Luis Suárez. Luca Caioli
oder gefangen genommen worden. Die Überlebenden wurden als Sklaven nach Montevideo gebracht, bis auf drei, die in Paris als Zirkusattraktion herhalten mussten.
Dank romantischer Dichter wie Juan Zorrilla de San Martín lebt die Legende vom tapferen und furchtlosen Krieger, der bis zum Tode kämpft, bis heute fort. Die garra charrúa war dabei die göttliche Gabe, die dem Krieger entscheidende Kraft verlieh, wenn der Feind es am wenigsten erwartete. Diese Eigenschaft in der Schlacht wurde auf den Fußball und auf die Spieler Uruguays übertragen und die Klaue zum Markenzeichen der Celeste.
Bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam sicherten sich die Uruguayer noch einmal die Goldmedaille. Im Finale spielten sie gegen den ewigen Rivalen Argentinien zunächst unentschieden und gewannen dann das Wiederholungsspiel. 1929 beschloss die FIFA auf ihrem Kongress in Barcelona, Uruguay mit der Ausrichtung der ersten Weltmeisterschaft zu beauftragen. Das Land war wohlhabend und litt nicht unter dem Crash an der Wall Street und der Weltwirtschaftskrise, sondern durchlebte gerade „los años locos“, „die verrückten Jahre“.
Uruguays Wirtschaft boomte, der Peso war mehr wert als der Dollar. Viele Menschen stiegen sozial auf, und die Mittelschicht gewann enorm an Kaufkraft. Große Kaufhäuser wurden eröffnet, um die steigende Nachfrage nach Konsumgütern zu befriedigen; pro Jahr wurden allein 15.000 Autos importiert. Auch Montevideo veränderte sich: Es entstanden neue Wohngebiete, Hochhäuser wurden gebaut, und Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Parks und eben Stadien (wie das Centenario) schossen wie Pilze aus dem Boden.
Da die FIFA schon immer einen guten Riecher für Länder mit großem Geldbeutel hatte, entschied sie sich für Uruguay. Sie wusste, dass dessen Wirtschaft die Organisation einer WM finanziell stemmen konnte. Doch nicht nur das: Die uruguayische Regierung ging noch weiter und stellte 300.000 Pesos bereit. Mit diesem Geld bezahlte sie den Mannschaften aus Europa – Frankreich, Jugoslawien, Belgien und Rumänien – die Überfahrt und gewährte ihnen vor Ort freie Kost und Logis und sogar Tagesspesen.
In nur sechs Monaten wurde das Centenario hochgezogen. Schichtarbeiter schufteten ohne Pause, um den Bau rechtzeitig fertigzustellen. Das Centenario ist das bisher einzige Stadion, das von der FIFA zum „Monument des Weltfußballs“ erklärt wurde. Es verfügte über 90.000 (nach anderen Quellen 100.000) Plätze, die Baukosten betrugen 1,5 Millionen Pesos. Geplant hatte es der Architekt Juan Antonio Scasso im Stil der Moderne. Wegen einer heftigen Regenperiode verzögerte sich die Eröffnung jedoch und fand erst fünf Tage nach Beginn der WM statt.
Am 30. Juli 1930, einem Samstag, wurde um 14:10 Uhr das Endspiel angepfiffen: Uruguay gegen Argentinien, die Neuauflage des Finales zwei Jahre zuvor in Amsterdam. Héctor Castro, „El Divino Manco“ („der göttliche Einhänder“), Sohn galicischer Einwanderer, dessen rechte Hand im Jugendalter in eine elektrische Säge geraten war, traf in der 89. Minute mit einem vorzüglichen Kopfball zum 4:2-Endstand. Uruguay war Weltmeister.
FIFA-Präsident Jules Rimet überreichte Kapitän José Nasazzi den Pokal, und das Land verfiel in einen kollektiven Freudentaumel. Die Regierung erklärte den 31. Juli kurzerhand zum nationalen Feiertag. Laut dem Soziologen Rafael Bayce hatte die Celeste ihren Sieg „einer glänzenden Kombination aus direktem und aggressivem Fußball [zu verdanken], bestehend aus langen Bällen wie bei den Engländern und raffinierten Kurzpässen, mit denen sie dem Spiel einen schnellen Rhythmus gaben“. Mit dem Finale im Centenario hatte sich der Fußball endgültig als populärste Sportart am Río de la Plata etabliert.
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Man schrieb den 16. Juli 1950, und die Uhren in Rio de Janeiro zeigten auf 16:33 Uhr, da brachte Uruguays Linksaußen Alcides Ghiggia das Maracanã zum Schweigen (lange bevor Frank Sinatra und Papst Johannes Paul II. Vergleichbares erreichen sollten). 200.000 Menschen, die sich des Sieges ihres Teams so sicher gewesen waren, verstummten. Doch nun schlug Uruguay tatsächlich Brasilien und nahm zum zweiten Mal die WM-Trophäe in Empfang.
