon um sieben an, der früheste Zeitpunkt, den die Gleitzeit erlaubte.
Das Licht verwandelte die Mauseöhrchen an den Birken vorm Fenster zu Schattenspielen auf den weißen Badezimmerwänden. An Maimorgen wie diesem wünschte sie, ihre Wohnung wäre etwas weiter vom Präsidium entfernt. Ihre Zweizimmerwohnung am Oxbacken lag so nah am Arbeitsplatz, dass man nicht einmal ins Schwitzen geraten würde, wenn man den ganzen Weg liefe. Bergab, die zweite Querstraße nach rechts, einen Häuserblock weiter. Umwege zu machen, was natürlich eine Alternative gewesen wäre, kam ihr irgendwie ziellos vor, und das passte nicht zu ihrem Naturell.
Das Präsidium in Västerås nahm einen halben Häuserblock zwischen Källgatan und Svartån ein. Es lag im zentralen Teil der Stadt, wo es immer noch einige ältere, schöne Gebäude gab, gerettet durch eine seltene Gnade, als die Abrissraserei der sechziger Jahre wie eine Windhose über das Land gefegt war. Das Präsidium jedoch war geprägt vom typischen Schnitt dieser Zeit und spiegelte die Einstellung jener Jahre zur Rolle der Herren in der Gesellschaft; grau wie ein Bürokrat und viereckig wie die Vorschriftenhörigkeit der Verwaltungsbeamten. Die Mauern des Gebäudes strahlten Uneinnehmbarkeit und Distanz aus, seine kleinen Fenster waren die Augen des Überwachers der Allgemeinheit.
Daran dachte Elina Wiik mit keinem Gedanken, als sie das Gebäude durch den Haupteingang betrat. Sie dachte auch nicht über die innere Geschlossenheit des Hauses nach. Routiniert öffnete sie mit Hilfe ihres Dienstausweises die Tür, um in das Innere des Hauses zu gelangen.
Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Auf dem Weg dorthin begegnete sie dem einzigen Kollegen, der genauso früh seinen Dienst antrat wie sie.
»Guten Morgen«, sagte Kjell Stensson und lächelte.
»Hallo«, antwortete Elina Wiik und lächelte zurück, ohne jede Anstrengung, denn sie schätzte Stensson als Polizisten und auch als Menschen. Außerdem empfand sie Dankbarkeit für ihn. Er hatte ihr zu Anfang so manches Mal beigestanden und sich des Öfteren Zeit genommen, ihr zuzuhören, wenn sie nicht weiterwusste, obwohl er beim Rauschgiftdezernat und sie bei der Kripo war. Seine Ratschläge waren gut, manche passten nicht zu ihrem Arbeitsstil. Während Elina Wiik es vorzog, sich langsam voranzuarbeiten, weil das Analysieren in ihrer Natur lag, war Stensson ein Mann der Tat.
Viele Kollegen hielten ihn für eigenwillig und fanden, dass er häufig außerhalb der Regeln agierte. Er war ein Freund dessen, was man in der Sprache der Polizei proaktive Tätigkeit nannte. Das hieß eingreifen, bevor ein erwartetes Verbrechen begangen wurde, in der Hoffnung, es vereiteln zu können.
Was Stensson anging, bedeutete dies regelmäßige Besuche, die man kaum Höflichkeitsbesuche nennen konnte, bei einer ausgewählten Gruppe von Menschen. Individuen, von denen er zu wissen meinte oder annahm, dass sie sich mit Rauschgifthandel beschäftigten, obwohl es keine konkreten Hinweise gab. Sie sollten sich nicht in Sicherheit wiegen und sich ständig bewusst sein, dass Stensson ein Auge auf sie hatte.
