Luis Suárez. Luca Caioli
1915 suchten sie einen Namen für ihren Klub und fanden ihn auf der Karte Großbritanniens. Sie riefen sich dabei die Ausführungen ihres Lehrers in Erinnerung: Er hatte den Schülern erzählt, wie die großen Kohlefrachter den Hafen von Liverpool in Richtung Montevideo verließen. So kam es, dass sie ihren Verein „Liverpool“ nannten. Die Truppe spielte in der Saison 2015/16 übrigens als Aufsteiger in der Primera División, Uruguays höchster Liga.
Doch kommen wir noch einmal zurück auf die bis heute umstrittenen Ursprünge des uruguayischen Fußballs. Sie hängen eng mit der Geschichte von Nacional und Peñarol zusammen, mit der Rivalität der beiden bedeutendsten Vereine des Landes. Stand 2016 haben sie zusammen 98 der 112 bisher ausgespielten Meisterschaften gewonnen, dazu achtmal die Copa Libertadores und sechsmal den Weltpokal.
Der Club Nacional de Football war am 14. Mai 1899 aus der Fusion zweier Universitätsvereine entstanden: des Montevideo Football Club und des Uruguay Athletic Club. Der Club Nacional war das Gegenstück zu den Vereinen der Kolonisten. Deshalb tragen Fahne und Wappen auch die Farben Weiß, Hellblau und Rot, entsprechend der Fahne von José Gervasio Artigas, dem Vater der uruguayischen Nation.
Bereits einige Jahre zuvor, am 28. September 1891, hatten überwiegend englische Arbeiter der Bahngesellschaft Central Uruguay Railway Company of Montevideo einen Klub gegründet. Sie nannten ihn Central Uruguay Railway Cricket Club, CURCC – oder kurz: „Peñarol“, damals noch ein nordöstlich von Montevideo gelegener Vorort und Heimat der Werkstätten der Bahngesellschaft. Die Farben waren Gelb und Schwarz, analog zu den damaligen mechanischen Signalen der Eisenbahn.
Von Beginn an prägte CURCC die uruguayische Meisterschaft. Beim ersten Wettbewerb im Jahr 1900 traf man auf drei andere Klubs: Albion, Uruguay Athletic und den Deutschen Fussball-Klub. Am 13. Dezember 1913 benannte sich CURCC auch offiziell in „Peñarol“ um. Bis dahin hatte man bereits mindestens 50 Partien gegen Nacional absolviert – carboneros („Kohlehändler“) gegen bolsos oder bolsilludos („Hemdtaschen“, weil ihre Jerseys stets eine solche trugen). Peñarol gegen Nacional, das hieß auch: auf der einen Seite der englische Eisenbahnerverein, auf der anderen die akademische Elite, auf der einen die Gringos, auf der anderen das nationale Establishment.
Ihre Rivalität sollte den Fußball in Uruguay zum beliebtesten Sport im Lande, ja zum Nationalsport machen. In Windeseile breitete sich der Fußball nun in alle Richtungen aus, und es wurden weitere Klubs gegründet: Wanderers, River Plate, Bristol, Central, Universal, Colón, Reformers, Dublín und so weiter. Man spielte auch gegen englische Mannschaften auf Südamerikatournee, wie den FC Southampton, Nottingham Forest oder Tottenham Hotspur. In den binationalen Wettbewerben Copa Lipton und Copa Newton nahm zugleich die ewige Rivalität zwischen den Nationalteams aus Argentinien und Uruguay ihren Anfang.
Der Fußball überwand außerdem Klassengrenzen. Hier konnten sich auch die Armen entfalten, hier war ein Ort gegenseitiger Integration für die weniger Wohlhabenden und die Oberschicht, für Gauchos und Einwanderer. Zwischen 1860 und 1920 erlebte Uruguay einen massenhaften Zustrom von Immigranten aus Europa (hauptsächlich aus Spanien und Italien), der die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung deutlich veränderte. Hinzu kamen zahlreiche Brasilianer mit afrikanischen Wurzeln und gelegentlich sogar noch Sklaven. Diese Mischung aus Immigranten und Alteingesessenen beeinflusste auch entscheidend die Gesellschaft Uruguays. Das Land erlebte keine ernsthaften Klassenkämpfe, und es gab keine tief verwurzelte Aristokratie. Folgerichtig vermischten sich Einwanderer, Afrikaner und die lateinamerikanische Bevölkerung.
Lincoln Maiztegui Casas, Geschichtsprofessor und Autor umfassender Studien über die soziopolitischen Entwicklungen des Landes, erklärt die Demografie so: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Uruguay zwar keine egalitäre, wohl aber eine integrierte Gesellschaft. Das hing mit dem beginnenden Aufbau des Sozialstaates und der bereits 1877 erfolgten Reform des Bildungssystems durch José Pedro Varela zusammen. Danach waren Schulen Staatsaufgabe, und ihr nun kostenloser Besuch wurde Pflicht.“
So entstand die Idee, dass Söhne aus reichem und armem Haus die gleiche Schule besuchen, den gleichen Rock tragen und die gleichen Pflichten erfüllen. Mit der Reform rückte man der gesellschaftlichen Gleichberechtigung ein gutes Stück näher, und allmählich verwischten sich auch die kulturellen Unterschiede zwischen der einheimischen Bevölkerung und Zuwanderern. Auch wenn Letztere ihre Heimatkultur bis heute nicht ganz aufgeben, fühlen sie sich tief im Inneren als Uruguayer.
