Der versäumte Frühling. Hans Scherfig

Der versäumte Frühling - Hans Scherfig


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Thorsen hat einen anstrengenden Arbeitstag. Er ist auch Professor und muß sich um seine Studenten kümmern und Vorlesungen halten. Und er darf sich nicht einmal ein Zeichen von Müdigkeit anmerken lassen. Die Vorlesungen müssen lebendig und mit witzigen Bemerkungen gewürzt sein, und die Studenten geben sich interessiert und lachen eilfertig, wenn der Professor einen Witz macht.

      Doch der Chefarzt hat auch noch seine Privatpraxis, die Zeit und Geduld, lange Gespräche und taktvolles Verständnis erfordert. Hier ist abermals ein anderer Gesichtsausdruck erforderlich. „Vertrauen zum Arzt, das ist das allerwichtigste“, hat Professor Thorsen einmal in einem Interview gesagt. Mitunter kann es angebracht sein, beide Hände des Patienten zu ergreifen und ihn freundlich und verständnisvoll anzublicken. Der Arzt soll ein Freund sein, dem man sich anvertraut. Und er soll ein diskreter Beichtvater sein.

      Dazu kommen noch die vielen anderen beruflichen und ehrenamtlichen Verpflichtungen. Leitungssitzungen, Kongresse, Vorträge, „Domus Medica“ – das Haus der dänischen Ärztevereinigung –, Redaktion einer Wochenzeitschrift, Zeitungspolemik und so weiter. Außerdem hat ein Arzt noch ein Privatleben, eine Frau und Kinder, und er muß auch Geselligkeit pflegen.

      Vielleicht würde allein schon die Stellung eines Chefarztes das Leben eines Mannes ausfüllen. Und vielleicht wird Professor Thorsen auf Grund von Überanstrengung schon zeitig sterben. Aber seine zahlreichen Ämter hat er freiwillig übernommen. Sie sind Voraussetzung, um Karriere machen und sich einen hohen Lebensstandard leisten zu können. Der Professor ist ein im ganzen Land bekannter Mann. Bewundert und beneidet von allen Kollegen.

      Er ist noch jung. Er ist erst dreiundvierzig Jahre alt. Und er ist einer der neunzehn festlich gekleideten Herren, die sich an einem Juniabend treffen.

      Einem milden, stillen Sommerabend, an dem auf Langelinie Flieder und Goldregen blühen, genau wie viele Jahre zuvor, als ein älterer Studienrat ins Städtische Krankenhaus eingeliefert wurde und dort starb, weil er einen vergifteten Malzbonbon zu sich genommen hatte.

      5. Kapitel

      Ein Zuhälter und Gewalttäter ist zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ein abgestumpftes, ungehobeltes Individuum, das sich mit dem Urteil einverstanden erklärte und vor dem schaudernden Richter übertrieben höflich dienerte. Und im Gerichtsbericht einer Zeitung war dann sogar zu lesen, daß der Verurteilte die Zuhörer noch frech anlachte, als er abgeführt wurde. Pomadisiert, blaß, aufgeschwemmt, wattierte Schultern.

      „Ein geradezu widerlicher Typ“, sagt Richter Ellerstrøm zum Referendar.

      Richter Ellerstrøm ist dreiundvierzig Jahre alt. Sehr groß, mit länglichem Gesicht, blondem, aufwärts gekämmtem Haar und einem Schnurrbärtchen.

      Er mißt die Gefängnisstrafen so zu, wie es das Gesetzbuch vorschreibt, und diktiert sein Urteil mit dünner, unsicherer Stimme. Seine langen Hände spielen nervös mit dem Federhalter. Er weiß nie, was er mit seinen Händen anfangen soll. Doch er beißt sich nicht mehr auf die Nägel. Das hat ihm seine Mutter abgewöhnt.

      „Jetzt, da du Richter geworden bist, mußt du endlich mit dieser häßlichen Angewohnheit aufhören“, sagte sie. „Ein Richter kann doch nicht dasitzen und im Gerichtssaal an den Nägeln kauen. Was sollen denn die Verbrecher denken!“

      Und der Richter hat genug Charakterstärke bewiesen, ihre Ermahnung zu befolgen.

      Seine Mutter bewohnt eine ziemlich große Wohnung in der Gegend des Ostbahnhofes. Als ihr Sohn noch ein kleiner Junge mit Matrosenanzug und Kniestrümpfen war, wurde sie geschieden. Sie behielt das Kind, und sie hat es noch. Und sie hält jeden schlechten Einfluß von ihm fern und wacht mit rührender Sorgfalt über seine Gesundheit und sein Wohlbefinden. Fortwährend heißt es: „Jetzt mußt du essen.“ – „Jetzt mußt du dich ausruhen.“ – „Ich habe dir reine Unterwäsche und ein sauberes Taschentuch hingelegt.“

      Zwischen den beiden besteht ein rührendes Verhältnis. Wenn sie abends auf Langelinie spazierengehen, sehen ihnen die Leute wohlwollend nach. Sie ist klein und beleibt, und er muß ein wenig vornübergebeugt gehen, damit sie sich auf seinen Arm stützen kann.