In seinem Kommentar im Jornal dos Sports schrieb der brasilianische Journalist Mario Filho: „Die Stadt hat ihre Fenster verrammelt und ist in Trauer versunken. Es war, als hätte jede Brasilianerin und jeder Brasilianer einen geliebten Menschen verloren. Oder, noch schlimmer, als hätte jeder Brasilianer seine Ehre und Würde verloren.“ Der Dramatiker Nelson Rodrigues, ein Landsmann Filhos, sprach von einem „Schock, einem seelischen Hiroshima“. Es herrschte unendliche Traurigkeit, es gab Tränen, Herzinfarkte und Selbstmorde.
Uruguay hingegen war in Feierstimmung. Und dann gab es da noch den Kapitän Obdulio Varela, der sich mit dem Ball unterm Arm die Zeit nahm, die brasilianischen Seelen zu trösten; ein Mann, der bis tief in die Nacht hinein mit den Verlierern trank und weinte und der später sagte: „Mit dem Hellblauen auf der Brust werden wir zu Edelmännern.“ Varela wurde zur Legende, zu einem Symbol des Erfolges und der garra charrúa. Bald 70 Jahre sind seit jenem schicksalhaften Spiel vergangen, doch in Uruguay ist es noch immer Gesprächsthema. Es wurden Bücher geschrieben und Dokumentarfilme gedreht über die ruhmreichen 90 Minuten. Niemand hat das Maracanaço vergessen; es wird weiterhin sowohl als positiver als auch negativer Wendepunkt gesehen.
Mario Romano interpretiert die WM 1950 aus rein sportlicher Perspektive: „Maracanã war ganz sicher ein Höhepunkt in der Fußballgeschichte Uruguays; es war der größte sportliche Erfolg. Danach wurde die garra charrúa gefeiert, dass man trotz vermeintlich aussichtslosem Kampf niemals aufgab, wie David gegen Goliath. Aber die Kehrseite der Medaille war, dass nur noch Platz eins zählte. Als die Nationalmannschaft bei der WM 1954 in der Schweiz Vierter wurde, wurde das allgemein als Versagen gewertet, genau wie der vierte Platz bei der WM 1970. Erst 60 Jahre später wurde er gewürdigt und bei der WM in Südafrika wie ein Titel gefeiert.“
„Das Problem ist nicht der Titelgewinn, der ja nun mal Fakt ist, sondern die Lehren, die man daraus zog“, ergänzt Maiztegui. „Nämlich: Wir Uruguayer gewinnen das, wofür andere hart arbeiten und sich lange vorbereiten müssen, allein mit unserer garra charrúa und Schläue.“
Juan Alberto Schiaffino, ein ganz Großer am Ball, bekannte mir gegenüber: „Wird man denn niemals sagen, niemals schreiben, dass wir Brasilien einfach deshalb geschlagen haben, weil wir tollen Fußball gespielt haben? Wird man weiterhin sagen, dass es die Klaue war, der uruguayische Charakter, der uns angeblich zu Machos und schlauen Füchsen macht? Genau diese fixe Idee hat uns geschadet, dem Fußball wie auch dem Land selbst.“
Pepe Mujica hat einmal gesagt, dass die Uruguayer nach dem Erfolg eingeschlafen seien und im darauffolgenden Jahrzehnt der Niedergang der einst so reichen Nation folgte. Auch Maiztegui meint: „Europa hatte ja 1950 noch ganz andere Sachen im Kopf als Fußball. Es baute allmählich seine Industrie, sein Sozial- und Produktionssystem wieder auf und schickte sich an, wieder seine alte Rolle auf der Weltbühne einzunehmen. Uruguay und eigentlich ganz Lateinamerika dagegen hatten es nicht verstanden, die an sich hervorragenden Voraussetzungen für eine Industrialisierung auszunutzen und ihr Wachstum zu verstetigen. Stattdessen fiel man zurück, genau wie der Fußball auch.“
Doch wer sich so sehr auf seinen Lorbeeren ausruht, entwickelt sich in Sachen Kondition, Taktik und Strategie nicht weiter. Ab Mitte der 1950er Jahre kehrten sich dann auch noch die Migrationsströme um, die bis dahin tausende Einwanderer nach Uruguay hineingespült hatten. Der Exodus nach Europa betraf auch Fußballspieler. Maiztegui: „Beispiele dafür sind Schiaffino und Ghiggia, die in Italien bei Milan und der Roma landeten. Oder José Santamaría, der nach der WM in der Schweiz zu Real Madrid ging und in den 1980er Jahren sogar die spanische Nationalmannschaft trainierte. Tja, selbst in den finstersten Zeiten unserer Geschichte haben wir immer noch Fleisch und Fußballspieler exportiert.“
Die schwärzesten Tage dieser Geschichte begannen am 27. Juni 1973. Präsident Juan María Bordaberry löste das Parlament auf und errichtete mit Unterstützung der Armee eine bis 1985 bestehende zivil-militärische Diktatur. Die Opposition wurde aufgelöst, die Spitzen der politischen Linken und der Gewerkschaften inhaftiert und ihre Führer gefoltert. Unter ihnen war auch Pepe Mujica, der wegen seiner Mitgliedschaft in der Guerillagruppe Movimiento de Liberación Nacional – Tupamaros insgesamt 13 Jahre im Gefängnis verbrachte. Doch selbst die Führer der traditionellen Parteien wurden eingekerkert. Bordaberry erklärte außerdem sämtliche bürgerlichen Freiheiten