Im Lauf der Jahre hatte es viele Klagen wegen Schikanen gegeben, und er war häufig kritisiert worden, auch innerhalb des Polizeikorps, weil sein Verhalten undemokratisch war. Kritik pflegte er mit einer Gegenfrage zu begegnen: »Und ist es vielleicht demokratisch, mit anzusehen, wie diese Armleuchter in aller Ruhe die Vergiftung unserer Jugend planen?« An dieser Stelle endete jede vernünftige Diskussion, weiter kamen sie nie.
Mehrere Male hatte der Kriminaldirektor Stensson bremsen müssen. Aber niemand konnte seine Effektivität leugnen und nur wenige wussten, dass er im Lauf der Jahre zusammen mit seiner unendlich geduldigen Frau Pflegeeltern für eine ansehnliche Zahl von verirrten Jugendlichen gewesen war, Jungen und Mädchen, die er erst als Polizist niedergeschlagen und denen er dann viel Zeit gewidmet hatte, um sie wieder aufzurichten und sie auf den richtigen Weg zu bringen.
»Komm mal einen Augenblick zu mir, wenn du Zeit hast«, sagte er. »Ich muss was mit dir besprechen.«
»Klar«, antwortete sie und folgte ihm in sein Zimmer. Es war ein wenig größer als die anderen Dienstzimmer auf dem Flur, da Kjell Stensson der Chef des Rauschgiftdezernats war.
»Wie geht’s dir und wie kommst du mit deinen derzeitigen Aufgaben zurecht?«, fragte er.
»Danke, gut, ich bin sehr zufrieden – aber hör mal, wenigstens du solltest wissen, dass man bei einem Verhör nicht zwei Fragen gleichzeitig stellt«, sagte sie lachend. »Da riskiert man, dass man nur auf eine von beiden eine Antwort bekommt. Auf die unverfänglichere.«
»Dies ist ja kein Verhör. Vielleicht sollte ich nicht mit dir darüber reden, vielen in diesem Haus gefällt es nicht, wenn man aktive Werbung in anderen Korridoren betreibt. Aber im Dezernat wird es eine vakante Stelle geben und darüber solltest du mal nachdenken.«
»Du möchtest also, dass ich für dich arbeite?«
»Das hab ich nicht gesagt. Könnte sein, dass ich Doppelfragen stelle, aber du schließt zu schnell Schlüsse daraus und das ist viel schlimmer für einen Polizisten. Vielleicht wollte ich dich ja nur bitten, mir jemanden zu empfehlen.«
Er grinste.
»Eins zu eins«, sagte Elina.
»Aber du hast Recht. Ich möchte, dass du dich um den Posten bewirbst.«
Elina Wiik schwieg eine Weile. Sie wusste, dass Stensson sie für eine gute Polizistin hielt, dennoch war sie überrascht. Sie überlegte, ob sie Witze über Ablösesummen machen sollte, ließ es dann aber.
»Rauschgift ist nicht gerade mein Ding«, sagte sie stattdessen.
Kjell Stensson fiel ihr ins Wort.
»Rauschgift ist niemandes Ding. Oder sollte es nicht sein. Aber in unserem Bezirk gibt es mehr weibliche Süchtige als früher. Bei jeder Ermittlung stoße ich auf sie. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass Mädchen so viel rauchen. Wusstest du das? Nikotin ist die Einstiegsdroge zum Rauschgiftmissbrauch. Wer keinen Tabak raucht, fängt nie mit Hasch an. Und das ist wahrhaftig kein so harmloses Rauschgift, wie Journalisten und Politiker behaupten.«
Er verlor sich in einer Art Selbstgespräch.
»Als ob das eine Art Cola light wäre«, brummte er. Dann wandte er sich wieder an Elina Wiik und machte einen neuen Anlauf.
»Ich hab heimlich gelesen. Deine Verhöre in Fällen von Misshandlung. Du bringst die Frauen zum Reden. Obwohl man merkt, wie ängstlich und unwillig sie anfangs sind. So was brauchen wir speziell hier. Viele der Mädchen, die bei uns landen, machen sich vor Angst fast in die Hose. Vor uns und ihren Drogenkumpels da draußen, die ihnen den Stoff