Mit Baťa im Dschungel. Markéta Pilátová
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JAN ANTONÍN BAŤA
(Tomáš Bat’as Halbbruder, der die Firma Bat’a nach dessen Tod zum Weltkonzern ausbaute.)
Ich liege in dem weißen Bett. Auf dem allzu gestärkten Laken. Es schneit. Von fern höre ich meine erste Geige, die kleine Fiedel, die Mutter einem Zigeuner abgekauft hatte. Auf dem schwarzen Geigenkasten sause ich den Hügel hinunter, der Kasten ist schön stabil und besser als der Schlitten, ich bin als Erster unten. Die Jungs machen eine Schneeballschlacht, überhäufen mich mit Schnee, wollen mich in eine Verwehung einbuddeln, und ich wehre mich und kriege kaum noch Luft. Es tut weh in der Brust. Lidka hat mir ein Glas Wasser gebracht und den Ventilator angestellt. Ein schweres Ding, das dunkel und unheilvoll brummt wie ein kleines Flugzeug. Wie unsere Lockheed Electra L-10 mit der Seriennummer 1091, Jahrgang 1937. Mit ihr bin ich als erster Tscheche um die Welt geflogen. Ich muss immer dorthin starren. Sehe den Ventilator und im nächsten Moment das Flugzeug. Ventilator, Flugzeug. Hin, zurück. Ventilator, Flugzeug. Hin, her. Her, hin. Das monotone Dröhnen der Motoren. Das Rattern der hölzernen Schaufeln. Die Hitze wird in einen Winkel verdrängt und kommt als Motorzündung zurück. Ich schaue an die Decke, überzeugt, dass das Monstrum auf mich herabfallen wird oder dass ich im nächsten Moment einsteige, den Sicherheitsgurt anschnalle und nach Hause fliege. Ich schwitze und gleich darauf fröstele ich. Vermutlich das Reisefieber. Es ist beruhigend, dass direkt neben dem Krankenhaus eine krumm gewachsene alte Dama da Noite steht. Die Dame der Nacht, ein Baum mit dichten kleinen Blättern und winzigen Blüten. Dona Marina Trachtová hat einmal gesagt, sie habe sie unter ihren Fenstern, weil ihr Duft Glück ins Haus bringe. Damals lag ich mit meinem ersten Infarkt in Batayporã, im Haus von Jindřich Trachta, in dem ich ein Büro besaß. Ich hatte mich hingelegt, weil mir übel geworden war. Nur Marina war da, Jindřichs hübsche Marina, immer lebhaft wie ein Eichhörnchen. Mir war hundeelend. Um mich herum schwankte alles, und mir war, als würde ich allein durch einen luftleeren Raum schweben. Die anderen flogen auch irgendwo herum, waren im Sägewerk, rodeten den Urwald oder erledigten Papierkram, und ich hielt Marina an der Hand fest und bat sie, nicht wegzugehen. Einen Arzt gab es dort natürlich nicht, im Urwald gibt es keine Ärzte. Marina versprach, bei mir zu bleiben. »Herr Bat’a, atmen Sie etwas von diesem Duft ein, das bringt Glück«, flüsterte sie. Nu, habe ich also eingeatmet, so tief es ging. Die Blüten der Dame der Nacht sehen aus wie eine Mischung aus Kaktus und Orchidee. Wenn sie aufgehen, verströmen sie einen berauschenden, penetrant süßen Duft in die Nacht und locken Scharen von Kolibris und Schmetterlingen an. Drei Tage später sind sie verblüht. Wie kommt es, dass sie jetzt blühen? Ist denn Frühling? Wie geht noch einmal dieses Liedchen? »Sogar die alten Weiber singen, wenn die Knospen wieder springen …« Was will mir die Dame der Nacht damit sagen? Dass heute ein guter Tag zum Sterben ist? Ich brumme vor mich hin, dass kein Tag zum Sterben gut ist. Als Lidka oder Maja in der Frühe die Fenster öffnet, umhüllt mich dieser Duft, legt sich schwer auf mich und trägt mich davon. Weit weg vom Krankenhaus in São Paulo, über den Ozean, zu einem anderen Geruch, dem von feuchter Erde und Frühjahrsschnee, wo ich nicht nach Atem ringen muss, sondern alles in großen Zügen aufsauge. Ich scheue mich nicht, dort Atem zu schöpfen. Und ich scheue mich nicht, dorthin zurückzukehren.
Zurückzukehren, um zu erklären. Um den Gerüchten, Lügen, Verschwörungen, kleinen und großen Wahrheiten etwas Neues, diesmal Eigenes hinzuzufügen. In den Mündern, den Schandmäulern der Leute bin ich ja schon alles Mögliche gewesen: ein Nazi, ein Jude, ein deutscher Jude, ein tschechischer Jude, ein gewöhnlicher Jude, ein schmutziger Slawe, ein Agent des Dritten Reichs, ein Deserteur, Vaterlandsverräter, Nestbeschmutzer, ein Gigant, Sündenbock der Kommunisten, der Schuhkönig, der Nachfolger, der Chef und jetzt offenbar auch noch der neuralgische Punkt der neueren tschechischen Geschichte. Sucht euch davon aus, was ihr wollt, aber ich kehre zurück, weil ich mich nicht damit abgefunden habe, dass Lidka und Edita und zuletzt Dolores euer ungerechtes Justizsystem anbetteln mussten. Ich rege mich schon wieder auf, und das sollte ich nicht, immerhin bin ich an einem Herzinfarkt gestorben. Ich will die ganze Geschichte noch mal in Ruhe Revue passieren lassen. Sie vielleicht in kleine Einzelteile zerpflücken. Dann wieder geduldig zusammensetzen, um zu sehen, ob sich die Stückchen so ineinanderfügen lassen, dass sie zusammenhalten. Ich will mir über die einzelnen Fäden klarwerden – und darüber frohlocken, weil ich schon jetzt weiß, welcher Hundskerl an ihnen gezogen hat. Will mir alles unter dem Vergrößerungsglas der Zeit anschauen. Und zu begreifen versuchen, warum ihr mich so lange nicht anhören wolltet. Warum ihr alles selbst erzählen wolltet.