      Und er erzählt ihr von seiner Arbeit und von den sonderbaren Personen, die er auf der anderen Seite der Schranke zu sehen bekommt. So wie an diesem Tag den Zuhälter und Gewalttäter.

      „Wirklich ein unheimliches Individuum. Zu allem imstande.“

      „Schrecklich!“ sagt die Mutter entsetzt. „Daß so einer bloß nicht einmal auf den Gedanken kommt, dich zu überfallen! Du mußt mir versprechen, vorsichtig zu sein, Edvard. Komm ihnen bloß nicht zu nahe!“

      „Zwischen uns ist doch die Schranke. Und die Polizisten. Es besteht also keine Gefahr. Obwohl es schon vorgekommen sein soll, daß ein Richter im Gerichtssaal überfallen wurde.“

      Edvard ist jedoch nicht der Mann, der Angst hat. Seine Mutter ist nur allzugern bereit, den Mut ihres Sohnes zu bewundern und sich wegen seines gefährlichen Berufs zu ängstigen. Und er neckt sie ein wenig, wenn er ihr ausmalt, wozu ein Gewalttätiger imstande sein kann.

      Edvard Ellerstrøm mag es vielleicht ein bißchen schwerfallen, einen Zuhälter zu begreifen. Aber er hat ja sein Examen und kennt sich in den Gesetzen aus. Er hat sieben Jahre lang juristische Vorlesungen gehört, und Repetitoren haben sein Gedächtnis trainiert und ihm Stichworte und Mnemotechnik eingepaukt. Er weiß, mit welchem Strafmaß Zuhälterei und Gewalttätigkeit zu belegen sind, und falls er es vergessen haben sollte, kann er das Gesetzbuch zu Hilfe nehmen.

      Er schickt Prostituierte in Gefängnisse und Anstalten. Er mißt Dieben und Herumtreibern die ihnen gebührenden Strafen zu. Man kann von einem Richter doch wohl nicht verlangen, daß er selbst einmal ausprobiert hat, wie es ist, ein Herumtreiber zu sein.

      Frau Ellerstrøm ist ein wenig bekümmert, daß ihr Sohn in so viel Häßliches Einblick bekommt. Er, der zuvor nur gute und gesittete Menschen kennengelernt hatte.

      Sie weiß allerdings nicht, in was er Einblick bekommt, wenn er die Zeitschrift des Reichsgerichts liest. Und sie weiß auch nichts von den seltsamen Büchern, die ihr Sohn heimlich liest. Er liest sie unter der Bettdecke, beim Schein einer Taschenlampe, damit sie nicht sieht, daß bei ihm noch Licht brennt, und ihn eventuell bei seinem Vorhaben überrascht.

      Er ist dreiundvierzig Jahre alt. Und er wird sich am Abend mit etlichen gleichaltrigen Herren treffen.

      Die Haushilfe hat schon sein gestärktes Manschettenhemd auf dem Bett bereitgelegt. Und Frau Ellerstrøm bindet ihm die Krawatte. Er muß sich zu ihr hinabbeugen, damit sie das kann.

      „Du darfst nicht so kitzeln!“ sagt er und kichert.

      „Aber sie muß doch ordentlich sitzen“, entgegnet sie. „Es sieht scheußlich aus, wenn eine Krawatte schief sitzt. Hast du deinen Hals auch ordentlich gewaschen? Hier ist ein sauberes Taschentuch! Und komm auch nicht so spät nach Hause! Denk daran, daß du morgen schon um neun Uhr im Gericht sein mußt. Du weißt, du brauchst deinen Schlaf. Sonst bekommst du wieder diese furchtbaren Kopfschmerzen.“ Sie träufelt ein wenig Eau de Cologne auf sein sauberes Taschentuch. „Hier stehen deine Schuhe. Das Mädchen hat sie geputzt. Jetzt hättest du doch beinahe vergessen, sie anzuziehen, und wärst in Hausschuhen losgegangen. Hast du den Haustürschlüssel? Steckt er auch nicht in der anderen Hose? – Also dann, auf Wiedersehen, mein Junge. Amüsier dich gut. Und paß schön auf dich auf!“

      6. Kapitel

      Eine Schar junger Mädchen fährt auf Rädern die Landstraße entlang. Sie tragen alle die gleichen gelben Blusen und grünen Halstücher. Sie sind rank und schlank und unbefangen und singen beim Fahren: „Frank und frei, Jugend voran!“

      Das ist die J. A. der Gemeinde. Ein neugegründeter Verband, der, falls die Rechnung aufgeht, im Laufe der Zeit zu einem ernsthaften Konkurrenten des Sportvereins werden soll.

      „J. A. – welch herrlichen Klang hat doch dieser Name!“ schreibt Pfarrer Nørregaard-Olsen in der Kirchenzeitung. J. A., das bedeutet Jugendabteilung. Das sind junge Mädchen, die zum Konfirmandenunterricht


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