Eine ähnliche Rolle bei der Zusammenführung von Menschen unterschiedlicher Kulturen und sozialer Klassen spielte auch der Fußball. Man muss sich nur die Nationalspieler anschauen, die 1924 bei den Olympischen Spielen in Paris Gold holten. Petrone, Scarone, Romano, Nasazzi, Uriarte, Urdinarán – das sind vor allem Namen italienischen und spanischen Ursprungs. Und dann war da noch José Leandro Andrade, „La Maravilla Negra“ („das schwarze Wunder“), der erste berühmte dunkelhäutige Spieler im uruguayischen Fußball. Keine Frage: Fußball integriert und führt Menschen zusammen. Mit ihm kann man auch auf der sozialen Leiter nach oben klettern.
Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Abdón Porte, genannt „El Indio“. Maiztegui, durch und durch bolso, erzählte mir dessen Geschichte: „Er war Meister mit Nacional geworden und hatte 1917 mit Uruguay die Copa América geholt. Doch dann kam der Schicksalstag, an dem ihm der Trainer sagte, dass er am Sonntag nicht im Kader stehen würde. Abdón konnte sich kein Leben vorstellen, in dem er nicht mehr für Nacional spielte. Durch den Fußball hatte er gelernt, sich in der Gesellschaft zu bewegen, sich ordentlich zu kleiden, regelmäßig zu baden und eine Arbeit und eine Braut zu finden. Also schoss er sich am 5. März 1918 im Gran Parque Central, dem Stadion von Nacional, eine Kugel in den Kopf. Man fand ihn am nächsten Tag, die Pistole noch in der Hand.“
Dann kamen die 1920er Jahre, die fetten Jahre des uruguayischen Fußballs. „Es gab keinen speziellen Grund für die Erfolge Uruguays in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts“, erklärte Mario Romano, als er mit großen Schritten durch die Gänge im Bauch des Centenario zum Fußballmuseum eilte. Der Stadionmanager zeigte mir die Jerseys, die Bälle, die Trophäen, die Schuhe von José Vidal, dem Fünfer in der Nationalmannschaft von 1924, und ein großes Poster von Andrade. Er hielt an, um einige Reliquien der Celeste zu erklären.
Anschließend setzte er da fort, wo er kurz zuvor aufgehört hatte: „Ich glaube, dass es viel mit der Lage am Río de la Plata zu tun hatte, mit der Wirtschaftskraft von Uruguay und Argentinien, die damals einen echten Boom erlebten. Sie litten ja nicht unter den Folgen des Ersten Weltkriegs, der in Europa gewütet hatte. Ganz im Gegenteil stiegen die Nettoexporte, und Kapital und Devisen kamen ins Land.“
Und weiter: „Uruguay erlebte eine Wachstumsphase. Der Handel prosperierte, die Industrie expandierte. Dazu kam politische Stabilität, der Staat sorgte für ein modernes Sozialwesen und förderte die Leibeserziehung der Jugend, indem er im ganzen Land Sportplätze eröffnete. Und der uruguayische Fußball eroberte bei seinem ersten Auftritt auf dem alten Kontinent direkt die ganze Welt. 1924 in Paris gewann die Celeste mit einem 3:0 gegen die Schweiz das olympische Fußballturnier.“
Henri de Montherlant, französischer Romancier und Dramatiker, schrieb damals: „Eine Offenbarung! Endlich echter Fußball. Der Fußball, den wir kannten, den wir gespielt haben, ist verglichen damit nur ein Pausenkick in der Schule.“ Maiztegui meinte dazu: „Uruguay war ein kleines Land, das auf der Weltkarte nicht besonders hervorstach. Einen Namen machte es sich in Europa nicht durch seine von Frankreich inspirierten Literaten und ebenso wenig durch seine Musikkultur mit ihrem starken italienischen Einschlag, sondern durch seine Fußballspieler.“
Im Stade de Colombes, gelegen in der gleichnamigen Pariser Vorstadt, wurde schließlich der Mythos der garra charrúa, der „uruguayischen Kralle“, geboren. Von hier drang er in das öffentliche Bewusstsein vor. Da die Organisatoren keine Vorstellung hatten, in welcher Weise sie das nur wenigen Europäern bekannte Land repräsentieren sollten, stellten sie den Uruguayern einfach einen als Charrúa-Indio verkleideten Franzosen an die Spitze der Delegation. Die Spieler der Celeste waren wie vor den Kopf gestoßen. Ihre Eltern und Großeltern stammten schließlich aus Europa.
Die Kicker wussten wenig bis gar nichts über die indigene Bevölkerung, die einst in der Banda Oriental nördlich des