LUDMILA
(Tochter von Jan Antonín Bat’a)
Er war kreidebleich. Der wievielte Infarkt würde das jetzt sein? Dabei sah es erst gar nicht danach aus. Ich dachte, ihm sei nur übel geworden, irgendetwas Falsches gegessen oder wie schon so oft zu viel in sich hineingestopft. Ich rief Doktor Andrade an, dass er schnell nach Batatuba kommen solle, es sei ein Herzinfarkt. Verflixt noch mal, und nu, was jetzt? Da stehste und guckst, wie Großmama Gerbecová in Hradiště zu sagen pflegte, wie Doktor Gerbec zu sagen pflegte. Nix ist jetzt. Wir fuhren zu dem riesigen Krankenhaus Beneficência Portuguesa in São Paulo. Das ist jetzt fast einen Monat her. Auf dem Bett immer das hölzerne Klapptischchen, damit er schreiben kann. Dem Tod mit Arbeit trotzen. Unsere emsige Arbeitsfamilie. Mit nutzbringender, fleißiger Arbeit wird allem getrotzt. Dem Tod und dem Leben. Stets ein Papier und einen Kugelschreiber zur Hand. Einen Füller mag er nicht benutzen, denn wenn er länger nachdenkt, trocknet ihm die Tinte aus. Mutter und ich wechseln uns ab, sie sieht müde aus. Sie, er, wir alle sehen müde aus. Er macht sich dauernd Notizen. Trifft ständig irgendwelche Entscheidungen, übernimmt Verantwortung. Schlüpft in sie hinein wie in das tägliche frische Hemd. Und zieht die Krawatte der Arbeit fest. Immer denkt er über etwas nach, immer ist er da. Wacht schon frühmorgens auf und bittet uns, das Fenster zu öffnen, damit er freier atmen kann, damit er den Sonnenaufgang sieht. Er blickt in die Dämmerung, aber ich sehe ihn im Geiste all die Fabriken durchwandern, die er überall auf der Welt ausgesät hat und die wie Pilze aus dem Boden gewachsen sind, wie Champignons auf gut gedüngter Erde. Fabriken, die von allen bewundert wurden, ihre ansehnliche Erscheinung, ihre Zweckmäßigkeit, ihr einwandfreies Funktionieren, ihre Leistungsfähigkeit, ihre Möglichkeiten. Fabriken, die allen ein Dorn im Auge waren. Den Kapitalisten und den Kommunisten. Ich sehe ihn, wie er herumfährt und alles genau begutachtet, sehe ihn überlegen, wo etwas einzukaufen ist, wo jemand ausgebildet werden muss, wo etwas zu erfinden, zu verwerten, zu verbessern, zu veräußern, zu besiedeln ist … Und jetzt, da bin ich mir sicher, jagt er gerade mit den Viehtreibern auf staubigen, rotsandigen Wegen den weißen Stierherden nach. Reitet mit ihnen die Ufer des Rio Paraná entlang und isst abends am Lagerfeuer geröstetes Büffelfleisch mit den Fingern, ohne sich dafür genieren zu müssen, ohne das Fett abzuschneiden oder auf anständige Manieren achten zu müssen. Er blickt auf die gewaltige Strömung des trüben Paraná und träumt davon, das umgebende Sumpfland trockenzulegen. Diesen Fluss zu bändigen! Es genügt ihm nicht, dass sich dort auf den toten Baumstümpfen jeden Abend Schwärme von Silberreihern niederlassen, dass dies ihr Königreich ist. Er will, dass aus den schlammigen, brodelnden Tümpeln etwas Nützliches entsteht, eine Zukunft, etwas für Menschen Gemachtes, nicht für Reiher. Er möchte diesen gewaltigen, stolzen Fluss bezwingen, will dessen Stolz und Gewalt für den Fortschritt nutzen, für etwas Besseres als das, was die Schicksalsgöttinnen für diese Landschaft vorgesehen haben, in der die Arbeits- und Landlosen keine Chance haben. Schon sieht er hier anstelle der Wildnis moderne Häuser und Fabriken entstehen, Kinos und Kais, gepflegte Gärten statt Dschungeldickicht. Er möchte die wilde Arroganz der Natur besiegen, sie mit der größten Brücke bändigen, die Brasilien je gesehen hat, ein wenig Karl IV. sein, er möchte überall sein, nur nicht hier, diesen weißen Mauern und dem steifen Laken ausgeliefert, und einem Herz, das unzuverlässig ist und schmerzt.
Er behauptet, er würde den Duft der Dama da Noite riechen. Ich will es ihm nicht ausreden, auch wenn wir August haben und die Dame der Nacht im März blüht. Was spielt es schon für eine Rolle, wann dieser dumme Baum blüht – er sehnt sich jetzt nach seinem süßen Duft. Und nach Torte. Zuckerbaisers. Nach geräucherter Rinderzunge. Gestampften Kartoffeln mit